(Orig.: „The Angel of Canyon Pass“, 1936; übersetzt von Reinhard Windeler)
Charles Warren Tyler (1887 – 1952) schrieb seit 1913 knapp vier Jahrzehnte lang Hunderte von Kurzgeschichten und sogenannten Novelettes in verschiedenen Genres für diverse Magazine: Detektivgeschichten, Abenteuergeschichten und Western, vor allem aber Eisenbahngeschichten. Dieses Metier kannte er aus seiner beruflichen Tätigkeit als Dampfmaschinenreiniger und Heizer bei einer Gesellschaft an der amerikanischen Ostküste. Er stammte aus New Hampshire, lebte einige Jahre in Massachusetts und zog dann nach Kalifornien, wo er mit 65 Jahren starb – und weitgehend in Vergessenheit geriet. Seine biografischen Daten wurden erst 2012 ermittelt, ein Porträtfoto ist nicht bekannt.
Die hier präsentierte Geschichte erschien erstmals 1936 in der April-Ausgabe von „Railroad Stories“ und wurde 1973 in der Februar-Ausgabe des „Railroad Magazine“ nachgedruckt, ehe Bill Pronzini und Martin H. Greenberg sie 1986 in ihrer Western-Anthologie „The Railroaders“ einem breiteren Publikum zugänglich machten.
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Besonders auffällig zwischen hohen Gipfeln ist ein tiefer Einschnitt, der wie die V-förmige Kerbe eines Gewehrvisiers geformt ist. Klar und deutlich erkennt ihn das Auge aus einer Entfernung von gut und gerne siebzig Meilen. Er wird Canyon-Pass genannt.
Eine gewaltige Schlucht mit kühn aufragenden Wänden, die gehauen wurden, als die Welt noch im Entstehen begriffen war. Dem Canyon-Pass wurden Fesseln aus Stahl angelegt, aber wirklich bezwungen wurde er nie. Ein unaufhörlicher Kampf wird dort ausgefochten. Viele Seiten in der Geschichte der Canyon Division der Pacific-Coast- & Transcontinental-Eisenbahn sind heute in roter Farbe geschrieben; düstere Einträge im Bestandsbuch des Lebens.
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Bill Carnegan war groß, gepflegt und gutaussehend. Direktor McCuen musterte den Mann eingehend. Irgendetwas an ihm verriet, dass er ein Eisenbahner war. McCuen schätzte sein Alter auf etwa zweiunddreißig.
„Und? Was wollen Sie?“ Der barsche harte Tonfall klang wenig ermutigend.
Bill sagte: „Ich suche einen Job“. Ein Anflug von Verzweiflung lag in seiner Stimme. Er zögerte. „Irgendeinen Job.“
„Arbeitsplätze sind knapp“, verkündete McCuen kurzangebunden. „Was können Sie?“
„Ich – ich war Lokführer.“
Der Direktor schüttelte den Kopf. „Wir haben eine ellenlange Liste von Männern, die arbeitslos geworden sind.“
„Sie sind also verheiratet, ja?“
„Ziemlich hart, nehme ich an, zu kündigen, wenn Sie schon ein gewisses Dienstalter hatten?“
„Hmmm!“ McCuen starrte aus dem Fenster und in die Ferne auf die violette Linie der Sangre del Salvadors und den V-förmigen Spalt des Canyon-Passes. Schließlich fragte er: „Wie heißen Sie?“
„Carnegan. Bill Carnegan.“
„Was für ein Job?“ fragte der Schienenkapitän voller Hoffnung. Schon so oft hatte er Ann ein entmutigendes „Heute ist nichts zu machen, Schatz, aber morgen finde ich etwas“ überbringen müssen. Es hatte viele Morgen gegeben.
„Aber ich wäre nicht allein“, beeilte sich Bill zu betonen.
„Sie meinen, Sie würden Ihre Frau mitnehmen?“
„Wie lange sind Sie schon verheiratet, Carnegan?“
„Acht Jahre.“
Es zuckte ein wenig um den Mund des Direktors. In diesen verrückten Zeiten war eine solche Hingabe an eine Frau etwas, das man bewundern musste. Er schrieb eine kurze Notiz und reichte sie Bill.
Und so kam Bill Carnegan zum Canyon-Pass. Bill und Ann.
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Es war Frühling. Die Berge waren kühl. In den tieferen Klüften der hohen Gipfel lagen noch Spuren von Schnee. Sie bildeten eine wilde, unfreundliche Welt, diese Sangre del Salvadors. Ann Carnegan brauchte lange, um sich an ihre majestätische Ungezähmtheit zu gewöhnen.
Die sich ständig verändernden Ausblicke – Morgendämmerungen, die sich golden über die hohen Bergkämme ergossen, flammende Sonnenuntergänge, der schnell herabfallende Vorhang der Nacht, die stürmischen Winde, die ewig durch den Pass wehten – erfüllten die Frau allesamt mit Ehrfurcht und Erschrecken.
Die schiere Weite dieses beklemmenden rauen Landes hatte überhaupt nichts von dem angenehmen Leben, das sie vormals in der Elm Street im alten Neuengland geführt hatte.
Obwohl sie mit aller Kraft dagegen ankämpfte, hatte Ann furchtbares Heimweh. Aber sie ließ es Bill nie wissen. In Nächten, in denen der schreckliche Wind durch die Schluchten blies, war ihr Kopfkissen nass von Tränen. Und wenn dann der Morgen kam, schämte sie sich.
Und doch hatte die Canyon Division noch nie einen so verlässlichen und unermüdlichen Gleisgänger gehabt wie Bill Carnegan. Es schien, als wäre ihm die Bedeutung seiner Aufgabe bewusst geworden, weil er selbst am Dampfhebel gestanden hatte. In den Sangre del Salvadors drohten ständig Gefahren. Erdrutsche, Steinschläge, Unterspülungen – all das machte diesen Ort zum Albtraum eines jeden Eisenbahners.
„Das muss ich auch sein“, antwortete sie dann, „um mit dir mithalten zu können, Bill.“
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Auch hielten die Männer in den Zügen Ausschau nach der schlanken Gestalt der Frau in der Tür der kleinen Hütte am Meilenstein 104. Sie war ebenso ein Teil vom Canyon-Pass wie Carnegan selbst.
Und als die Frau des Sektionsvorstehers krank war, ging Ann zum Sektionshaus in Paraje, um sich dort nützlich zu machen, so gut sie konnte. Als bei den Narrows ein Güterzug entgleiste, versorgte Ann die Verletzungen des Heizers und eines Bremsers und kochte Kaffee für die Besatzung, während sie auf den Abschleppzug warteten.
Hin und wieder bekam ein hungriger Hobo eine Mahlzeit oder der Mantel eines mexikanischen Gleisarbeiters wurde geflickt. Oder in Pedros Haus wurde Nachwuchs erwartet, und Ann nähte Babykleidung. So kam es, dass man anfing, sie den Engel vom Canyon-Pass zu nennen.
Weinreben rankten sich an den tristen Seiten des kleinen gelben Gebäudes empor. Auf einem Stück Spalier entfaltete eine rote Rose ihre Blütenblätter. Geranien sorgten für Farbe. Es gab Malven und wildes Eisenkraut. Die Passagiere in den Zügen schauten aus Pullman-Fenstern und staunten, dass eine Arbeiterhütte so entzückend sein konnte.
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Eines Tages kam eine alte Indianerin namens Maggie zum Meilenstein 104. Sie hatte in der Nähe Piñon-Nüsse gesammelt und beschloss, das Haus des weißen Mannes als mögliche neue Verkaufsstelle aufzusuchen.
Für Ann war es der erste weibliche Besuch, und sie hätte einer Nachbarin, die in der Elm Street auf ein Schwätzchen vorbeigekommen wäre, keinen herzlicheren Empfang bereiten können.
Maggie sagte: „How!“
Und Ann, stolz auf ein wenig Spanisch, das ihr die mexikanischen Sektionsarbeiter beigebracht hatten, antwortete: „Cómo está!“
Die Squaw verstand Mexikanisch, und ihr ernstes Gesicht hellte sich auf. „Ich Maggie“, sagte sie. „Indianername Na-va-wi.“
„Ich Ann. Ich nenne dich Na-va-wi. Ich bin so froh, dass du hergekommen bist.“
Und die Dame aus Neuengland servierte das Mittagessen, so wie sie es für einen Besucher in ihrer Heimat getan hätte.
Die alte Maggie kramte in einer Tasche ihres voluminösen Rocks und förderte eine Reihe von Wüstensteinen zutage – Turmaline, Achate und Stücke aus farbenprächtigem versteinertem Holz. Anns Augen funkelten. Sie liebte diese Juwelen des Ödlandes.
Sie kaufte zwei oder drei Steine und bat Maggie wiederzukommen. Später bestellte sie in Del Rosa und Amargosa bunte Kattunstoffe und andere Dinge, von denen sie glaubte, dass sie bei der Indianersquaw Anklang finden könnten. Es machte viel Spaß, da draußen auf den Stufen zu sitzen und mit Maggie Tauschhandel zu treiben.
Eine große Last fiel Bill vom Herzen. Mit einem Pfeifen ging er seiner Arbeit nach. Das Leben war am Ende doch gut. Der Job eines Gleisgängers war besser als jeder andere auf der Welt – solange er nur Ann hatte.
Und die alte Maggie vergaß es nicht.
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Im Juni des zweiten Sommers, in dem Bill Carnegan und Ann im Canyon-Pass waren, legte ein tragisches Geschick seinen schrecklichen Finger auf Meilenstein 104.
Ann erkältete sich. Sie sagte Bill, es sei nichts Schlimmes, nur ein Schnupfen. Doch plötzlich setzte sich die Erkältung in ihrer Brust fest. In der Nacht bekam sie Schüttelfrost und Fieber. Bill hielt einen Güterzug Richtung Westen an und ließ einen Arzt holen. Der Arzt kam am nächsten Morgen auf der Nr. 2 aus Del Rosa. Eine Krankenschwester begleitete ihn.
Sie kämpften heldenhaft, um sie zu retten, aber das Schicksal hatte es für Ann einfach nicht bestimmt, dass sie überlebte. Die Patientin starb zwei Tage später, während Bill ihre Hand hielt.
Sie lächelte ihm ins Gesicht und flüsterte: „Lebe wohl, Bill. Es – es war alles – so wunderbar – mit dir…“
Der ehemalige Schienenkapitän war nie wieder derselbe. Nachdem der erste betäubende, herzzerreißende Schlag ein wenig nachgelassen hatte, sah er den Dingen mit einer seltsamen, leeren Starre entgegen, die Männer den Kopf schütteln ließ.
Sie sprachen unbeholfen von Trauer, von Mitgefühl, während Bill sie mit Augen anstarrte, die durch sie hindurchblickten, zu einem fernen Horizont und zu einer Frau, die ihn durch den Nebel anlächelte.
Sie fragten Carnegan, wo Ann begraben werden sollte – auf dem Friedhof von Del Rosa oder im Osten, woher sie stammte.
Direktor McCuen war da, ebenso Betriebsleiter Godett, der Sektionschef und andere. Ernst und beunruhigt warteten sie auf seine Antwort. Sie sahen hier einen Mann unter Anspannung, der sich bewegte wie ein Schlafwandler. Wo wollte er sie begraben haben?
Die Falten in seinem Gesicht wurden endlich weicher. „Hier natürlich! Begrabt sie hier“, sagte er langsam, als gäbe es keine andere Möglichkeit. „Ich will sie in meiner Nähe haben, denn ich werde im Pass Wache halten.“
McCuen, der ergraute Eisenbahnveteran, hatte einen Kloß im Hals. Godett fingerte nach seinem Taschentuch und schnäuzte sich die Nase. Der Sektionschef fluchte leise vor sich hin.
„Dort draußen auf dem Hügel auf der anderen Seite des Canyons“, sagte Bill, „wo sie ihren Garten sehen und auf die Ausläufer der Berge hinunterblicken kann…“
Die Streckenarbeiter errichteten ein Holzkreuz und fassten den Grabhügel mit weißen Steinen aus Anns Garten ein. Und Bill pflanzte eine rote Rose, ihre Lieblingsfarbe.
Der Engel vom Canyon-Pass winkte nicht mehr von dem kleinen Haus neben der Strecke aus, aber die Zugbesatzungen hatten irgendwie das Gefühl, dass sie immer noch da war – und auf sie aufpasste. Mehr als nur einer der Veteranen am Dampfhebel hob die Hand zum feierlichen Gruß, wenn seine Lokomotive vorbeiratterte.
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Eines Tages kam die alte Maggie wieder zum Canyon-Pass. Sie hatte ein wunderschönes Stück polierten Chalzedons dabei. Tatsächlich hatte die runzlige alte Squaw es aus dem Souvenirladen in Paraje gestohlen. Sie hätte es an Touristen verkaufen können. Aber Maggie hatte den Achat nicht aus Profitgier entwendet, sondern aus Liebe. Sie legte ihn auf das Grab des Engels.
Dann war da noch die Flasche, die Bill am Fuße des Kreuzes entdeckte. Sie hatte durch lange Sonneneinstrahlung einen satten Purpurton angenommen. Ann hatte so gefärbtes Glas sehr gemocht. Außerdem fand im Laufe der Zeit eine Ansammlung funkelnder Bergkristalle ihren Weg zu diesem Erdhügel.
Und es gab ein rundes Stück gemasertes rubinrotes Glas, das sich in den Boden schmiegte – ein Sicherheitsreflektor, den irgendein Auto oder Lastwagen unten auf dem Highway verloren hatte. Die alte Maggie hatte sich daran erinnert, dass Ann eine Vorliebe für Rot hatte.
Eines Tages sah Bill, wie die Indianerin jenseits der Narrows Piñon-Nüsse sammelte, und er sprach sie an.
„Du bringst Ann immer noch hübsche Steine“, sagte er. „Gracias! Mucho gracias!“
„Na-va-wi lieben weiße Schwester“, antwortete die Squaw. „Sie gute Frau. Sie gut zu alte Maggie. Irgendwann sie wachen auf aus langen Schlaf. Sehen Geschenke, die Indianer bringen.“
Ein paar Tage später kam Bill spät nach Hause. Wolken ballten sich um Thunder Mountain und Frowsy Head. Schwarze Schleier warfen ihre langen Fahnen über die höheren Gipfel der Sangre del Salvadors.
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Über dem Frowsy Head tobte ein Sturm. Es blitzte zackig und häufig. Donnerschläge dröhnten mit schrillem Nachhall durch die Berge. Ein großer Teil des Regenwassers aus dem Zuflussgebiet östlich des Frowsy Head ergoss sich in den Big Stormy.
Ein neuer Sturm zog von Süden in Richtung Thunder Mountain auf. Bill stand in der Tür der Hütte und beobachtete. Es sah schlimm aus.
Von den felsigen Hängen des Thunder Mountain und des Jawbone strömte Wasser in die Narrows. Es bestand immer die Gefahr von Erdrutschen und Steinschlägen.
Bill zog Ölzeug und Stiefel an. „Ich sollte wohl besser runter zu den Narrows gehen“, sagte er zu sich selbst.
Er zündete die Lampe auf dem Tisch neben dem Fenster an. Anns Bild stand in der Nähe der Lampe. Es zeigte sie, wie sie mit der Hand winkte und lächelte.
„Bis gleich, Ann!“, sagte er. „Ich bin nicht lange weg.“
Bill folgte den Gleisen in Richtung der Narrows. Als er den Meilenstein 105 erreichte, hatte es angefangen zu regnen. Vom Jawbone her kamen Sturmböen.
Das Flackern einer Laterne nahe an Meilenstein 106 kündete davon, dass Carnegan, der Wächter des Passes, die Gleise beschützte.
Über dem Lärm von Wind und Regen drang schwach ein dumpfes Brüllen an seine Ohren. Es war ein unheilvolles Geräusch. Er hatte es schon einmal gehört. Es war dem Rumpeln eines sich nähernden Güterzuges nicht unähnlich, der sich das Gefälle hinunter treiben ließ.
Irgendwo hoch in den Bergen hatten sich vollgesogene Wolken entleert – eine letzte verrückte Laune des Sturms. Jetzt aber waren um den Frowsy Head herum sogar vereinzelt Sterne zu sehen.
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Als er sich endlich dem Big Stormy näherte, war Bill der Erschöpfung nahe. Er hatte sich schon längst seines hinderlichen Regenmantels und seiner Stiefel entledigt. Seine Füße waren von den Schottersteinen aufgerissen und blutig.
Er warf einen Blick auf das Licht im Fenster seines Heims, als er an dem kleinen Gebäude neben der Trasse vorbeistolperte. Es schien ihm neue Kraft zu geben. Er spürte, dass Ann ihm ganz nahe war.
Als Bill bei der Brücke ankam, wurde er von schlammigem Wasser empfangen. Es kam die Gräben neben den Gleisen hinunter und kroch über die Schwellen. Ein breiter Streifen Wasser dehnte sich vor ihm aus, ein regelrechter Fluss, der gurgelnd über die Stahlkonstruktion floss.
Jede Minute war kostbar. Jede Sekunde, die verstrich, war ein Schritt in Richtung Ewigkeit. Wenn Nr. 6 pünktlich war, war sie nicht mehr weit weg. Es war noch nicht einmal einen Monat her, dass die Fahrzeit nach Chicago um zwei Stunden verkürzt worden war, und in Zeitungs- und Zeitschriftenanzeigen wurde mit dieser neuen Schnellverbindung geprahlt.
Das Wasser strömte wie ein Mühlgerinne über die Schienen. Seine Kraft war ungeheuerlich. Mit teuflischer Wildheit packte es seine Beine und versuchte, ihn nach unten zu ziehen. Ein Fuß trat zwischen den unsichtbaren Schwellen ins Leere. Die Erde bröckelte schon. Die Füllung hatte begonnen, sich aufzulösen.
Geprügelt und hin- und hergeworfen von schlammigem Wasser, das versuchte, ihn flussabwärts zu ziehen, kämpfte Bill sich voran. Beständig ertönte das Tosen der Sturzflut in seinen Ohren.
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Nummer 6 war pünktlich. Zwei Lokomotiven über den Sangre del Salvadors und vierzehn Waggons ganz aus Stahl – Post-, Express- und Pullman-Wagen. Der Crazy Creek Canyon hallte vom stakkatoartigen Bellen der Auspuffe und dem Trommeln von Stahl auf Stahl wider.
Leichter Regen fiel, ein Ausläufer des Sturms, der zuvor auf den Thunder Mountain zugeschwenkt war. Charley Donaldson, ein Veteran auf den Trassen der Canyon Division, war am Dampfhebel. Er hatte die Blitze weit vor ihm beobachtet.
„Ganz schön was los im Canyon-Pass“, rief er dem Heizer zu.
Dieser unterbrach seine Arbeit vor dem Kessel für eine Weile und stellte sich neben den Lokführer.
„Wenigstens ist es nicht mehr wie früher“, sagte er, „als die Brücke über dem Big Stormy noch aus Holz war und man damit rechnen musste, dass der Mex-Gleisgänger sich in der Baracke aufs Ohr gehauen hatte.“
„War schon enorm hart, dass Carnegan seine Frau auf diese Weise verloren hat.“
Donaldson seufzte. „Das war es wirklich.“
„Weißt du, Charley, dieses Grab gibt einem Mann irgendwie ein komisches Gefühl. Oder dir nicht?“
Der Heizer pflichtete ihm bei. „Ja, das stimmt. Bill und sie. Mein Gott, es muss furchtbar einsam für ihn sein.“
Endlich schwang sich Nr. 6 über den hohen Kamm der Sangre del Salvadors. Aus den Fenstern strahlten Lichter, warm und einladend. Das Leben im Zug huschte mit kinogleicher Schnelligkeit vorbei. Ein paar Reisende hielten sich in den Speisewagen auf. Männer und Frauen saßen entspannt im Salon- und Aussichtswagen. Schaffner waren damit beschäftigt, die Schlafkojen herzurichten. In einem Abteil döste ein alter Mann, neben ihm eine grauhaarige Frau. Eine Mutter lächelte das Gesicht eines Babys an. Ein frisch verheiratetes Paar saß Händchen haltend da, die Köpfe dicht beieinander.
Charley Donaldson beugte sich über die gepolsterte Armlehne und spähte mit scharfem Blick an der gläsernen Wetterschutzscheibe vorbei auf die Strecke vor ihm. Zwei smaragdgrüne Punkte hingen wie ein Schmuckanhänger vor einem schwarzen Samtvorhang.
Er drehte seinen Kopf nach links und rief aus: „Grünes Licht!“
Und der Heizer bestätigte: „Grün auf der Blockstrecke!“
Schwere Waggons wiegten sich in sanften Schaukelbewegungen, ein Zeichen für ein reibungsloses, schnelles Dahingleiten. Nr. 6 hielt genau, was die Werbung versprach. Die Parole lautete: Geschwindigkeit.
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Die großen Passagierwaggons neigten sich in die Kurve westlich von Meilenstein 104. Der silberne Strahl des elektrischen Scheinwerfers erhellte den steilen Hang rechts vom Gleis mit flüchtigem Licht.
Aus der rabenschwarzen Dunkelheit sprangen Wacholder und Piñon-Kiefern ins Licht, geduckte Schatten von Felsbrocken und Wasserrinnen, scharf gezeichnete Streifen in einem von der Erosion geformten roten Ufer.
Der weit ausgestreckte Finger schweifte weiter, wie ein Scheinwerfer, der auf einer abgedunkelten Bühne nach Gestalten sucht. Und dann, nur für einen kurzen Moment, schien er innezuhalten, als ob er das, was er suchte, gefunden hätte.
Eine sanft ansteigende Kuppe, etwas abseits der Trasse, mit einem weichen Hintergrund aus Piñon-Kiefern. Dort, in dieser düsteren Ferne, war ein Kreuz, wie eine winzige Verzierung auf der anschwellenden Vorderseite des Berges. Strahlend weiß.
Da bewegte sich etwas, dicht neben dem Erdhügel. Es war unheimlich. Die Entfernung war noch zu groß, als dass Einzelheiten zu erkennen gewesen wären.
Kalte Finger umklammerten das Herz des Lokführers. Die Sache war merkwürdig, gespenstisch.
Sie würden Notluft brauchen, um zum Stehen zu kommen. Charley Donaldson spürte, wenn hier im Canyon-Pass etwas schief gelaufen war, dann am Big Stormy. Von der Wasserscheide her hatte es in Strömen geregnet. Es bestand immer die Möglichkeit eines Wolkenbruchs.
Der Lokführer antwortete dem seltsam schwelenden roten Auge mit zwei schnellen Stößen seiner Dampfpfeife.
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Bills Herz schwoll fast bis zum Bersten an, als er die Bestätigung hörte. Sie hatten sein Signal gesehen. Nr. 6 hielt an
Der Gleisgänger vergaß die Qualen seines gepeinigten Körpers, als er die Parade von feuerumrandeten Rädern in der Kurve sah. Seine Seele schwebte in ungeahnte Höhen. Keuchend stieß er ein Dankgebet aus.
Der Engel war heute Abend tatsächlich mit ihm gegangen, sein Geist hatte ihm Auftrieb gegeben und ihn weitergetragen, als es schien, dass das Beste, das er gab, nicht genug sein würde. Sein Engel war jetzt hier bei ihm.
Bill sackte auf dem Grab zusammen. „Ann!“ stieß er hervor. „Mein geliebter Schatz! Durch die Kraft und die Herrlichkeit – und durch dich – haben wir einen Zug voller Menschen gerettet.“
Der Heizer spähte voraus und schrie: „Da ist alles weggespült! Da ist die Hölle los, im Big Stormy.“
„Mein Gott, sieh dir das an!“ Donaldsons Stimme war geradezu ehrfürchtig. „Die Flut hat beide Stützpfeiler weggerissen.“
Charley Donaldson zündete seine Fackel an und schwang sich hastig hinunter, mit dem Rauschen des aufgewühlten Wassers in seinen Ohren. Ein Wunder hatte sie gerettet – ein Wunder und Bill Carnegan.
Carnegan! Das war der Name, der von ihren Lippen geformt wurde. Carnegan, hier neben dem Grab seiner Frau, die er so sehr geliebt hatte.
Charley Donaldson reichte seinem Heizer die Fackel und ließ sich nieder, um seinen starken Arm um Carnegans Schulter zu legen.
„Was ist passiert, Bill?“
Der Gleisgänger erzählte es ihnen. Er sprach mit Mühe, in langsamen Sätzen, die von dem Sturm und der plötzlichen Flut berichteten, die ihn dort auf der Ostseite des Big Stormy festgesetzt hatten. Nur am Rande erwähnte er seinen verzweifelten Kampf gegen die aufgewühlten Wassermassen.
„Ich habe meine Laterne und mein Signal verloren“, sagte er. „Aber ich wusste, dass ich eine einzige Chance hatte. Vor langer Zeit hat die alte Maggie, die Indianerin, die so oft zu Ann zu Besuch kam, das hier hergebracht –“
Donaldson schüttelte bedächtig den Kopf. „Das habe ich getan, klar und deutlich.“ Seine Stimme stockte. „Das hätte mir nicht entgehen können.“
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Die Canyon Division wollte ein Denkmal errichten – die Canyon Division und die Passagiere, die sich in jener Nacht im Zug Nummer 6 befanden. Und so wurde dort, wo das Kreuz gestanden hatte, eine wunderschöne weiße Stele aufgestellt. Auf ihr hatte man eine Bronzetafel angebracht mit dem Namen Carnegan in fetten Lettern, als eine für alle lesbare Hommage an einen Eisenbahner und seine Frau.
Und so ist es bis heute geblieben. Auf ewig halten sie Wache auf den hohen Bergkämmen der Sangre del Salvadors – Bill Carnegan und der Engel vom Canyon-Pass.
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024
Ergänzende Notiz:
- Zu Charles Warren Tyler finden sich biografische Informationen und eine Übersicht über seine Veröffentlichungen bei: https://mysteryfile.com/blog/?p=17703
- Die Veröffentlichung obiger Story in Railroad Stories 1936 ist zugänglich unter: https://www.pulpmags.org/collections/flb/rst19360400/index.html#p=1