(Orig.: „The Angel of Canyon Pass“, 1936; übersetzt von Reinhard Windeler)
Charles Warren Tyler (1887 – 1952) schrieb seit 1913 knapp vier
Jahrzehnte lang Hunderte von Kurzgeschichten und sogenannten
Novelettes in verschiedenen Genres für diverse Magazine:
Detektivgeschichten, Abenteuergeschichten und Western, vor allem aber
Eisenbahngeschichten. Dieses Metier kannte er aus seiner beruflichen
Tätigkeit als Dampfmaschinenreiniger und Heizer bei einer
Gesellschaft an der amerikanischen Ostküste. Er stammte aus New
Hampshire, lebte einige Jahre in Massachusetts und zog dann nach
Kalifornien, wo er mit 65 Jahren starb – und weitgehend in
Vergessenheit geriet. Seine biografischen Daten wurden erst 2012
ermittelt, ein Porträtfoto ist nicht bekannt.
Die hier präsentierte Geschichte
erschien erstmals 1936 in der April-Ausgabe von „Railroad Stories“
und wurde 1973 in der Februar-Ausgabe des „Railroad Magazine“
nachgedruckt, ehe Bill Pronzini und Martin H. Greenberg sie 1986 in
ihrer Western-Anthologie „The Railroaders“ einem breiteren
Publikum zugänglich machten.
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Die
Sangre del Salvadors erheben sich aus dem Wüstenhochland der Llanos
Pintado wie eine wellige violette Barriere auf einem flammenden
Teppich. Weit im Osten von Del Rosa zeichnen sich ihre gezackten
Ränder als verschwommene Umrisse gegen den Horizont ab.
Besonders auffällig zwischen hohen Gipfeln ist ein tiefer Einschnitt, der wie die V-förmige
Kerbe eines Gewehrvisiers geformt ist. Klar und deutlich erkennt ihn
das Auge aus einer Entfernung von gut und gerne siebzig Meilen. Er
wird Canyon-Pass genannt.
Eine gewaltige Schlucht mit kühn aufragenden Wänden,
die gehauen wurden, als die Welt noch im Entstehen begriffen war. Dem
Canyon-Pass wurden Fesseln aus Stahl angelegt, aber wirklich
bezwungen wurde er nie. Ein unaufhörlicher Kampf wird dort
ausgefochten. Viele Seiten in der Geschichte der Canyon Division der Pacific-Coast- &
Transcontinental-Eisenbahn sind heute in roter Farbe
geschrieben; düstere Einträge im Bestandsbuch des Lebens.
Überall dort, wo Eisenbahner sich
treffen, werden immer wieder Geschichten über den Canyon-Pass
erzählt; in Schotterlagerhäusern, in Rangierhütten und in
Fahrdienstleiterbüros, in Führerständen und Bremserhäuschen,
selbst in jenen vornehmen heiligen Hallen, in denen hohe Tiere mit
dicken Bäuchen auf ihren Thronen aus Mahagoni sitzen.
Eine dieser Geschichten ist zur Legende
geworden. Sie handelt von Bill Carnegan und dem „Engel vom
Canyon-Pass“.
Gleich hinter dem höchsten Punkt der
Sangre del Salvadors verlaufen sechs Meilen Gleis, die Eisenbahner
für die gefährlichsten dieses Abschnitts halten. Vor langer Zeit
baute die P.C. & T. beim Meilenstein 104, auf einem kurzen
flachen Stück eine Achtelmeile östlich der Brücke über den Big
Stormy Canyon, eine Baracke und stationierte dort einen Gleisgänger.
Eine winzige Hütte, weit weg von der
nächsten Behausung und umgeben von schroffen Gipfeln. Es war fast
ein Verbannungsort. Manche nannten ihn einen Arbeitsplatz, auf dem
„selbst ein Schafhirte verrückt wird“.
Ab und zu hatten der Sektionschef und
seine mexikanischen Arbeiter aus Paraje in der Nähe zu tun. In
regelmäßigen Abständen hielt ein Güterzug an, um Vorräte zu
liefern. Gelegentlich unterbrachen umherziehende Indianer die
Monotonie. Manchmal winkten Leute von den Aussichtsplattformen
vorbeifahrender Züge, oder es erklang ein Ruf und eine Hand wurde
aus dem Führerstand oder dem Bremserhäuschen zum Gruß erhoben.
Vielleicht kam eine alte Zeitung heruntergeflattert oder ein
Magazin.
Ständig da waren der Frowsy Head und
der Thunder Mountain, die finster aus ihren luftigen Höhen
herabblickten, als ob sie darüber diskutierten, welche Art von Hölle
sie als nächstes am Canyon-Pass entfesseln würden.
***
Bill
Carnegan war groß, gepflegt und gutaussehend. Direktor McCuen
musterte den Mann eingehend. Irgendetwas an ihm verriet, dass er ein
Eisenbahner war. McCuen schätzte sein Alter auf etwa zweiunddreißig.
„Und? Was wollen Sie?“ Der barsche
harte Tonfall klang wenig ermutigend.
Bill sagte: „Ich suche einen Job“.
Ein Anflug von Verzweiflung lag in seiner Stimme. Er zögerte.
„Irgendeinen Job.“
„Arbeitsplätze sind knapp“,
verkündete McCuen kurzangebunden. „Was können Sie?“
„Ich – ich war Lokführer.“
Der Direktor schüttelte den Kopf. „Wir
haben eine ellenlange Liste von Männern, die arbeitslos geworden
sind.“
„Ich weiß“, sagte Bill
niedergeschlagen. „Ich habe es bei jedem Lokschuppen zwischen hier
und Trinidad versucht. Aber irgendwas muss ich kriegen. Können
Sie mich nicht irgendwo unterbringen? Der Lohn spielt keine Rolle,
solange er reicht, damit meine Frau und ich über die Runden kommen.“
„Sie sind also verheiratet, ja?“
Bill nickte. „Wir mussten wegen ihrer
Gesundheit in den Westen kommen. Ich hatte einen sicheren Job bei der
Central Valley, im Osten, in Neuengland. Ann hatte sich eine schlimme
Grippe eingefangen, und ihre Lungen sind angegriffen.“
„Ziemlich hart, nehme ich an, zu
kündigen, wenn Sie schon ein gewisses Dienstalter hatten?“
Sein Gegenüber lächelte, und seine
Augen leuchteten. „Nicht für mich“, sagte er. „Alles, was ich
für sie tun könnte, wäre nicht annähernd genug. Ann ist die beste
Frau der Welt. Für sie war es sehr schwer, Freunde und Verwandte und
unser Zuhause zurück zu lassen.“
„Hmmm!“ McCuen starrte aus dem
Fenster und in die Ferne auf die violette Linie der Sangre del
Salvadors und den V-förmigen Spalt des Canyon-Passes. Schließlich
fragte er: „Wie heißen Sie?“
„Carnegan. Bill Carnegan.“
„Nun, Carnegan, mir fällt nur ein
Job ein.“ Der Direktor trommelte auf seinen Schreibtisch. „Ich
bezweifle, dass dieser Job etwas für Sie ist. Ein Mex hatte ihn
zuletzt, und er ist durchgedreht.“
„Was für ein Job?“ fragte der
Schienenkapitän voller Hoffnung. Schon so oft hatte er Ann ein
entmutigendes „Heute ist nichts zu machen, Schatz, aber morgen
finde ich etwas“ überbringen müssen. Es hatte viele Morgen
gegeben.
„Gleisgänger“, sagte McCuen
schroff, „da draußen oben auf dem Berg.“ Nach einer Pause fügte
er hinzu: „Männer bleiben nicht lange im Canyon-Pass. Das
Alleinsein steigt ihnen zu Kopf, und sie machen komische Sachen.“
„Aber ich wäre nicht allein“,
beeilte sich Bill zu betonen.
„Sie meinen, Sie würden Ihre Frau
mitnehmen?“
„Natürlich. Ich könnte sie nicht
hier lassen. Wo ich hingehe, geht auch Ann hin. Bergluft ist genau
das, was sie braucht, um gesund zu werden. Und es wird nicht für
immer sein. Nach einer Weile wird es wieder aufwärts gehen. Dann
werde ich etwas Besseres finden.“
„Wie lange sind Sie schon
verheiratet, Carnegan?“
„Acht Jahre.“
McCuens Blick unter seinen struppigen
Augenbrauen wurde sanfter. Er strich sich nachdenklich über das
Kinn. Dort war ein großer kräftiger Kerl, der bereit war, aus dem
Lokomotivführerstand zu steigen, um die Schwellen abzugehen – und
der sich nicht beschwerte.
Es zuckte ein wenig um den Mund des
Direktors. In diesen verrückten Zeiten war eine solche Hingabe an
eine Frau etwas, das man bewundern musste. Er schrieb eine kurze
Notiz und reichte sie Bill.
„Zeigen Sie das dem Betriebsleiter –
Mr. Godett. Das letzte Büro am Ende des Korridors. Ich nehme an, er
wird Sie einweisen.“
Und so kam Bill Carnegan zum
Canyon-Pass. Bill und Ann.
***
Es
war Frühling. Die Berge waren kühl. In den tieferen Klüften der
hohen Gipfel lagen noch Spuren von Schnee. Sie bildeten eine wilde,
unfreundliche Welt, diese Sangre del Salvadors. Ann Carnegan brauchte
lange, um sich an ihre majestätische Ungezähmtheit zu gewöhnen.
Die sich ständig verändernden
Ausblicke – Morgendämmerungen, die sich golden über die hohen
Bergkämme ergossen, flammende Sonnenuntergänge, der schnell
herabfallende Vorhang der Nacht, die stürmischen Winde, die ewig
durch den Pass wehten – erfüllten die Frau allesamt mit Ehrfurcht
und Erschrecken.
Die schiere Weite dieses beklemmenden
rauen Landes hatte überhaupt nichts von dem angenehmen Leben, das
sie vormals in der Elm Street im alten Neuengland geführt hatte.
Obwohl sie mit aller Kraft dagegen
ankämpfte, hatte Ann furchtbares Heimweh. Aber sie ließ es Bill nie
wissen. In Nächten, in denen der schreckliche Wind durch die
Schluchten blies, war ihr Kopfkissen nass von Tränen. Und wenn dann
der Morgen kam, schämte sie sich.
Leben und Gesundheit gab es hier.
Letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, als es dem Mann, der in
seiner Ritterlichkeit so viel für sie aufgegeben hatte, in jeder
Hinsicht gleich zu tun. Und so sah Bill immer nur ein tapfer
lächelndes Gesicht.
Kein einziges Mal ließ sich der Mann
seine eigene Tragik anmerken. Aber Ann spürte den Hunger, der in
seinen Augen brannte, wenn die Züge vorbeirauschten. Sie wusste,
dass es Bill fehlte, am Dampfhebel zu sitzen, während die
Treibstangen unter ihm dröhnten. Im Vergleich dazu war es ein
langweiliges Dasein, das darin bestand, mit Schraubenschlüssel und
Holzhammer über die Schwellen zu gehen.
Und doch hatte die Canyon Division noch
nie einen so verlässlichen und unermüdlichen Gleisgänger gehabt
wie Bill Carnegan. Es schien, als wäre ihm die Bedeutung seiner
Aufgabe bewusst geworden, weil er selbst am Dampfhebel gestanden
hatte. In den Sangre del Salvadors drohten ständig Gefahren.
Erdrutsche, Steinschläge, Unterspülungen – all das machte diesen
Ort zum Albtraum eines jeden Eisenbahners.
Der Sommer kam, die Jahreszeit der
sintflutartigen Regenfälle. Und wenn Frowsy Head und Thunder
Mountain von schwarzen Schleiern umgeben waren, waren dies
unheilvolle Vorboten von Wolkenbrüchen. Der Big Stormy, der zu
anderen Zeiten trocken war, verwandelte sich dann in einen reißenden
Strom, der Felsbrocken und Geröll hinabwälzte.
Sorgen machte sich Bill wegen der
Brücke über dem Canyon. Und wenn nachts Gewitter ihre dröhnenden
Kriegstrommeln erklingen ließen, zog er sich an, nahm seine Laterne
und ging hinaus, um sich zu vergewissern, dass in der Schlucht alles
in Ordnung war.
Und jedes Mal, wenn er fröstelnd und
durchnässt zurück kam, war Ann schon auf den Beinen, hatte ein
Feuer gemacht und eine Kanne Kaffee aufgesetzt. Das im Fenster
schimmernde Licht weckte seltsame Gefühle in seinem Herzen. Er legte
dann einen Arm um Anns Taille, sagte: „Du bist der größte Schatz“
und küsste sie.
„Das muss ich auch sein“,
antwortete sie dann, „um mit dir mithalten zu können, Bill.“
***
Zugbesatzungen
berichteten nach Del Rosa, dass Carnegans Laterne immer zur Stelle
war, um sie zu grüßen, wenn das Wetter schlecht war. Ihr Funkeln
war die Garantie, die diejenigen, deren Aufgabe es war, für die
sichere Durchfahrt der Züge zu sorgen, von der Last der
Verantwortung befreite. Mehr als einmal tauschten McCuen und Godett
sich darüber aus.
Auch hielten die Männer in den Zügen
Ausschau nach der schlanken Gestalt der Frau in der Tür der kleinen
Hütte am Meilenstein 104. Sie war ebenso ein Teil vom Canyon-Pass
wie Carnegan selbst.
Und als die Frau des Sektionsvorstehers
krank war, ging Ann zum Sektionshaus in Paraje, um sich dort nützlich
zu machen, so gut sie konnte. Als bei den Narrows ein Güterzug
entgleiste, versorgte Ann die Verletzungen des Heizers und eines
Bremsers und kochte Kaffee für die Besatzung, während sie auf den
Abschleppzug warteten.
Hin und wieder bekam ein hungriger Hobo
eine Mahlzeit oder der Mantel eines mexikanischen Gleisarbeiters
wurde geflickt. Oder in Pedros Haus wurde Nachwuchs erwartet, und Ann
nähte Babykleidung. So kam es, dass man anfing, sie den Engel vom
Canyon-Pass zu nennen.
Die junge Dame aus Neuengland fand
viel, womit sie ihre Zeit verbringen konnte, und die Beschäftigung
ihrer Hände half ihr beim Vergessen. Aus einer Baracke neben den
Gleisen schuf sie mit magischem Gespür ein Zuhause. Vorhänge
rahmten die Fenster ein. Ein Blumengarten nahm Gestalt an. Steine wurden so gesetzt, dass sie eine ordentliche Umrandung
bildeten, und weiß getüncht. Der Garten war hell und voller Leben,
denn Ann liebte fröhliche Farben – besonders Rot.
Der Sektionschef und seine Männer
hatten, wenn sie in der Nähe waren, immer ein wenig Zeit übrig, um
sich in der Gegend umzusehen, und das war ein guter Vorwand, um die
freundliche Mrs. Carnegan zu besuchen.
Weinreben rankten sich an den tristen
Seiten des kleinen gelben Gebäudes empor. Auf einem Stück Spalier
entfaltete eine rote Rose ihre Blütenblätter. Geranien sorgten für
Farbe. Es gab Malven und wildes Eisenkraut. Die Passagiere in den
Zügen schauten aus Pullman-Fenstern und staunten, dass eine
Arbeiterhütte so entzückend sein konnte.
Der Generaldirektor sagte, dies zeige
nur, was machbar wäre, und sprach sich dafür aus, dass die Bahnhöfe
entlang der Strecke dem Beispiel folgen sollten, das ihnen der
Gleisgänger und seine Frau im Canyon-Pass gegeben hatten.
Als McCuen von einer Inspektionstour
kam, sprach er mit Betriebsleiter Godett und schlug vor, dass eine
kleine Erweiterung des nur aus einem einzigen Raum bestehenden
Gebäudes am Meilenstein 104 den Komfort und die Bequemlichkeit der
Carnegans wesentlich erhöhen würde.
„Der Brückentrupp in Wagon Tire
reißt ein paar Baracken ab“, sagte der Betriebsleiter. „Da
hätten wir das Material, und Anfang der Woche fährt ein Arbeitszug
nach Rag River. Es wäre kein großer Aufwand, und Mrs. Carnegan
sollte eine Küche bekommen.“
„Da haben Sie so was von recht!“
stimmte McCuen zu. „Mann, diese Hütte da draußen zieht inzwischen
mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Umgebung. Ich habe gehört, dass
sich die Hälfte der Frauen in den Zügen beschwert, weil sie nicht
anhalten können, um sich diesen Garten anzusehen und vielleicht ein
paar Setzlinge zu bekommen.“
***
Eines
Tages kam eine alte Indianerin namens Maggie zum Meilenstein 104. Sie
hatte in der Nähe Piñon-Nüsse gesammelt und beschloss, das Haus
des weißen Mannes als mögliche neue Verkaufsstelle aufzusuchen.
Für Ann war es der erste weibliche
Besuch, und sie hätte einer Nachbarin, die in der Elm Street auf ein
Schwätzchen vorbeigekommen wäre, keinen herzlicheren Empfang
bereiten können.
Maggie sagte: „How!“
Und Ann, stolz auf ein wenig Spanisch,
das ihr die mexikanischen Sektionsarbeiter beigebracht hatten,
antwortete: „Cómo está!“
Die Squaw verstand Mexikanisch, und ihr
ernstes Gesicht hellte sich auf. „Ich Maggie“, sagte sie.
„Indianername Na-va-wi.“
„Ich Ann. Ich nenne dich Na-va-wi.
Ich bin so froh, dass du hergekommen bist.“
Und die Dame aus Neuengland servierte
das Mittagessen, so wie sie es für einen Besucher in ihrer Heimat
getan hätte.
Die alte Maggie kramte in einer Tasche
ihres voluminösen Rocks und förderte eine Reihe von Wüstensteinen
zutage – Turmaline, Achate und Stücke aus farbenprächtigem
versteinertem Holz. Anns Augen funkelten. Sie liebte diese Juwelen
des Ödlandes.
Sie kaufte zwei oder drei Steine und
bat Maggie wiederzukommen. Später bestellte sie in Del Rosa und
Amargosa bunte Kattunstoffe und andere Dinge, von denen sie glaubte,
dass sie bei der Indianersquaw Anklang finden könnten. Es machte
viel Spaß, da draußen auf den Stufen zu sitzen und mit Maggie
Tauschhandel zu treiben.
Ann Carnegans Gesundheitszustand
verbesserte sich. Die dünne Luft in diesen einsamen Bergen wirkte
wie ein heilendes Tonikum. Allmählich kam sie wieder zu Kräften,
und sie gewann ihren Kampf ums Überleben.
Eine große Last fiel Bill vom Herzen.
Mit einem Pfeifen ging er seiner Arbeit nach. Das Leben war am Ende
doch gut. Der Job eines Gleisgängers war besser als jeder andere auf
der Welt – solange er nur Ann hatte.
Zudem hatte der Betriebsleiter
angedeutet, dass eine bessere Stelle für ihn in Betracht käme. Ann
hatte viel über das alte indianische Pueblo in Nuñez gehört, wo
Maggie lebte. Bald ermöglichten ihr günstige Umstände, ihm einen
Besuch abzustatten. Als sie zum Canyon-Pass zurückkehrte, war sie
begeistert von dem Stück einer alten Welt, das sie gesehen hatte. Es
war, als würde man die Seiten eines alten Buchs zurückblättern,
erzählte sie Bill.
Eine lange Zeit verging, in der Maggie
nicht zum Canyon-Pass kam, und Ann vermisste sie. Einer der
mexikanischen Sektionsarbeiter erzählte ihr schließlich, dass der
Händler in Paraje gesagt hatte, die Indianerquaw wäre krank. Also
machte Ann sich auf den Weg nach Nuñez. Sie nahm alle Hausmittel
mit, die sie zur Hand hatte, außerdem Geschenke für Maggies
Enkelkinder.
Sie fuhr in einem Bremserhäuschen nach
Paraje und wurde von dort in einer wackeligen Klapperkiste, die einem
der Streckenarbeiter gehörte, nach Nunez gefahren. Sie blieb mehrere
Tage von zu Hause weg.
Als Mrs. Carnegan Abschied nahm, sagte
die alte Maggie, die sich jetzt auf dem Weg der Besserung befand: „Du
bueno! Gut! Padre sagt, Großer Weißer Vater hat eine tüchtig
fein Engel. Bild zeigen. Du Engel. Na-va-wi nie vergessen.“
Und die alte Maggie vergaß es nicht.
***
Im
Juni des zweiten Sommers, in dem Bill Carnegan und Ann im Canyon-Pass
waren, legte ein tragisches Geschick seinen schrecklichen Finger auf
Meilenstein 104.
Ann erkältete sich. Sie sagte Bill, es
sei nichts Schlimmes, nur ein Schnupfen. Doch plötzlich setzte sich
die Erkältung in ihrer Brust fest. In der Nacht bekam sie
Schüttelfrost und Fieber. Bill hielt einen Güterzug Richtung Westen
an und ließ einen Arzt holen. Der Arzt kam am nächsten Morgen auf
der Nr. 2 aus Del Rosa. Eine Krankenschwester begleitete ihn.
Sie kämpften heldenhaft, um sie zu
retten, aber das Schicksal hatte es für Ann einfach nicht bestimmt,
dass sie überlebte. Die Patientin starb zwei Tage später, während
Bill ihre Hand hielt.
Sie lächelte ihm ins Gesicht und
flüsterte: „Lebe wohl, Bill. Es – es war alles – so wunderbar
– mit dir…“
Der ehemalige Schienenkapitän war nie
wieder derselbe. Nachdem der erste betäubende, herzzerreißende
Schlag ein wenig nachgelassen hatte, sah er den Dingen mit einer
seltsamen, leeren Starre entgegen, die Männer den Kopf schütteln
ließ.
Sie sprachen unbeholfen von Trauer, von
Mitgefühl, während Bill sie mit Augen anstarrte, die durch sie
hindurchblickten, zu einem fernen Horizont und zu einer Frau, die ihn
durch den Nebel anlächelte.
Sie fragten Carnegan, wo Ann begraben
werden sollte – auf dem Friedhof von Del Rosa oder im Osten, woher
sie stammte.
Direktor McCuen war da, ebenso
Betriebsleiter Godett, der Sektionschef und andere. Ernst und
beunruhigt warteten sie auf seine Antwort. Sie sahen hier einen Mann
unter Anspannung, der sich bewegte wie ein Schlafwandler. Wo wollte
er sie begraben haben?
Die Falten in seinem Gesicht wurden
endlich weicher. „Hier natürlich! Begrabt sie hier“, sagte er
langsam, als gäbe es keine andere Möglichkeit. „Ich will sie in
meiner Nähe haben, denn ich werde im Pass Wache halten.“
McCuen, der ergraute Eisenbahnveteran,
hatte einen Kloß im Hals. Godett fingerte nach seinem Taschentuch
und schnäuzte sich die Nase. Der Sektionschef fluchte leise vor sich
hin.
Der Ehemann wollte, dass sie hier
begraben wird! Die abgehärteten Männer des Wüstenhochlands
schauten einander an.
„Dort draußen auf dem Hügel auf der
anderen Seite des Canyons“, sagte Bill, „wo sie ihren Garten
sehen und auf die Ausläufer der Berge hinunterblicken kann…“
So betteten sie die arme Ann Carnegan
am Meilenstein 104, gleich westlich des Big Stormy, zur letzten Ruhe.
Die Streckenarbeiter errichteten ein
Holzkreuz und fassten den Grabhügel mit weißen Steinen aus Anns
Garten ein. Und Bill pflanzte eine rote Rose, ihre Lieblingsfarbe.
Das erste, was Lokführer von nach
Osten fahrenden Zügen sahen, wenn sie die lange Kurve auf dem Gipfel
der Sangre del Salvadors durchfuhren, war das weiße Kreuz auf Mrs.
Carnegans Grab.
Der Engel vom Canyon-Pass winkte nicht
mehr von dem kleinen Haus neben der Strecke aus, aber die
Zugbesatzungen hatten irgendwie das Gefühl, dass sie immer noch da
war – und auf sie aufpasste. Mehr als nur einer der Veteranen am
Dampfhebel hob die Hand zum feierlichen Gruß, wenn seine Lokomotive
vorbeiratterte.
Bill machte weiterhin seinen Gang bis
zum Meilenstein 110 – hin und zurück, jeden Tag. Er kümmerte sich
um den Garten und rauchte abends auf den Treppenstufen seine Pfeife,
während die Sterne auf ihn herabblickten.
Wenn nachts vom Frowsy Head her
Gewitter hereinbrachen, folgte Bill seinem gewohnten Prozedere. Er
zog sich an, nahm seine Laterne und ging zur Brücke über dem Big
Stormy, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Bevor er
hinausging, zündete er die Lampe an. Es gefiel ihm, den gelben
Lichtschein zu sehen, wenn er zurückkam, und er redete sich ein,
dass Ann sicherlich dort auf ihn wartete.
***
Eines
Tages kam die alte Maggie wieder zum Canyon-Pass. Sie hatte ein
wunderschönes Stück polierten Chalzedons dabei. Tatsächlich hatte
die runzlige alte Squaw es aus dem Souvenirladen in Paraje gestohlen.
Sie hätte es an Touristen verkaufen können. Aber Maggie hatte den
Achat nicht aus Profitgier entwendet, sondern aus Liebe. Sie legte
ihn auf das Grab des Engels.
Dann war da noch die Flasche, die Bill
am Fuße des Kreuzes entdeckte. Sie hatte durch lange
Sonneneinstrahlung einen satten Purpurton angenommen. Ann hatte so
gefärbtes Glas sehr gemocht. Außerdem fand im Laufe der Zeit eine
Ansammlung funkelnder Bergkristalle ihren Weg zu diesem Erdhügel.
Und es gab ein rundes Stück gemasertes
rubinrotes Glas, das sich in den Boden schmiegte – ein
Sicherheitsreflektor, den irgendein Auto oder Lastwagen unten auf dem
Highway verloren hatte. Die alte Maggie hatte sich daran erinnert,
dass Ann eine Vorliebe für Rot hatte.
Eines Tages sah Bill, wie die
Indianerin jenseits der Narrows Piñon-Nüsse sammelte, und er sprach
sie an.
„Du bringst Ann immer noch hübsche
Steine“, sagte er. „Gracias! Mucho gracias!“
„Na-va-wi lieben weiße Schwester“,
antwortete die Squaw. „Sie gute Frau. Sie gut zu alte Maggie.
Irgendwann sie wachen auf aus langen Schlaf. Sehen Geschenke, die
Indianer bringen.“
„Ja, Gott segne dich, Maggie, sie
wird es wissen. Sie sieht die ganze Zeit zu.“ Ein zärtliches
Lächeln erhellte Bills Gesicht. „Ich kann sie ganz nah spüren –
sie begleitet mich.“
Ein paar Tage später kam Bill spät
nach Hause. Wolken ballten sich um Thunder Mountain und Frowsy Head.
Schwarze Schleier warfen ihre langen Fahnen über die höheren Gipfel
der Sangre del Salvadors.
Den ganzen Nachmittag über hatten
Sturmböen in weiter Ferne am Rand der Wüste gewütet, und am
Horizont zuckten Blitze an einem halben Dutzend Stellen. Der ferne
Donner sorgte für ein fast ununterbrochenes Grollen.
Der ehemalige Schienenkapitän
bereitete sein Abendessen zu, aß es und saß danach eine Zeit lang
auf den Treppenstufen. Im schwindenden Licht ging er den
Schienenstrang hinauf, über die Brücke und weiter zu der Anhöhe,
auf der sich das Grab befand. Es gab keinen Abend ohne diesen Gang.
Er kniete neben dem Kreuz und sprach ein lautloses Gebet.
Dann verweilte er noch ein wenig,
ordnete behutsam die Steine der Umrandung neu und glättete die
Erde. Die Rose, die Bill dort gepflanzt hatte, entfaltete eine Blüte,
eine wunderschöne Knospe, die sich geöffnet hatte, um ihn
anzulächeln.
Jedes einzelne Geschenk, das die alte
Maggie hergebracht hatte, nahm er in die Hand, wischte es sorgfältig
ab und legte es wieder an seinen Platz zurück.
Ein Güterzug kam von Westen her über
den Gipfel angerauscht. Die Pfeife ertönte klagend, als der
Lokführer leicht am Seil zog. Der Heizer und der Bremser
durchquerten beide den Führerstand, um von der Außenleiter aus
einen Blick zu werfen. Bill winkte ihnen zu.
Gesichter im Führerstand der
Hilfslokomotive und im Bremserhäuschen sahen den Gleisgänger, und
Männer schüttelten die Köpfe. Ein seltsames Bild hier in der
Dämmerung – eine einsame Gestalt, ein Grab, ein Kreuz.
***
Über
dem Frowsy Head tobte ein Sturm. Es blitzte zackig und häufig.
Donnerschläge dröhnten mit schrillem Nachhall durch die Berge. Ein
großer Teil des Regenwassers aus dem Zuflussgebiet östlich des
Frowsy Head ergoss sich in den Big Stormy.
Ein neuer Sturm zog von Süden in
Richtung Thunder Mountain auf. Bill stand in der Tür der Hütte und
beobachtete. Es sah schlimm aus.
Von den felsigen Hängen des Thunder
Mountain und des Jawbone strömte Wasser in die Narrows. Es bestand
immer die Gefahr von Erdrutschen und Steinschlägen.
Bill zog Ölzeug und Stiefel an. „Ich
sollte wohl besser runter zu den Narrows gehen“, sagte er zu sich
selbst.
Er zündete die Lampe auf dem Tisch
neben dem Fenster an. Anns Bild stand in der Nähe der Lampe. Es
zeigte sie, wie sie mit der Hand winkte und lächelte.
Der Gleisgänger nahm seine Laterne und
ging hinaus. Auf der Schwelle blieb er stehen und blickte zurück.
Sein Blick ging zu jedem vertrauten Gegenstand, den sie berührt
hatte – und wieder zu dem Bild.
„Bis gleich, Ann!“, sagte er. „Ich
bin nicht lange weg.“
Er ging hinaus zur Brücke über dem
Big Stormy. Im Canyon war sehr wenig Wasser. Es schien, als wäre der
Sturm zum Westhang der Wasserscheide gezogen, auf die andere Seite
des Frowsy Head.
Bill folgte den Gleisen in Richtung der
Narrows. Als er den Meilenstein 105 erreichte, hatte es angefangen zu
regnen. Vom Jawbone her kamen Sturmböen.
Nr. 1, der prächtige Schnellzug
Richtung Westen, kam, doppelt angetrieben, von Paraje aus den Anstieg
hinauf. Ihre beiden großen Lokomotiven vom Mountain-Typ dröhnten
mit voller Kraft durch die Nacht. Der strömende Regen prasselte in
Böen gegen den Scheinwerfer der ersten Lok. Graue Bäche wurden von
den felsigen Hängen ausgespien.
Das Flackern einer Laterne nahe an
Meilenstein 106 kündete davon, dass Carnegan, der Wächter des
Passes, die Gleise beschützte.
Mit zwei kurz ausgestoßenen Pfiffen
bedankte sich Nr. 1. Verschwommene Gesichter in den Führerständen
schauten herab, und gedämpfte Stimmen riefen ihm Grüße zu. Bill
brüllte und schwenkte seine Laterne.
Er machte sich auf den Rückweg. Er
hatte vielleicht eine Meile zurückgelegt, als er in der Nacht einen
neuen bedrohlichen Klang wahrnahm. Er hielt eine Minute inne, um zu
lauschen, und ging dann mit beschleunigtem Schritt weiter.
Er war sich so sicher gewesen, dass
dort am Big Stormy keine Gefahr mehr bestand. Doch nun überkam ihn
eine düstere Vorahnung. Nach einer weiteren Viertelmeile hielt er
erneut inne.
Über dem Lärm von Wind und Regen
drang schwach ein dumpfes Brüllen an seine Ohren. Es war ein
unheilvolles Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört. Es war dem
Rumpeln eines sich nähernden Güterzuges nicht unähnlich, der sich
das Gefälle hinunter treiben ließ.
Bill begann zu rennen. Ein Wolkenbruch
zog über den Big Stormy Canyon. Andauernde Sturmböen hatten die
Zufahrten zum Brückengerüst aufgeweicht. Erst am Tag zuvor waren
einige Streckenarbeiter dort im Einsatz gewesen und hatten die
kleinen Rinnen aufgefüllt, die Sturzbäche dort gegraben hatten. Es
war nicht das Bauwerk selbst, um das sich die Gleisarbeiter Sorgen
machten, sondern es waren die Aufschüttungen hinter den
Betonpfeilern.
Der Regen ließ jetzt nach. Und dennoch
wurde das Donnern tosenden Wassers lauter. Es war auch das Krachen
und Knirschen von Bäumen und Felsbrocken zu hören, die gegen die
zerklüfteten Canyonwände prallten und die brüchige Erde aufrissen,
während die zunehmende Anhäufung von Schutt und Geröll von der
steigenden Flut mitgerissen wurde.
Irgendwo hoch in den Bergen hatten sich
vollgesogene Wolken entleert – eine letzte verrückte Laune des
Sturms. Jetzt aber waren um den Frowsy Head herum sogar vereinzelt
Sterne zu sehen.
***
Als
er sich endlich dem Big Stormy näherte, war Bill der Erschöpfung
nahe. Er hatte sich schon längst seines hinderlichen Regenmantels
und seiner Stiefel entledigt. Seine Füße waren von den
Schottersteinen aufgerissen und blutig.
Er warf einen Blick auf das Licht im
Fenster seines Heims, als er an dem kleinen Gebäude neben der Trasse
vorbeistolperte. Es schien ihm neue Kraft zu geben. Er spürte, dass
Ann ihm ganz nahe war.
Als Bill bei der Brücke ankam, wurde
er von schlammigem Wasser empfangen. Es kam die Gräben neben den
Gleisen hinunter und kroch über die Schwellen. Ein breiter Streifen
Wasser dehnte sich vor ihm aus, ein regelrechter Fluss, der gurgelnd
über die Stahlkonstruktion floss.
Jede Minute war kostbar. Jede Sekunde,
die verstrich, war ein Schritt in Richtung Ewigkeit. Wenn Nr. 6
pünktlich war, war sie nicht mehr weit weg. Es war noch nicht einmal
einen Monat her, dass die Fahrzeit nach Chicago um zwei Stunden
verkürzt worden war, und in Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen
wurde mit dieser neuen Schnellverbindung geprahlt.
Das Wasser strömte wie ein Mühlgerinne
über die Schienen. Seine Kraft war ungeheuerlich. Mit teuflischer
Wildheit packte es seine Beine und versuchte, ihn nach unten zu
ziehen. Ein Fuß trat zwischen den unsichtbaren Schwellen ins Leere.
Die Erde bröckelte schon. Die Füllung hatte begonnen, sich
aufzulösen.
Bill kippte nach vorne. Etwas in seinem
Bein knackte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Er fühlte, wie
er mitgerissen wurde. Er klammerte sich an die überflutete Schiene,
die jetzt eine Fußbreite unter der strömenden Flut lag. Die Laterne
und ein Lichtsignal, die er in der linken Hand gehalten hatte, gingen
verloren.
Der Tod war nichts, vor dem Bill
Carnegan Angst hatte. Das Leben hatte nicht mehr viel zu bieten, seit
Ann nicht mehr da war. Und doch war sein Herz an diesem Abend von
einer grimmigen Entschlossenheit erfüllt. Er dachte nicht an sich
selbst, sondern an die Eisenbahn und an die Männer und Frauen, deren
Leben er beschützte.
Er würde den Big Stormy überqueren,
mochte da kommen, was da kommen wollte. Ein irisches Kämpferherz
trug ihn vorwärts, Schritt für Schritt.
Geprügelt und hin- und hergeworfen von
schlammigem Wasser, das versuchte, ihn flussabwärts zu ziehen,
kämpfte Bill sich voran. Beständig ertönte das Tosen der Sturzflut
in seinen Ohren.
Sein nutzloses rechtes Bein zog er
hinter sich her. Auf Händen und Knien bewegte er sich vorwärts. Ein
Baum kam die Schlucht heruntergeschwemmt, seine losen Wurzeln wanden
sich und schlugen um sich wie die bedrohlichen Arme eines
Tintenfisches. Der Stamm des Baums trieb in der Dunkelheit auf ihn
zu. Er versuchte auszuweichen, doch ein zackiger Aststumpf traf ihn
am Kopf und riss eine klaffende Wunde auf.
In seiner Verzweiflung drückte Bill
sein Knie gegen das Geländer und klammerte er sich dort fest, um
kurz nach Luft zu schnappen. Er kämpfte gegen ein Schwindelgefühl
und fast völlige Erschöpfung an. Dann kroch er wieder weiter –
entschlossen, nicht aufzugeben.
Laterne und Lichtsignal hatte er nicht
mehr. Auch das allerletzte Streichholz war längst durchnässt und zu
nichts mehr nutze. Selbst wenn der ehemalige Schienenkapitän das
Westufer des Big Stormy und festen Boden erreichen könnte, hätte er
keine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit des Lokführers am Dampfhebel
von Nr. 6 auf sich zu ziehen. Nie und nimmer würden sie ihn
rechtzeitig sehen.
Und doch brannte in Bill Carnegans Kopf
ein einzelner Funke, der nicht erlöschen wollte. In seinen Ohren
glaubte er über das Rauschen des Wassers hinweg die leise süße
Stimme des Mädchens zu hören, das er damals im alten Neuengland
umworben und für sich gewonnen hatte.
Jetzt würde er sich zu einem
Rendezvous mit ihr treffen – dort vorne bei diesem Erdhügel und
dem Kreuz. Etwas trug ihn weiter, etwas, das ihn über diese letzten
von der Flut zerrissenen Schienenstücke hob, bis hin zum festen
Boden auf der anderen Seite des Big Stormy.
***
Nummer
6 war pünktlich. Zwei Lokomotiven über den Sangre del Salvadors und
vierzehn Waggons ganz aus Stahl – Post-, Express- und
Pullman-Wagen. Der Crazy Creek Canyon hallte vom stakkatoartigen
Bellen der Auspuffe und dem Trommeln von Stahl auf Stahl wider.
Leichter Regen fiel, ein Ausläufer des
Sturms, der zuvor auf den Thunder Mountain zugeschwenkt war. Charley
Donaldson, ein Veteran auf den Trassen der Canyon Division, war am
Dampfhebel. Er hatte die Blitze weit vor ihm beobachtet.
„Ganz schön was los im Canyon-Pass“,
rief er dem Heizer zu.
Dieser unterbrach seine Arbeit vor dem
Kessel für eine Weile und stellte sich neben den Lokführer.
„Wenigstens ist es nicht mehr wie
früher“, sagte er, „als die Brücke über dem Big Stormy noch
aus Holz war und man damit rechnen musste, dass der Mex-Gleisgänger
sich in der Baracke aufs Ohr gehauen hatte.“
„Das stimmt, mein Junge“,
antwortete der Schienenkapitän voller Inbrunst. „Carnegan ist
jetzt da draußen und kümmert sich um die Strecke. Wenn wir erst
einmal über den Berg sind und anfangen hinunter zu rollen, wissen
wir, dass alles in Ordnung ist.“
„War schon enorm hart, dass Carnegan
seine Frau auf diese Weise verloren hat.“
Donaldson seufzte. „Das war es
wirklich.“
„Weißt du, Charley, dieses Grab gibt
einem Mann irgendwie ein komisches Gefühl. Oder dir nicht?“
„Tja, ich weiß nicht. Mir kommt es
manchmal so vor, als ob Mrs. Carnegan da wäre, neben der Strecke“,
sagte Donaldson, „und einfach auf alles aufpasst.“
Der Heizer pflichtete ihm bei. „Ja,
das stimmt. Bill und sie. Mein Gott, es muss furchtbar einsam für
ihn sein.“
Endlich schwang sich Nr. 6 über den
hohen Kamm der Sangre del Salvadors. Aus den Fenstern strahlten
Lichter, warm und einladend. Das Leben im Zug huschte mit
kinogleicher Schnelligkeit vorbei. Ein paar Reisende hielten sich in
den Speisewagen auf. Männer und Frauen saßen entspannt im Salon-
und Aussichtswagen. Schaffner waren damit beschäftigt, die
Schlafkojen herzurichten. In einem Abteil döste ein alter Mann,
neben ihm eine grauhaarige Frau. Eine Mutter lächelte das Gesicht
eines Babys an. Ein frisch verheiratetes Paar saß Händchen haltend
da, die Köpfe dicht beieinander.
Charley Donaldson beugte sich über die
gepolsterte Armlehne und spähte mit scharfem Blick an der gläsernen
Wetterschutzscheibe vorbei auf die Strecke vor ihm. Zwei smaragdgrüne
Punkte hingen wie ein Schmuckanhänger vor einem schwarzen
Samtvorhang.
Er drehte seinen Kopf nach links und
rief aus: „Grünes Licht!“
Und der Heizer bestätigte: „Grün
auf der Blockstrecke!“
Ein niedriger Granitpfosten flog
vorbei. Meilenstein 103. Das Klopfen der Auspuffe hatte sich zu einem
eiligen Murmeln beschleunigt. Treib- und Kolbenstangen waren nur noch
gegenläufige Flecken. Schnell rollende Räder hakten die Meilen mit
einem singenden Klick-Klack ab, das die Schienenlängen so
abmaß, wie man Herzschläge zählt.
Schwere Waggons wiegten sich in sanften
Schaukelbewegungen, ein Zeichen für ein reibungsloses, schnelles
Dahingleiten. Nr. 6 hielt genau, was die Werbung versprach. Die
Parole lautete: Geschwindigkeit.
***
Die
großen Passagierwaggons neigten sich in die Kurve westlich von
Meilenstein 104. Der silberne Strahl des elektrischen Scheinwerfers
erhellte den steilen Hang rechts vom Gleis mit flüchtigem Licht.
Aus der rabenschwarzen Dunkelheit
sprangen Wacholder und Piñon-Kiefern ins Licht, geduckte Schatten
von Felsbrocken und Wasserrinnen, scharf gezeichnete Streifen in
einem von der Erosion geformten roten Ufer.
Der weit ausgestreckte Finger schweifte
weiter, wie ein Scheinwerfer, der auf einer abgedunkelten Bühne nach
Gestalten sucht. Und dann, nur für einen kurzen Moment, schien er
innezuhalten, als ob er das, was er suchte, gefunden hätte.
Eine sanft ansteigende Kuppe, etwas
abseits der Trasse, mit einem weichen Hintergrund aus Piñon-Kiefern.
Dort, in dieser düsteren Ferne, war ein Kreuz, wie eine winzige
Verzierung auf der anschwellenden Vorderseite des Berges. Strahlend
weiß.
Nie versäumte Charley Donaldson es,
danach Ausschau zu halten, wenn sein Zug über den Kamm der Sangre
del Salvadors fegte. Jetzt waren seine Augen mit verengtem Fokus
darauf gerichtet. Plötzlich wurde er hoch konzentriert.
Da bewegte sich etwas, dicht neben dem
Erdhügel. Es war unheimlich. Die Entfernung war noch zu groß, als
dass Einzelheiten zu erkennen gewesen wären.
Dann blitzte es plötzlich rot auf –
ein matt leuchtendes karminrotes Auge. Es bewegte sich hin und her.
Das Licht des Scheinwerfers schwenkte um die Kurve, und es war
verschwunden.
Kalte Finger umklammerten das Herz des
Lokführers. Die Sache war merkwürdig, gespenstisch.
Der Schienenkapitän zögerte keinen
Augenblick, um seine Entscheidung zu treffen. Er drehte den
Dampfhebel zu und ließ einen kurzen Pfiff ertönen, um zu
signalisieren, dass auch die zweite Maschine ausgestellt werden
sollte. Dann schlossen sich seine Finger um den glänzenden
Messinggriff der Druckluftbremse. Er schwenkte ihn ganz nach rechts,
das große Loch.
Sie würden Notluft brauchen, um zum
Stehen zu kommen. Charley Donaldson spürte, wenn hier im Canyon-Pass
etwas schief gelaufen war, dann am Big Stormy. Von der Wasserscheide
her hatte es in Strömen geregnet. Es bestand immer die Möglichkeit
eines Wolkenbruchs.
Der Lokführer antwortete dem seltsam
schwelenden roten Auge mit zwei schnellen Stößen seiner
Dampfpfeife.
***
Bills
Herz schwoll fast bis zum Bersten an, als er die Bestätigung hörte.
Sie hatten sein Signal gesehen. Nr. 6 hielt an
Der Gleisgänger vergaß die Qualen
seines gepeinigten Körpers, als er die Parade von feuerumrandeten
Rädern in der Kurve sah. Seine Seele schwebte in ungeahnte Höhen.
Keuchend stieß er ein Dankgebet aus.
Der Engel war heute Abend tatsächlich
mit ihm gegangen, sein Geist hatte ihm Auftrieb gegeben und ihn
weitergetragen, als es schien, dass das Beste, das er gab, nicht
genug sein würde. Sein Engel war jetzt hier bei ihm.
Bill sackte auf dem Grab zusammen.
„Ann!“ stieß er hervor. „Mein geliebter Schatz! Durch die
Kraft und die Herrlichkeit – und durch dich – haben wir einen Zug
voller Menschen gerettet.“
Der Heizer spähte voraus und schrie:
„Da ist alles weggespült! Da ist die Hölle los, im Big Stormy.“
„Mein Gott, sieh dir das an!“
Donaldsons Stimme war geradezu ehrfürchtig. „Die Flut hat beide
Stützpfeiler weggerissen.“
Das Licht seines Scheinwerfers
offenbarte die Zerstörungskraft des schäumenden Sturzbachs. Die
großen Lokomotiven von Nr. 6 fuhren noch ein wenig weiter. Dann kam
der Zug mit einem letzten schwankenden Ruck zum Stehen, keine hundert
Meter vom Big Stormy und seiner düsteren Todesfalle entfernt!
Charley Donaldson zündete seine Fackel
an und schwang sich hastig hinunter, mit dem Rauschen des
aufgewühlten Wassers in seinen Ohren. Ein Wunder hatte sie gerettet
– ein Wunder und Bill Carnegan.
Feuchtigkeit, die kein Regen war, rann
über die zerfurchten Wangen des Schienenkapitäns, als er
zurückging, und seine flackernde Fackel enthüllte die neben dem
Kreuz zusammengesunkene Gestalt von Carnegan.
Andere kamen unsicheren Schritts auf
die Stelle zu – Lokführer und Heizer von der zweiten Lokomotive,
uniformierte Eisenbahner, Männer, für die das dröhnende Tosen in
der Dunkelheit bedeutete, dass sie auf dem Weg in das Tal der ewigen
Schatten gewesen waren.
Die wehende Zunge von Donaldsons
rauchender Fackel tauchte die Szene in gelbes Licht. Die Gesichter
waren weiß und angespannt, als die Gruppe der Eisenbahnveteranen
Zeuge einer Szene wurde, die ihnen noch viele Jahre in Erinnerung
bleiben würde.
Carnegan! Das war der Name, der
von ihren Lippen geformt wurde. Carnegan, hier neben dem Grab seiner
Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Charley Donaldson reichte seinem Heizer
die Fackel und ließ sich nieder, um seinen starken Arm um Carnegans
Schulter zu legen.
„Was ist passiert, Bill?“
Der Gleisgänger erzählte es ihnen. Er
sprach mit Mühe, in langsamen Sätzen, die von dem Sturm und der
plötzlichen Flut berichteten, die ihn dort auf der Ostseite des Big
Stormy festgesetzt hatten. Nur am Rande erwähnte er seinen
verzweifelten Kampf gegen die aufgewühlten Wassermassen.
„Ich habe meine Laterne und mein
Signal verloren“, sagte er. „Aber ich wusste, dass ich eine
einzige Chance hatte. Vor langer Zeit hat die alte Maggie, die
Indianerin, die so oft zu Ann zu Besuch kam, das hier hergebracht –“
Seine Hand umklammerte immer noch den
rubinroten Rückstrahler. Er hielt ihn vor sich.
„Dieses Stück rotes Glas“, fuhr er
fort, „und die anderen Sachen da. Es waren Schätze, Zeichen der
Liebe. Gott segne ihr treues altes Herz! Es war nicht viel, dieses
Stück Glas. Aber Maggie wusste, dass Ann Rot liebte, deshalb hat sie
es dort hingelegt. Ich – ich – also, ich hab’ mir gedacht, du
würdest das Rot sehen, Charley.“ Er sah den Lokführer an.
Donaldson schüttelte bedächtig den
Kopf. „Das habe ich getan, klar und deutlich.“ Seine Stimme
stockte. „Das hätte mir nicht entgehen können.“
***
Die
Canyon Division wollte ein Denkmal errichten – die Canyon Division
und die Passagiere, die sich in jener Nacht im Zug Nummer 6 befanden.
Und so wurde dort, wo das Kreuz gestanden hatte, eine wunderschöne
weiße Stele aufgestellt. Auf ihr hatte man eine Bronzetafel
angebracht mit dem Namen Carnegan in fetten Lettern, als eine
für alle lesbare Hommage an einen Eisenbahner und seine Frau.
Und so ist es bis heute geblieben. Auf
ewig halten sie Wache auf den hohen Bergkämmen der Sangre del
Salvadors – Bill Carnegan und der Engel vom Canyon-Pass.
© für die deutsche Übersetzung:
Reinhard Windeler, 2024
Ergänzende Notiz: