Montag, 25. November 2024

TYLER - Der Engel vom Canyon-Pass


Der Engel vom Canyon- Pass 

von Charles W. Tyler

(Orig.: „The Angel of Canyon Pass“, 1936; übersetzt von Reinhard Windeler)


Charles Warren Tyler (1887 – 1952) schrieb seit 1913 knapp vier Jahrzehnte lang Hunderte von Kurzgeschichten und sogenannten Novelettes in verschiedenen Genres für diverse Magazine: Detektivgeschichten, Abenteuergeschichten und Western, vor allem aber Eisenbahngeschichten. Dieses Metier kannte er aus seiner beruflichen Tätigkeit als Dampfmaschinenreiniger und Heizer bei einer Gesellschaft an der amerikanischen Ostküste. Er stammte aus New Hampshire, lebte einige Jahre in Massachusetts und zog dann nach Kalifornien, wo er mit 65 Jahren starb – und weitgehend in Vergessenheit geriet. Seine biografischen Daten wurden erst 2012 ermittelt, ein Porträtfoto ist nicht bekannt.

Die hier präsentierte Geschichte erschien erstmals 1936 in der April-Ausgabe von „Railroad Stories“ und wurde 1973 in der Februar-Ausgabe des „Railroad Magazine“ nachgedruckt, ehe Bill Pronzini und Martin H. Greenberg sie 1986 in ihrer Western-Anthologie „The Railroaders“ einem breiteren Publikum zugänglich machten.

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Die Sangre del Salvadors erheben sich aus dem Wüstenhochland der Llanos Pintado wie eine wellige violette Barriere auf einem flammenden Teppich. Weit im Osten von Del Rosa zeichnen sich ihre gezackten Ränder als verschwommene Umrisse gegen den Horizont ab.

Besonders auffällig zwischen hohen Gipfeln ist ein tiefer Einschnitt, der wie die V-förmige Kerbe eines Gewehrvisiers geformt ist. Klar und deutlich erkennt ihn das Auge aus einer Entfernung von gut und gerne siebzig Meilen. Er wird Canyon-Pass genannt.

Eine gewaltige Schlucht mit kühn aufragenden Wänden, die gehauen wurden, als die Welt noch im Entstehen begriffen war. Dem Canyon-Pass wurden Fesseln aus Stahl angelegt, aber wirklich bezwungen wurde er nie. Ein unaufhörlicher Kampf wird dort ausgefochten. Viele Seiten in der Geschichte der Canyon Division der Pacific-Coast- & Transcontinental-Eisenbahn sind heute in roter Farbe geschrieben; düstere Einträge im Bestandsbuch des Lebens.

Überall dort, wo Eisenbahner sich treffen, werden immer wieder Geschichten über den Canyon-Pass erzählt; in Schotterlagerhäusern, in Rangierhütten und in Fahrdienstleiterbüros, in Führerständen und Bremserhäuschen, selbst in jenen vornehmen heiligen Hallen, in denen hohe Tiere mit dicken Bäuchen auf ihren Thronen aus Mahagoni sitzen.

Eine dieser Geschichten ist zur Legende geworden. Sie handelt von Bill Carnegan und dem „Engel vom Canyon-Pass“.

Gleich hinter dem höchsten Punkt der Sangre del Salvadors verlaufen sechs Meilen Gleis, die Eisenbahner für die gefährlichsten dieses Abschnitts halten. Vor langer Zeit baute die P.C. & T. beim Meilenstein 104, auf einem kurzen flachen Stück eine Achtelmeile östlich der Brücke über den Big Stormy Canyon, eine Baracke und stationierte dort einen Gleisgänger.

Eine winzige Hütte, weit weg von der nächsten Behausung und umgeben von schroffen Gipfeln. Es war fast ein Verbannungsort. Manche nannten ihn einen Arbeitsplatz, auf dem „selbst ein Schafhirte verrückt wird“.

Ab und zu hatten der Sektionschef und seine mexikanischen Arbeiter aus Paraje in der Nähe zu tun. In regelmäßigen Abständen hielt ein Güterzug an, um Vorräte zu liefern. Gelegentlich unterbrachen umherziehende Indianer die Monotonie. Manchmal winkten Leute von den Aussichtsplattformen vorbeifahrender Züge, oder es erklang ein Ruf und eine Hand wurde aus dem Führerstand oder dem Bremserhäuschen zum Gruß erhoben. Vielleicht kam eine alte Zeitung heruntergeflattert oder ein Magazin.

Ständig da waren der Frowsy Head und der Thunder Mountain, die finster aus ihren luftigen Höhen herabblickten, als ob sie darüber diskutierten, welche Art von Hölle sie als nächstes am Canyon-Pass entfesseln würden.

***

Bill Carnegan war groß, gepflegt und gutaussehend. Direktor McCuen musterte den Mann eingehend. Irgendetwas an ihm verriet, dass er ein Eisenbahner war. McCuen schätzte sein Alter auf etwa zweiunddreißig.

„Und? Was wollen Sie?“ Der barsche harte Tonfall klang wenig ermutigend.

Bill sagte: „Ich suche einen Job“. Ein Anflug von Verzweiflung lag in seiner Stimme. Er zögerte. „Irgendeinen Job.“

„Arbeitsplätze sind knapp“, verkündete McCuen kurzangebunden. „Was können Sie?“

„Ich – ich war Lokführer.“

Der Direktor schüttelte den Kopf. „Wir haben eine ellenlange Liste von Männern, die arbeitslos geworden sind.“

„Ich weiß“, sagte Bill niedergeschlagen. „Ich habe es bei jedem Lokschuppen zwischen hier und Trinidad versucht. Aber irgendwas muss ich kriegen. Können Sie mich nicht irgendwo unterbringen? Der Lohn spielt keine Rolle, solange er reicht, damit meine Frau und ich über die Runden kommen.“

„Sie sind also verheiratet, ja?“

Bill nickte. „Wir mussten wegen ihrer Gesundheit in den Westen kommen. Ich hatte einen sicheren Job bei der Central Valley, im Osten, in Neuengland. Ann hatte sich eine schlimme Grippe eingefangen, und ihre Lungen sind angegriffen.“

„Ziemlich hart, nehme ich an, zu kündigen, wenn Sie schon ein gewisses Dienstalter hatten?“

Sein Gegenüber lächelte, und seine Augen leuchteten. „Nicht für mich“, sagte er. „Alles, was ich für sie tun könnte, wäre nicht annähernd genug. Ann ist die beste Frau der Welt. Für sie war es sehr schwer, Freunde und Verwandte und unser Zuhause zurück zu lassen.“

„Hmmm!“ McCuen starrte aus dem Fenster und in die Ferne auf die violette Linie der Sangre del Salvadors und den V-förmigen Spalt des Canyon-Passes. Schließlich fragte er: „Wie heißen Sie?“

„Carnegan. Bill Carnegan.“

„Nun, Carnegan, mir fällt nur ein Job ein.“ Der Direktor trommelte auf seinen Schreibtisch. „Ich bezweifle, dass dieser Job etwas für Sie ist. Ein Mex hatte ihn zuletzt, und er ist durchgedreht.“

„Was für ein Job?“ fragte der Schienenkapitän voller Hoffnung. Schon so oft hatte er Ann ein entmutigendes „Heute ist nichts zu machen, Schatz, aber morgen finde ich etwas“ überbringen müssen. Es hatte viele Morgen gegeben.

„Gleisgänger“, sagte McCuen schroff, „da draußen oben auf dem Berg.“ Nach einer Pause fügte er hinzu: „Männer bleiben nicht lange im Canyon-Pass. Das Alleinsein steigt ihnen zu Kopf, und sie machen komische Sachen.“

„Aber ich wäre nicht allein“, beeilte sich Bill zu betonen.

„Sie meinen, Sie würden Ihre Frau mitnehmen?“

„Natürlich. Ich könnte sie nicht hier lassen. Wo ich hingehe, geht auch Ann hin. Bergluft ist genau das, was sie braucht, um gesund zu werden. Und es wird nicht für immer sein. Nach einer Weile wird es wieder aufwärts gehen. Dann werde ich etwas Besseres finden.“

„Wie lange sind Sie schon verheiratet, Carnegan?“

„Acht Jahre.“

McCuens Blick unter seinen struppigen Augenbrauen wurde sanfter. Er strich sich nachdenklich über das Kinn. Dort war ein großer kräftiger Kerl, der bereit war, aus dem Lokomotivführerstand zu steigen, um die Schwellen abzugehen – und der sich nicht beschwerte.

Es zuckte ein wenig um den Mund des Direktors. In diesen verrückten Zeiten war eine solche Hingabe an eine Frau etwas, das man bewundern musste. Er schrieb eine kurze Notiz und reichte sie Bill.

„Zeigen Sie das dem Betriebsleiter – Mr. Godett. Das letzte Büro am Ende des Korridors. Ich nehme an, er wird Sie einweisen.“

Und so kam Bill Carnegan zum Canyon-Pass. Bill und Ann.

***

Es war Frühling. Die Berge waren kühl. In den tieferen Klüften der hohen Gipfel lagen noch Spuren von Schnee. Sie bildeten eine wilde, unfreundliche Welt, diese Sangre del Salvadors. Ann Carnegan brauchte lange, um sich an ihre majestätische Ungezähmtheit zu gewöhnen.

Die sich ständig verändernden Ausblicke – Morgendämmerungen, die sich golden über die hohen Bergkämme ergossen, flammende Sonnenuntergänge, der schnell herabfallende Vorhang der Nacht, die stürmischen Winde, die ewig durch den Pass wehten – erfüllten die Frau allesamt mit Ehrfurcht und Erschrecken.

Die schiere Weite dieses beklemmenden rauen Landes hatte überhaupt nichts von dem angenehmen Leben, das sie vormals in der Elm Street im alten Neuengland geführt hatte.

Obwohl sie mit aller Kraft dagegen ankämpfte, hatte Ann furchtbares Heimweh. Aber sie ließ es Bill nie wissen. In Nächten, in denen der schreckliche Wind durch die Schluchten blies, war ihr Kopfkissen nass von Tränen. Und wenn dann der Morgen kam, schämte sie sich.

Leben und Gesundheit gab es hier. Letztlich blieb ihr nichts anderes übrig, als es dem Mann, der in seiner Ritterlichkeit so viel für sie aufgegeben hatte, in jeder Hinsicht gleich zu tun. Und so sah Bill immer nur ein tapfer lächelndes Gesicht.

Kein einziges Mal ließ sich der Mann seine eigene Tragik anmerken. Aber Ann spürte den Hunger, der in seinen Augen brannte, wenn die Züge vorbeirauschten. Sie wusste, dass es Bill fehlte, am Dampfhebel zu sitzen, während die Treibstangen unter ihm dröhnten. Im Vergleich dazu war es ein langweiliges Dasein, das darin bestand, mit Schraubenschlüssel und Holzhammer über die Schwellen zu gehen.

Und doch hatte die Canyon Division noch nie einen so verlässlichen und unermüdlichen Gleisgänger gehabt wie Bill Carnegan. Es schien, als wäre ihm die Bedeutung seiner Aufgabe bewusst geworden, weil er selbst am Dampfhebel gestanden hatte. In den Sangre del Salvadors drohten ständig Gefahren. Erdrutsche, Steinschläge, Unterspülungen – all das machte diesen Ort zum Albtraum eines jeden Eisenbahners.

Der Sommer kam, die Jahreszeit der sintflutartigen Regenfälle. Und wenn Frowsy Head und Thunder Mountain von schwarzen Schleiern umgeben waren, waren dies unheilvolle Vorboten von Wolkenbrüchen. Der Big Stormy, der zu anderen Zeiten trocken war, verwandelte sich dann in einen reißenden Strom, der Felsbrocken und Geröll hinabwälzte.

Sorgen machte sich Bill wegen der Brücke über dem Canyon. Und wenn nachts Gewitter ihre dröhnenden Kriegstrommeln erklingen ließen, zog er sich an, nahm seine Laterne und ging hinaus, um sich zu vergewissern, dass in der Schlucht alles in Ordnung war.

Und jedes Mal, wenn er fröstelnd und durchnässt zurück kam, war Ann schon auf den Beinen, hatte ein Feuer gemacht und eine Kanne Kaffee aufgesetzt. Das im Fenster schimmernde Licht weckte seltsame Gefühle in seinem Herzen. Er legte dann einen Arm um Anns Taille, sagte: „Du bist der größte Schatz“ und küsste sie.

„Das muss ich auch sein“, antwortete sie dann, „um mit dir mithalten zu können, Bill.“

***

Zugbesatzungen berichteten nach Del Rosa, dass Carnegans Laterne immer zur Stelle war, um sie zu grüßen, wenn das Wetter schlecht war. Ihr Funkeln war die Garantie, die diejenigen, deren Aufgabe es war, für die sichere Durchfahrt der Züge zu sorgen, von der Last der Verantwortung befreite. Mehr als einmal tauschten McCuen und Godett sich darüber aus.

Auch hielten die Männer in den Zügen Ausschau nach der schlanken Gestalt der Frau in der Tür der kleinen Hütte am Meilenstein 104. Sie war ebenso ein Teil vom Canyon-Pass wie Carnegan selbst.

Und als die Frau des Sektionsvorstehers krank war, ging Ann zum Sektionshaus in Paraje, um sich dort nützlich zu machen, so gut sie konnte. Als bei den Narrows ein Güterzug entgleiste, versorgte Ann die Verletzungen des Heizers und eines Bremsers und kochte Kaffee für die Besatzung, während sie auf den Abschleppzug warteten.

Hin und wieder bekam ein hungriger Hobo eine Mahlzeit oder der Mantel eines mexikanischen Gleisarbeiters wurde geflickt. Oder in Pedros Haus wurde Nachwuchs erwartet, und Ann nähte Babykleidung. So kam es, dass man anfing, sie den Engel vom Canyon-Pass zu nennen.

Die junge Dame aus Neuengland fand viel, womit sie ihre Zeit verbringen konnte, und die Beschäftigung ihrer Hände half ihr beim Vergessen. Aus einer Baracke neben den Gleisen schuf sie mit magischem Gespür ein Zuhause. Vorhänge rahmten die Fenster ein. Ein Blumengarten nahm Gestalt an. Steine ​​wurden so gesetzt, dass sie eine ordentliche Umrandung bildeten, und weiß getüncht. Der Garten war hell und voller Leben, denn Ann liebte fröhliche Farben – besonders Rot.

Der Sektionschef und seine Männer hatten, wenn sie in der Nähe waren, immer ein wenig Zeit übrig, um sich in der Gegend umzusehen, und das war ein guter Vorwand, um die freundliche Mrs. Carnegan zu besuchen.

Weinreben rankten sich an den tristen Seiten des kleinen gelben Gebäudes empor. Auf einem Stück Spalier entfaltete eine rote Rose ihre Blütenblätter. Geranien sorgten für Farbe. Es gab Malven und wildes Eisenkraut. Die Passagiere in den Zügen schauten aus Pullman-Fenstern und staunten, dass eine Arbeiterhütte so entzückend sein konnte.

Der Generaldirektor sagte, dies zeige nur, was machbar wäre, und sprach sich dafür aus, dass die Bahnhöfe entlang der Strecke dem Beispiel folgen sollten, das ihnen der Gleisgänger und seine Frau im Canyon-Pass gegeben hatten.

Als McCuen von einer Inspektionstour kam, sprach er mit Betriebsleiter Godett und schlug vor, dass eine kleine Erweiterung des nur aus einem einzigen Raum bestehenden Gebäudes am Meilenstein 104 den Komfort und die Bequemlichkeit der Carnegans wesentlich erhöhen würde.

„Der Brückentrupp in Wagon Tire reißt ein paar Baracken ab“, sagte der Betriebsleiter. „Da hätten wir das Material, und Anfang der Woche fährt ein Arbeitszug nach Rag River. Es wäre kein großer Aufwand, und Mrs. Carnegan sollte eine Küche bekommen.“

„Da haben Sie so was von recht!“ stimmte McCuen zu. „Mann, diese Hütte da draußen zieht inzwischen mehr Aufmerksamkeit auf sich als die Umgebung. Ich habe gehört, dass sich die Hälfte der Frauen in den Zügen beschwert, weil sie nicht anhalten können, um sich diesen Garten anzusehen und vielleicht ein paar Setzlinge zu bekommen.“

***

Eines Tages kam eine alte Indianerin namens Maggie zum Meilenstein 104. Sie hatte in der Nähe Piñon-Nüsse gesammelt und beschloss, das Haus des weißen Mannes als mögliche neue Verkaufsstelle aufzusuchen.

Für Ann war es der erste weibliche Besuch, und sie hätte einer Nachbarin, die in der Elm Street auf ein Schwätzchen vorbeigekommen wäre, keinen herzlicheren Empfang bereiten können.

Maggie sagte: „How!“

Und Ann, stolz auf ein wenig Spanisch, das ihr die mexikanischen Sektionsarbeiter beigebracht hatten, antwortete: „Cómo está!

Die Squaw verstand Mexikanisch, und ihr ernstes Gesicht hellte sich auf. „Ich Maggie“, sagte sie. „Indianername Na-va-wi.“

„Ich Ann. Ich nenne dich Na-va-wi. Ich bin so froh, dass du hergekommen bist.“

Und die Dame aus Neuengland servierte das Mittagessen, so wie sie es für einen Besucher in ihrer Heimat getan hätte.

Die alte Maggie kramte in einer Tasche ihres voluminösen Rocks und förderte eine Reihe von Wüstensteinen zutage – Turmaline, Achate und Stücke aus farbenprächtigem versteinertem Holz. Anns Augen funkelten. Sie liebte diese Juwelen des Ödlandes.

Sie kaufte zwei oder drei Steine ​​und bat Maggie wiederzukommen. Später bestellte sie in Del Rosa und Amargosa bunte Kattunstoffe und andere Dinge, von denen sie glaubte, dass sie bei der Indianersquaw Anklang finden könnten. Es machte viel Spaß, da draußen auf den Stufen zu sitzen und mit Maggie Tauschhandel zu treiben.

Ann Carnegans Gesundheitszustand verbesserte sich. Die dünne Luft in diesen einsamen Bergen wirkte wie ein heilendes Tonikum. Allmählich kam sie wieder zu Kräften, und sie gewann ihren Kampf ums Überleben.

Eine große Last fiel Bill vom Herzen. Mit einem Pfeifen ging er seiner Arbeit nach. Das Leben war am Ende doch gut. Der Job eines Gleisgängers war besser als jeder andere auf der Welt – solange er nur Ann hatte.

Zudem hatte der Betriebsleiter angedeutet, dass eine bessere Stelle für ihn in Betracht käme. Ann hatte viel über das alte indianische Pueblo in Nuñez gehört, wo Maggie lebte. Bald ermöglichten ihr günstige Umstände, ihm einen Besuch abzustatten. Als sie zum Canyon-Pass zurückkehrte, war sie begeistert von dem Stück einer alten Welt, das sie gesehen hatte. Es war, als würde man die Seiten eines alten Buchs zurückblättern, erzählte sie Bill.

Eine lange Zeit verging, in der Maggie nicht zum Canyon-Pass kam, und Ann vermisste sie. Einer der mexikanischen Sektionsarbeiter erzählte ihr schließlich, dass der Händler in Paraje gesagt hatte, die Indianerquaw wäre krank. Also machte Ann sich auf den Weg nach Nuñez. Sie nahm alle Hausmittel mit, die sie zur Hand hatte, außerdem Geschenke für Maggies Enkelkinder.

Sie fuhr in einem Bremserhäuschen nach Paraje und wurde von dort in einer wackeligen Klapperkiste, die einem der Streckenarbeiter gehörte, nach Nunez gefahren. Sie blieb mehrere Tage von zu Hause weg.

Als Mrs. Carnegan Abschied nahm, sagte die alte Maggie, die sich jetzt auf dem Weg der Besserung befand: „Du bueno! Gut! Padre sagt, Großer Weißer Vater hat eine tüchtig fein Engel. Bild zeigen. Du Engel. Na-va-wi nie vergessen.“

Und die alte Maggie vergaß es nicht.

***

Im Juni des zweiten Sommers, in dem Bill Carnegan und Ann im Canyon-Pass waren, legte ein tragisches Geschick seinen schrecklichen Finger auf Meilenstein 104.

Ann erkältete sich. Sie sagte Bill, es sei nichts Schlimmes, nur ein Schnupfen. Doch plötzlich setzte sich die Erkältung in ihrer Brust fest. In der Nacht bekam sie Schüttelfrost und Fieber. Bill hielt einen Güterzug Richtung Westen an und ließ einen Arzt holen. Der Arzt kam am nächsten Morgen auf der Nr. 2 aus Del Rosa. Eine Krankenschwester begleitete ihn.

Sie kämpften heldenhaft, um sie zu retten, aber das Schicksal hatte es für Ann einfach nicht bestimmt, dass sie überlebte. Die Patientin starb zwei Tage später, während Bill ihre Hand hielt.

Sie lächelte ihm ins Gesicht und flüsterte: „Lebe wohl, Bill. Es – es war alles – so wunderbar – mit dir…“

Der ehemalige Schienenkapitän war nie wieder derselbe. Nachdem der erste betäubende, herzzerreißende Schlag ein wenig nachgelassen hatte, sah er den Dingen mit einer seltsamen, leeren Starre entgegen, die Männer den Kopf schütteln ließ.

Sie sprachen unbeholfen von Trauer, von Mitgefühl, während Bill sie mit Augen anstarrte, die durch sie hindurchblickten, zu einem fernen Horizont und zu einer Frau, die ihn durch den Nebel anlächelte.

Sie fragten Carnegan, wo Ann begraben werden sollte – auf dem Friedhof von Del Rosa oder im Osten, woher sie stammte.

Direktor McCuen war da, ebenso Betriebsleiter Godett, der Sektionschef und andere. Ernst und beunruhigt warteten sie auf seine Antwort. Sie sahen hier einen Mann unter Anspannung, der sich bewegte wie ein Schlafwandler. Wo wollte er sie begraben haben?

Die Falten in seinem Gesicht wurden endlich weicher. „Hier natürlich! Begrabt sie hier“, sagte er langsam, als gäbe es keine andere Möglichkeit. „Ich will sie in meiner Nähe haben, denn ich werde im Pass Wache halten.“

McCuen, der ergraute Eisenbahnveteran, hatte einen Kloß im Hals. Godett fingerte nach seinem Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Der Sektionschef fluchte leise vor sich hin.

Der Ehemann wollte, dass sie hier begraben wird! Die abgehärteten Männer des Wüstenhochlands schauten einander an.

„Dort draußen auf dem Hügel auf der anderen Seite des Canyons“, sagte Bill, „wo sie ihren Garten sehen und auf die Ausläufer der Berge hinunterblicken kann…“

So betteten sie die arme Ann Carnegan am Meilenstein 104, gleich westlich des Big Stormy, zur letzten Ruhe.

Die Streckenarbeiter errichteten ein Holzkreuz und fassten den Grabhügel mit weißen Steinen aus Anns Garten ein. Und Bill pflanzte eine rote Rose, ihre Lieblingsfarbe.

Das erste, was Lokführer von nach Osten fahrenden Zügen sahen, wenn sie die lange Kurve auf dem Gipfel der Sangre del Salvadors durchfuhren, war das weiße Kreuz auf Mrs. Carnegans Grab.

Der Engel vom Canyon-Pass winkte nicht mehr von dem kleinen Haus neben der Strecke aus, aber die Zugbesatzungen hatten irgendwie das Gefühl, dass sie immer noch da war – und auf sie aufpasste. Mehr als nur einer der Veteranen am Dampfhebel hob die Hand zum feierlichen Gruß, wenn seine Lokomotive vorbeiratterte.

Bill machte weiterhin seinen Gang bis zum Meilenstein 110 – hin und zurück, jeden Tag. Er kümmerte sich um den Garten und rauchte abends auf den Treppenstufen seine Pfeife, während die Sterne auf ihn herabblickten.

Wenn nachts vom Frowsy Head her Gewitter hereinbrachen, folgte Bill seinem gewohnten Prozedere. Er zog sich an, nahm seine Laterne und ging zur Brücke über dem Big Stormy, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Bevor er hinausging, zündete er die Lampe an. Es gefiel ihm, den gelben Lichtschein zu sehen, wenn er zurückkam, und er redete sich ein, dass Ann sicherlich dort auf ihn wartete.

***

Eines Tages kam die alte Maggie wieder zum Canyon-Pass. Sie hatte ein wunderschönes Stück polierten Chalzedons dabei. Tatsächlich hatte die runzlige alte Squaw es aus dem Souvenirladen in Paraje gestohlen. Sie hätte es an Touristen verkaufen können. Aber Maggie hatte den Achat nicht aus Profitgier entwendet, sondern aus Liebe. Sie legte ihn auf das Grab des Engels.

Dann war da noch die Flasche, die Bill am Fuße des Kreuzes entdeckte. Sie hatte durch lange Sonneneinstrahlung einen satten Purpurton angenommen. Ann hatte so gefärbtes Glas sehr gemocht. Außerdem fand im Laufe der Zeit eine Ansammlung funkelnder Bergkristalle ihren Weg zu diesem Erdhügel.

Und es gab ein rundes Stück gemasertes rubinrotes Glas, das sich in den Boden schmiegte – ein Sicherheitsreflektor, den irgendein Auto oder Lastwagen unten auf dem Highway verloren hatte. Die alte Maggie hatte sich daran erinnert, dass Ann eine Vorliebe für Rot hatte.

Eines Tages sah Bill, wie die Indianerin jenseits der Narrows Piñon-Nüsse sammelte, und er sprach sie an.

„Du bringst Ann immer noch hübsche Steine“, sagte er. „Gracias! Mucho gracias!

„Na-va-wi lieben weiße Schwester“, antwortete die Squaw. „Sie gute Frau. Sie gut zu alte Maggie. Irgendwann sie wachen auf aus langen Schlaf. Sehen Geschenke, die Indianer bringen.“

„Ja, Gott segne dich, Maggie, sie wird es wissen. Sie sieht die ganze Zeit zu.“ Ein zärtliches Lächeln erhellte Bills Gesicht. „Ich kann sie ganz nah spüren – sie begleitet mich.“

Ein paar Tage später kam Bill spät nach Hause. Wolken ballten sich um Thunder Mountain und Frowsy Head. Schwarze Schleier warfen ihre langen Fahnen über die höheren Gipfel der Sangre del Salvadors.

Den ganzen Nachmittag über hatten Sturmböen in weiter Ferne am Rand der Wüste gewütet, und am Horizont zuckten Blitze an einem halben Dutzend Stellen. Der ferne Donner sorgte für ein fast ununterbrochenes Grollen.

Der ehemalige Schienenkapitän bereitete sein Abendessen zu, aß es und saß danach eine Zeit lang auf den Treppenstufen. Im schwindenden Licht ging er den Schienenstrang hinauf, über die Brücke und weiter zu der Anhöhe, auf der sich das Grab befand. Es gab keinen Abend ohne diesen Gang. Er kniete neben dem Kreuz und sprach ein lautloses Gebet.

Dann verweilte er noch ein wenig, ordnete behutsam die Steine ​​der Umrandung neu und glättete die Erde. Die Rose, die Bill dort gepflanzt hatte, entfaltete eine Blüte, eine wunderschöne Knospe, die sich geöffnet hatte, um ihn anzulächeln.

Jedes einzelne Geschenk, das die alte Maggie hergebracht hatte, nahm er in die Hand, wischte es sorgfältig ab und legte es wieder an seinen Platz zurück.

Ein Güterzug kam von Westen her über den Gipfel angerauscht. Die Pfeife ertönte klagend, als der Lokführer leicht am Seil zog. Der Heizer und der Bremser durchquerten beide den Führerstand, um von der Außenleiter aus einen Blick zu werfen. Bill winkte ihnen zu.

Gesichter im Führerstand der Hilfslokomotive und im Bremserhäuschen sahen den Gleisgänger, und Männer schüttelten die Köpfe. Ein seltsames Bild hier in der Dämmerung – eine einsame Gestalt, ein Grab, ein Kreuz.

***

Über dem Frowsy Head tobte ein Sturm. Es blitzte zackig und häufig. Donnerschläge dröhnten mit schrillem Nachhall durch die Berge. Ein großer Teil des Regenwassers aus dem Zuflussgebiet östlich des Frowsy Head ergoss sich in den Big Stormy.

Ein neuer Sturm zog von Süden in Richtung Thunder Mountain auf. Bill stand in der Tür der Hütte und beobachtete. Es sah schlimm aus.

Von den felsigen Hängen des Thunder Mountain und des Jawbone strömte Wasser in die Narrows. Es bestand immer die Gefahr von Erdrutschen und Steinschlägen.

Bill zog Ölzeug und Stiefel an. „Ich sollte wohl besser runter zu den Narrows gehen“, sagte er zu sich selbst.

Er zündete die Lampe auf dem Tisch neben dem Fenster an. Anns Bild stand in der Nähe der Lampe. Es zeigte sie, wie sie mit der Hand winkte und lächelte.

Der Gleisgänger nahm seine Laterne und ging hinaus. Auf der Schwelle blieb er stehen und blickte zurück. Sein Blick ging zu jedem vertrauten Gegenstand, den sie berührt hatte – und wieder zu dem Bild.

„Bis gleich, Ann!“, sagte er. „Ich bin nicht lange weg.“

Er ging hinaus zur Brücke über dem Big Stormy. Im Canyon war sehr wenig Wasser. Es schien, als wäre der Sturm zum Westhang der Wasserscheide gezogen, auf die andere Seite des Frowsy Head.

Bill folgte den Gleisen in Richtung der Narrows. Als er den Meilenstein 105 erreichte, hatte es angefangen zu regnen. Vom Jawbone her kamen Sturmböen.

Nr. 1, der prächtige Schnellzug Richtung Westen, kam, doppelt angetrieben, von Paraje aus den Anstieg hinauf. Ihre beiden großen Lokomotiven vom Mountain-Typ dröhnten mit voller Kraft durch die Nacht. Der strömende Regen prasselte in Böen gegen den Scheinwerfer der ersten Lok. Graue Bäche wurden von den felsigen Hängen ausgespien.

Das Flackern einer Laterne nahe an Meilenstein 106 kündete davon, dass Carnegan, der Wächter des Passes, die Gleise beschützte.

Mit zwei kurz ausgestoßenen Pfiffen bedankte sich Nr. 1. Verschwommene Gesichter in den Führerständen schauten herab, und gedämpfte Stimmen riefen ihm Grüße zu. Bill brüllte und schwenkte seine Laterne.

Er machte sich auf den Rückweg. Er hatte vielleicht eine Meile zurückgelegt, als er in der Nacht einen neuen bedrohlichen Klang wahrnahm. Er hielt eine Minute inne, um zu lauschen, und ging dann mit beschleunigtem Schritt weiter.

Er war sich so sicher gewesen, dass dort am Big Stormy keine Gefahr mehr bestand. Doch nun überkam ihn eine düstere Vorahnung. Nach einer weiteren Viertelmeile hielt er erneut inne.

Über dem Lärm von Wind und Regen drang schwach ein dumpfes Brüllen an seine Ohren. Es war ein unheilvolles Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört. Es war dem Rumpeln eines sich nähernden Güterzuges nicht unähnlich, der sich das Gefälle hinunter treiben ließ.

Bill begann zu rennen. Ein Wolkenbruch zog über den Big Stormy Canyon. Andauernde Sturmböen hatten die Zufahrten zum Brückengerüst aufgeweicht. Erst am Tag zuvor waren einige Streckenarbeiter dort im Einsatz gewesen und hatten die kleinen Rinnen aufgefüllt, die Sturzbäche dort gegraben hatten. Es war nicht das Bauwerk selbst, um das sich die Gleisarbeiter Sorgen machten, sondern es waren die Aufschüttungen hinter den Betonpfeilern.

Der Regen ließ jetzt nach. Und dennoch wurde das Donnern tosenden Wassers lauter. Es war auch das Krachen und Knirschen von Bäumen und Felsbrocken zu hören, die gegen die zerklüfteten Canyonwände prallten und die brüchige Erde aufrissen, während die zunehmende Anhäufung von Schutt und Geröll von der steigenden Flut mitgerissen wurde.

Irgendwo hoch in den Bergen hatten sich vollgesogene Wolken entleert – eine letzte verrückte Laune des Sturms. Jetzt aber waren um den Frowsy Head herum sogar vereinzelt Sterne zu sehen.

***

Als er sich endlich dem Big Stormy näherte, war Bill der Erschöpfung nahe. Er hatte sich schon längst seines hinderlichen Regenmantels und seiner Stiefel entledigt. Seine Füße waren von den Schottersteinen aufgerissen und blutig.

Er warf einen Blick auf das Licht im Fenster seines Heims, als er an dem kleinen Gebäude neben der Trasse vorbeistolperte. Es schien ihm neue Kraft zu geben. Er spürte, dass Ann ihm ganz nahe war.

Als Bill bei der Brücke ankam, wurde er von schlammigem Wasser empfangen. Es kam die Gräben neben den Gleisen hinunter und kroch über die Schwellen. Ein breiter Streifen Wasser dehnte sich vor ihm aus, ein regelrechter Fluss, der gurgelnd über die Stahlkonstruktion floss.

Jede Minute war kostbar. Jede Sekunde, die verstrich, war ein Schritt in Richtung Ewigkeit. Wenn Nr. 6 pünktlich war, war sie nicht mehr weit weg. Es war noch nicht einmal einen Monat her, dass die Fahrzeit nach Chicago um zwei Stunden verkürzt worden war, und in Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen wurde mit dieser neuen Schnellverbindung geprahlt.

Das Wasser strömte wie ein Mühlgerinne über die Schienen. Seine Kraft war ungeheuerlich. Mit teuflischer Wildheit packte es seine Beine und versuchte, ihn nach unten zu ziehen. Ein Fuß trat zwischen den unsichtbaren Schwellen ins Leere. Die Erde bröckelte schon. Die Füllung hatte begonnen, sich aufzulösen.

Bill kippte nach vorne. Etwas in seinem Bein knackte. Ein stechender Schmerz durchzuckte ihn. Er fühlte, wie er mitgerissen wurde. Er klammerte sich an die überflutete Schiene, die jetzt eine Fußbreite unter der strömenden Flut lag. Die Laterne und ein Lichtsignal, die er in der linken Hand gehalten hatte, gingen verloren.

Der Tod war nichts, vor dem Bill Carnegan Angst hatte. Das Leben hatte nicht mehr viel zu bieten, seit Ann nicht mehr da war. Und doch war sein Herz an diesem Abend von einer grimmigen Entschlossenheit erfüllt. Er dachte nicht an sich selbst, sondern an die Eisenbahn und an die Männer und Frauen, deren Leben er beschützte.

Er würde den Big Stormy überqueren, mochte da kommen, was da kommen wollte. Ein irisches Kämpferherz trug ihn vorwärts, Schritt für Schritt.

Geprügelt und hin- und hergeworfen von schlammigem Wasser, das versuchte, ihn flussabwärts zu ziehen, kämpfte Bill sich voran. Beständig ertönte das Tosen der Sturzflut in seinen Ohren.

Sein nutzloses rechtes Bein zog er hinter sich her. Auf Händen und Knien bewegte er sich vorwärts. Ein Baum kam die Schlucht heruntergeschwemmt, seine losen Wurzeln wanden sich und schlugen um sich wie die bedrohlichen Arme eines Tintenfisches. Der Stamm des Baums trieb in der Dunkelheit auf ihn zu. Er versuchte auszuweichen, doch ein zackiger Aststumpf traf ihn am Kopf und riss eine klaffende Wunde auf.

In seiner Verzweiflung drückte Bill sein Knie gegen das Geländer und klammerte er sich dort fest, um kurz nach Luft zu schnappen. Er kämpfte gegen ein Schwindelgefühl und fast völlige Erschöpfung an. Dann kroch er wieder weiter – entschlossen, nicht aufzugeben.

Laterne und Lichtsignal hatte er nicht mehr. Auch das allerletzte Streichholz war längst durchnässt und zu nichts mehr nutze. Selbst wenn der ehemalige Schienenkapitän das Westufer des Big Stormy und festen Boden erreichen könnte, hätte er keine Möglichkeit, die Aufmerksamkeit des Lokführers am Dampfhebel von Nr. 6 auf sich zu ziehen. Nie und nimmer würden sie ihn rechtzeitig sehen.

Und doch brannte in Bill Carnegans Kopf ein einzelner Funke, der nicht erlöschen wollte. In seinen Ohren glaubte er über das Rauschen des Wassers hinweg die leise süße Stimme des Mädchens zu hören, das er damals im alten Neuengland umworben und für sich gewonnen hatte.

Jetzt würde er sich zu einem Rendezvous mit ihr treffen – dort vorne bei diesem Erdhügel und dem Kreuz. Etwas trug ihn weiter, etwas, das ihn über diese letzten von der Flut zerrissenen Schienenstücke hob, bis hin zum festen Boden auf der anderen Seite des Big Stormy.

***

Nummer 6 war pünktlich. Zwei Lokomotiven über den Sangre del Salvadors und vierzehn Waggons ganz aus Stahl – Post-, Express- und Pullman-Wagen. Der Crazy Creek Canyon hallte vom stakkatoartigen Bellen der Auspuffe und dem Trommeln von Stahl auf Stahl wider.

Leichter Regen fiel, ein Ausläufer des Sturms, der zuvor auf den Thunder Mountain zugeschwenkt war. Charley Donaldson, ein Veteran auf den Trassen der Canyon Division, war am Dampfhebel. Er hatte die Blitze weit vor ihm beobachtet.

„Ganz schön was los im Canyon-Pass“, rief er dem Heizer zu.

Dieser unterbrach seine Arbeit vor dem Kessel für eine Weile und stellte sich neben den Lokführer.

„Wenigstens ist es nicht mehr wie früher“, sagte er, „als die Brücke über dem Big Stormy noch aus Holz war und man damit rechnen musste, dass der Mex-Gleisgänger sich in der Baracke aufs Ohr gehauen hatte.“

„Das stimmt, mein Junge“, antwortete der Schienenkapitän voller Inbrunst. „Carnegan ist jetzt da draußen und kümmert sich um die Strecke. Wenn wir erst einmal über den Berg sind und anfangen hinunter zu rollen, wissen wir, dass alles in Ordnung ist.“

„War schon enorm hart, dass Carnegan seine Frau auf diese Weise verloren hat.“

Donaldson seufzte. „Das war es wirklich.“

„Weißt du, Charley, dieses Grab gibt einem Mann irgendwie ein komisches Gefühl. Oder dir nicht?“


„Tja, ich weiß nicht. Mir kommt es manchmal so vor, als ob Mrs. Carnegan da wäre, neben der Strecke“, sagte Donaldson, „und einfach auf alles aufpasst.“

Der Heizer pflichtete ihm bei. „Ja, das stimmt. Bill und sie. Mein Gott, es muss furchtbar einsam für ihn sein.“

Endlich schwang sich Nr. 6 über den hohen Kamm der Sangre del Salvadors. Aus den Fenstern strahlten Lichter, warm und einladend. Das Leben im Zug huschte mit kinogleicher Schnelligkeit vorbei. Ein paar Reisende hielten sich in den Speisewagen auf. Männer und Frauen saßen entspannt im Salon- und Aussichtswagen. Schaffner waren damit beschäftigt, die Schlafkojen herzurichten. In einem Abteil döste ein alter Mann, neben ihm eine grauhaarige Frau. Eine Mutter lächelte das Gesicht eines Babys an. Ein frisch verheiratetes Paar saß Händchen haltend da, die Köpfe dicht beieinander.

Charley Donaldson beugte sich über die gepolsterte Armlehne und spähte mit scharfem Blick an der gläsernen Wetterschutzscheibe vorbei auf die Strecke vor ihm. Zwei smaragdgrüne Punkte hingen wie ein Schmuckanhänger vor einem schwarzen Samtvorhang.

Er drehte seinen Kopf nach links und rief aus: „Grünes Licht!“

Und der Heizer bestätigte: „Grün auf der Blockstrecke!“

Ein niedriger Granitpfosten flog vorbei. Meilenstein 103. Das Klopfen der Auspuffe hatte sich zu einem eiligen Murmeln beschleunigt. Treib- und Kolbenstangen waren nur noch gegenläufige Flecken. Schnell rollende Räder hakten die Meilen mit einem singenden Klick-Klack ab, das die Schienenlängen so abmaß, wie man Herzschläge zählt.

Schwere Waggons wiegten sich in sanften Schaukelbewegungen, ein Zeichen für ein reibungsloses, schnelles Dahingleiten. Nr. 6 hielt genau, was die Werbung versprach. Die Parole lautete: Geschwindigkeit.

***

Die großen Passagierwaggons neigten sich in die Kurve westlich von Meilenstein 104. Der silberne Strahl des elektrischen Scheinwerfers erhellte den steilen Hang rechts vom Gleis mit flüchtigem Licht.

Aus der rabenschwarzen Dunkelheit sprangen Wacholder und Piñon-Kiefern ins Licht, geduckte Schatten von Felsbrocken und Wasserrinnen, scharf gezeichnete Streifen in einem von der Erosion geformten roten Ufer.

Der weit ausgestreckte Finger schweifte weiter, wie ein Scheinwerfer, der auf einer abgedunkelten Bühne nach Gestalten sucht. Und dann, nur für einen kurzen Moment, schien er innezuhalten, als ob er das, was er suchte, gefunden hätte.

Eine sanft ansteigende Kuppe, etwas abseits der Trasse, mit einem weichen Hintergrund aus Piñon-Kiefern. Dort, in dieser düsteren Ferne, war ein Kreuz, wie eine winzige Verzierung auf der anschwellenden Vorderseite des Berges. Strahlend weiß.


Nie versäumte Charley Donaldson es, danach Ausschau zu halten, wenn sein Zug über den Kamm der Sangre del Salvadors fegte. Jetzt waren seine Augen mit verengtem Fokus darauf gerichtet. Plötzlich wurde er hoch konzentriert.

Da bewegte sich etwas, dicht neben dem Erdhügel. Es war unheimlich. Die Entfernung war noch zu groß, als dass Einzelheiten zu erkennen gewesen wären.


Dann blitzte es plötzlich rot auf – ein matt leuchtendes karminrotes Auge. Es bewegte sich hin und her. Das Licht des Scheinwerfers schwenkte um die Kurve, und es war verschwunden.

Kalte Finger umklammerten das Herz des Lokführers. Die Sache war merkwürdig, gespenstisch. 

Der Schienenkapitän zögerte keinen Augenblick, um seine Entscheidung zu treffen. Er drehte den Dampfhebel zu und ließ einen kurzen Pfiff ertönen, um zu signalisieren, dass auch die zweite Maschine ausgestellt werden sollte. Dann schlossen sich seine Finger um den glänzenden Messinggriff der Druckluftbremse. Er schwenkte ihn ganz nach rechts, das große Loch.

Sie würden Notluft brauchen, um zum Stehen zu kommen. Charley Donaldson spürte, wenn hier im Canyon-Pass etwas schief gelaufen war, dann am Big Stormy. Von der Wasserscheide her hatte es in Strömen geregnet. Es bestand immer die Möglichkeit eines Wolkenbruchs.

Der Lokführer antwortete dem seltsam schwelenden roten Auge mit zwei schnellen Stößen seiner Dampfpfeife.

***

Bills Herz schwoll fast bis zum Bersten an, als er die Bestätigung hörte. Sie hatten sein Signal gesehen. Nr. 6 hielt an

Der Gleisgänger vergaß die Qualen seines gepeinigten Körpers, als er die Parade von feuerumrandeten Rädern in der Kurve sah. Seine Seele schwebte in ungeahnte Höhen. Keuchend stieß er ein Dankgebet aus.

Der Engel war heute Abend tatsächlich mit ihm gegangen, sein Geist hatte ihm Auftrieb gegeben und ihn weitergetragen, als es schien, dass das Beste, das er gab, nicht genug sein würde. Sein Engel war jetzt hier bei ihm.

Bill sackte auf dem Grab zusammen. „Ann!“ stieß er hervor. „Mein geliebter Schatz! Durch die Kraft und die Herrlichkeit – und durch dich – haben wir einen Zug voller Menschen gerettet.“

Der Heizer spähte voraus und schrie: „Da ist alles weggespült! Da ist die Hölle los, im Big Stormy.“

„Mein Gott, sieh dir das an!“ Donaldsons Stimme war geradezu ehrfürchtig. „Die Flut hat beide Stützpfeiler weggerissen.“

Das Licht seines Scheinwerfers offenbarte die Zerstörungskraft des schäumenden Sturzbachs. Die großen Lokomotiven von Nr. 6 fuhren noch ein wenig weiter. Dann kam der Zug mit einem letzten schwankenden Ruck zum Stehen, keine hundert Meter vom Big Stormy und seiner düsteren Todesfalle entfernt!

Charley Donaldson zündete seine Fackel an und schwang sich hastig hinunter, mit dem Rauschen des aufgewühlten Wassers in seinen Ohren. Ein Wunder hatte sie gerettet – ein Wunder und Bill Carnegan.

Feuchtigkeit, die kein Regen war, rann über die zerfurchten Wangen des Schienenkapitäns, als er zurückging, und seine flackernde Fackel enthüllte die neben dem Kreuz zusammengesunkene Gestalt von Carnegan.

Andere kamen unsicheren Schritts auf die Stelle zu – Lokführer und Heizer von der zweiten Lokomotive, uniformierte Eisenbahner, Männer, für die das dröhnende Tosen in der Dunkelheit bedeutete, dass sie auf dem Weg in das Tal der ewigen Schatten gewesen waren.

Die wehende Zunge von Donaldsons rauchender Fackel tauchte die Szene in gelbes Licht. Die Gesichter waren weiß und angespannt, als die Gruppe der Eisenbahnveteranen Zeuge einer Szene wurde, die ihnen noch viele Jahre in Erinnerung bleiben würde.

Carnegan! Das war der Name, der von ihren Lippen geformt wurde. Carnegan, hier neben dem Grab seiner Frau, die er so sehr geliebt hatte.

Charley Donaldson reichte seinem Heizer die Fackel und ließ sich nieder, um seinen starken Arm um Carnegans Schulter zu legen.

„Was ist passiert, Bill?“

Der Gleisgänger erzählte es ihnen. Er sprach mit Mühe, in langsamen Sätzen, die von dem Sturm und der plötzlichen Flut berichteten, die ihn dort auf der Ostseite des Big Stormy festgesetzt hatten. Nur am Rande erwähnte er seinen verzweifelten Kampf gegen die aufgewühlten Wassermassen.

„Ich habe meine Laterne und mein Signal verloren“, sagte er. „Aber ich wusste, dass ich eine einzige Chance hatte. Vor langer Zeit hat die alte Maggie, die Indianerin, die so oft zu Ann zu Besuch kam, das hier hergebracht –“

Seine Hand umklammerte immer noch den rubinroten Rückstrahler. Er hielt ihn vor sich.

„Dieses Stück rotes Glas“, fuhr er fort, „und die anderen Sachen da. Es waren Schätze, Zeichen der Liebe. Gott segne ihr treues altes Herz! Es war nicht viel, dieses Stück Glas. Aber Maggie wusste, dass Ann Rot liebte, deshalb hat sie es dort hingelegt. Ich – ich – also, ich hab’ mir gedacht, du würdest das Rot sehen, Charley.“ Er sah den Lokführer an.

Donaldson schüttelte bedächtig den Kopf. „Das habe ich getan, klar und deutlich.“ Seine Stimme stockte. „Das hätte mir nicht entgehen können.“

***

Die Canyon Division wollte ein Denkmal errichten – die Canyon Division und die Passagiere, die sich in jener Nacht im Zug Nummer 6 befanden. Und so wurde dort, wo das Kreuz gestanden hatte, eine wunderschöne weiße Stele aufgestellt. Auf ihr hatte man eine Bronzetafel angebracht mit dem Namen Carnegan in fetten Lettern, als eine für alle lesbare Hommage an einen Eisenbahner und seine Frau.

Und so ist es bis heute geblieben. Auf ewig halten sie Wache auf den hohen Bergkämmen der Sangre del Salvadors – Bill Carnegan und der Engel vom Canyon-Pass.

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024



Ergänzende Notiz: