(Orig.: „Wolves“,
2018; übersetzt von Reinhard Windeler)
Ed
Kurtz ist das von seinem wahren Namen abgeleitete Pseudonym eines
Autors, der aus Arkansas stammt (Jahrgang 1977) und in Connecticut
lebt. Er debütierte 2011 mit dem Roman „Bleed“
(dt.: Ausgeblutet) und hat sich im
Horror-Genre etabliert, schreibt aber auch Western-Romane, darunter
die originelle Boon-Trilogie (2020 – 2022), die leider bisher nicht
auf Deutsch erschienen ist.
Die
folgende Kurzgeschichte, die in einem gnadenlosen Colorado-Winter
spielt, ist – diese Warnung sei voraus geschickt – nichts für
Zartbesaitete. Sie ist in der Anthologie „Blood They
Brought and Other Stories“ enthalten und wurde vier Jahre später
auch in der Anthologie „Horseblood“ veröffentlicht.
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I.
Nelda
machte sich im November davon, kurz vor den ersten Schneefällen,
ungefähr sobald ihr klar wurde, dass die Ernte keinen Ertrag bringen
würde und dass in der Holzhütte, die Amos für sie gebaut hatte,
nie ein Penny übrig sein würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die
beiden Männer, die Amos eingestellt hatte, Arkansas Aubrey und
Little Nick Sanchez, bereits nicht mehr da. Die beiden hatten auf
einen Aufstieg gehofft, als der Homestead Act erlassen wurde, wurden
aber enttäuscht und verschwanden, als sie erfuhren, dass Amos die
Bestimmungen des Gesetzes niemals würde einhalten können, um einen
ganzen Viertelabschnitt zu behalten. Er war drauf und dran, das Land
zu verlieren, für das er so hart gearbeitet hatte, um es fruchtbar
zu machen. So verlor er seine Frau, seine Arbeiter, seine Ernte und
mehr als die Hälfte des halben Dutzends magerer Kühe, die er auf
den Weiden frei grasen ließ, durch Hunger, Krankheiten und
Arapaho-Überfälle. Alles, was Amos jetzt noch geblieben war, war
die Holzhütte, die er mit Nolan gebaut hatte, seinem Sohn mit Nelda,
die ihm auch gehört hatte.
Aber der Schnee kam,
und aus Denver hieß es, der Winter würde hart werden. Die Vorräte
waren knapp und die
Aussichten düster. Amos schlachtete die beiden Kühe, die er auf der
Weide finden konnte, und hängte ihre mageren Kadaver in die
Erdhütte, wo er einen Teil des Fleisches salzte und den Rest in den
immer kälteren Nächten und Tagen auskühlen ließ. Er teilte das
Fleisch zwischen sich und Nolan auf, ergänzte es mit klumpigen
Kuchen aus minderwertigem Mehl und dünnem, mit Gerste verschnittenem
Kaffee, der kaum nach mehr als schmutzigem Wasser schmeckte. Und als
in der ersten Dezemberwoche am späten Abend die ersten Flocken träge
aus den sich ballenden Wolken herabfielen, wusste Amos ohne jeden
Zweifel, dass sie nicht genug haben würden. Er entkorkte eine
Flasche Roggenwhisky, die er nur selten anrührte, setzte sich auf
die vordere Veranda der Holzhütte, die das Schmuckstück des Hauses
war, und während er am Flaschenhals nippte, sah er zu, wie sein Ruin
sanft und wunderschön aus dem sich verdunkelnden Himmel herab
schwebte.
Am Morgen war das
Kurzgras mit strahlendem Weiß bedeckt, unberührt und unverdorben,
und es fiel immer noch Schnee. Er kam jetzt in dicken, klobigen
Flocken, hart und schwer wie ein starker Platzregen im Frühling.
Amos erwachte auf der Veranda, fast steifgefroren unter einem Quilt,
den Nelda damals in Arkansas gefertigt hatte, vor Colorado und vor
dem Krieg, als ihr Bauch mit Nolan immer dicker wurde. Sie hatte
nicht viel mitgenommen, als sie wegging.
Amos bewegte seine
Beine, die steif waren und schmerzten, und veränderte seine Lage,
bis er aufrecht saß. Er konnte hören, wie der Schnee auf die kahlen
Pappeln prasselte, mit denen die Bergkette gesprenkelt war. In der
Ferne waren die Berge vollständig von dem nebligen grauen Schleier
verdeckt, der die eiskalte Luft erfüllte. Es würde noch schlimmer
werden, bevor es besser wurde. So viel wusste Amos.
Mit nicht geringer Mühe
kam er auf die Beine, wobei der Quilt wie eine Schlangenhaut von ihm
abfiel. Aus dem Inneren der Holzhütte hörte er das metallische
Klirren von Geschirr, und für einen kurzen Moment war er so
verwirrt, dass er glaubte, seine Frau sei dort drin und kochte. Das
konnte nicht sein. Er griff nach dem Lederriemen in der Tür und zog
sie auf. Er fand Nolan vor, der am bauchigen Herd stand, Streifen von
Rindfleisch kochte und Klumpen fettiger Mehlbällchen über der
Flamme fallen ließ.
„Um Himmels willen,
Junge“, krächzte Amos, und die Worte wurden von weißen
Dampfschwaden begleitet. „Verbrauch’ nicht alle Lebensmittel. Der
Winter hat gerade erst angefangen.“
„Du warst die ganze
Nacht auf der Veranda“, sagte der Junge, ohne den Blick von seiner
Arbeit abzuwenden. „Du bist da draußen fast erfroren, Papa. Du
brauchst etwas Heißes, um dich innen aufzuwärmen.“
Amos zog die Tür zu
und machte den Riemen fest. Er zitterte bis tief ins Mark vor Kälte.
„Von jetzt an“,
sagte er und schlurfte zum Tisch, „fragst du um Erlaubnis, bevor du
die Rationen anrührst, hörst du?“
„Hab’ ich
verstanden, Papa“, sagte Nolan und wurde rot. Er setzte den Deckel
auf den Topf, der über dem Feuer leicht hin und her schwang, und
drehte sich reumütig zu seinem Vater um. "Tut mir leid."
Der Duft von Backmehl
stieg Amos wie Ambrosia in die Nase. Ihm lief das Wasser im Mund
zusammen, obwohl seine Beklemmung wuchs, die seinen Herzschlag
beschleunigte und kalten Schweiß auf seine Stirn treten ließ. Er
setzte sich an den Tisch und wartete auf das Frühstück. Und er
fragte sich, wie viele Frühstücke es wohl noch geben würde.
II.
Zwei
Wochen vor Weihnachten kam Nolan stampfend und keuchend durch den
Schnee zurück zur Holzhütte. Mit einer Hand hatte er eine
Holzschaufel am Stiel gepackt. Amos kam zur Tür und sah zu, wie er
durch den Passweg näher kam, den sie beide durch die hüfthohen
Schneewehen gegraben hatten. Das Gesicht des Jungen war knallrosa und
glitzerte vor Eis.
„Die Andersons sind
weg“, rief Nolan im Gehen. „Ihre Hütte ist völlig leer, bis auf
ein paar Stühle und einen Hundekadaver. Ich schätze, der Hund ist
zum Sterben da hingegangen, wo es nicht so kalt war.“
„Wahrscheinlich ein
Wolf“, sagte Amos mit einem Kopfschütteln.
„Er war ganz verwest.
Schwer zu sagen.“
„Hab’ vor ein paar
Nächten ein Heulen gehört. Die sind besser für diesen Scheiß
gewappnet als wir.“
„Nichts zu fressen
für die“, vermutete der Junge. „Ich habe da draußen nichts
gesehen, Papa. Nicht einmal einen Vogel. Und schon gar keine Kühe.“
„Wenn noch eine von
denen übrig war, ist sie jetzt tot. Gefressen oder unter all dem
Schnee und Eis begraben. Verdammt. Gottverdammt.“
„Papa –“
„Nun mach’ schon –
komm’ rein.“
Mit einem langen
Seufzer lehnte der Junge die Schaufel an die Vorderseite der
Holzhütte und folgte seinem Vater ins vergleichsweise Warme. Er
bemerkte sofort, dass die Kohlen im Herd kaum noch glommen, aber es
war trotzdem verdammt viel besser als draußen. Amos ließ sich auf
einen Stuhl nieder, der eine gerade Rückenlehne hatte und direkt
neben dem eisernen schwarzen Herd stand, und schloss seine Augen.
„Was gibt’s denn
heute zum Abendessen?“ fragte Nolan verlegen.
„Kein Abendessen“,
bellte sein Vater und rümpfte die Nase. „Vielleicht morgen.“
III.
Das
Heulen kam ein paar Nächte später wieder, leise und erfüllt von
Wehklagen und Hunger. Amos lag wach in der Dunkelheit, in der er nur
durch den kaum wahrnehmbaren Schein der verlöschenden Glut im Herd
etwas sehen konnte, und horchte. Das einzige Pferd im Pferch, ein
Schecke, den der Junge „Little Rock“ genannt hatte – nach der
schönsten Erinnerung seines Lebens, als sie zu dritt in der Stadt
gewesen waren, um Nelda ein neues blaues Kleid zu kaufen –,
wieherte, als das Heulen näher kam und lauter wurde. Amos erhob sich
von seiner Pritsche, schob zwei Patronen in seine Schrotflinte und
ging auf Strümpfen zur Veranda. Er hatte schon damit gerechnet, dass
Little Rock noch vor Neujahr auf dem Abendbrottisch landen würde,
und er wollte verdammt sein, wenn er es zuließe, dass ein vor Hunger
verrückter Wolf ihm zuvor kam.
Amos’ Augen verengten
sich zu Schlitzen, als er in die unerbittliche Dunkelheit spähte,
aus der die Fässer heraus ragten, und wartete. Es schneite immer
weiter, die Wolken, aus denen der Schnee fiel, waren dunkel und
schiefergrau und verschluckten den Mond. Der Schecke schnaubte. Das
Heulen setzte nicht wieder ein.
Er lauschte seinem
eigenen Atem und beobachtete, wie er in Schwaden ausströmte. Er
wartete darauf, dass sich die Wolken verzogen, damit der Mond schien,
aber das tat er nicht. Falls die Wölfe jetzt in der Nähe waren,
pirschten sie sich lautlos an. Vielleicht teilten sie sich auf:
einige zum Pferd, einige zum Rindfleisch in der Erdhütte. Und einer
zu Amos.
Sachte stieg er die
drei vereisten Stufen von der Veranda hinunter in den Schnee, der
festgetrampelt auf dem Erdboden unter ihm lag. Jeder seiner Schritte
knirschte nur ganz leicht. Das Doppelperkussionsgewehr Kaliber Zwölf
fest gegen seine Schulter gepresst, schauten seine Augen geradeaus an
den Läufen entlang. Der Schnee tüpfelte weiterhin die kristallklare
Landschaft vor ihm, wie mit Nadelstichen, und legte sich auf die
Schrotflinte und Amos’ schütteres schwarzes Haar. Durch die dünne
Wolle seiner alten Strümpfe schienen seine Fußsohlen vor Kälte zu
brennen, aber er verdrängte es aus seinem Kopf. Horchen. Beobachten.
So wenig zu essen. So
ein langer Winter.
Er blieb ein paar
Schritte vom Fuß der Treppe entfernt stehen und wartete.
Dann: Knirschen, etwas
Gewichtiges auf gefrorenem Schnee und Eis. Schritte in mittlerer
Entfernung, fast direkt vor ihm, irgendwo in dem Bereich. Amos hielt
den Atem an, hielt die Schrotflinte fest im Griff. Er hatte sie seit
Ewigkeiten nicht mehr abgefeuert. War nicht nötig gewesen. Sein
Nacken wurde heiß, und ihm wurde fast schwindlig, als ihm einfiel,
dass er mehr würde tun können, als nur Little Rock für sich und
Nolan zu retten. Er könnte durchaus auch die dürftige Speisekarte
um Wolfsfleisch erweitern.
Amos blinzelte zweimal
kurz hintereinander, und als die nächsten Schritte die mürbe
Oberfläche des Schnees durchbrachen, schwenkte er leicht nach links,
vertraute seinen Ohren und seinen Instinkten und feuerte beide Läufe
gleichzeitig ab. Die Schrotflinte bockte wie eine aufgescheuchte
Stute. Nicht vorbereitet auf den Rückstoß, taumelte er zwei oder
drei Schritte zurück. Der Lichtblitz brannte in seinen Augen, und in
seinen Ohren entwickelte sich vom Lärm des Knalls ein hohes, fast
unmerkliches Pfeifen. Allmählich kam alles zurück: die Dunkelheit,
sein Gleichgewicht, der flüsternde Klang des Schnees. Das Gewehr
senkte sich langsam, fast wie von selbst. Amos starrte in die Nacht.
Dachte daran, dass er nicht die Geistesgegenwart besessen hatte, mehr
Patronen mitzunehmen, als er nach draußen ging. Jetzt war er
praktisch unbewaffnet. Wehrlos.
„Am Besten, du
verschwindest hier“, bellte er. Er wünschte sich eine Reaktion,
ein Heulen oder Winseln oder irgendetwas anderes. Etwas, das ihn
wissen ließ, dass er ein Zeichen gesetzt hatte, dass er vielleicht
einen oder zwei dieser blutrünstigen Bastarde zur Strecke gebracht
hatte. Aber da war nichts. Er atmete tief und laut aus, legte die
Waffe über seinen Unterarm und ging in die Richtung, in die er
geschossen hatte.
Genau jetzt lichteten
sich endlich die Wolken, als der Wind auffrischte, sie nach Süden
trieb und ein Loch im Nachthimmel öffnete, durch das der Mond
scheinen konnte. Silbriges Licht wurde in einem Schauer glitzernder
Punkte vom Schnee zurück geworfen, und auch der dunkelrote Fleck auf
dem Weg, den er und Nolan gegraben hatten, glänzte. Amos entdeckte
ihn und runzelte die Stirn. Der Schnee war bereits dabei, ihn zu
verdecken wie ein verborgenes Geheimnis. Er ging schneller und
beeilte sich, dem Blut zu folgen, solange er noch das Licht des
Mondes hatte.
Little Rock stieß ein
hohes Winseln aus und schnaubte noch ein bisschen mehr. Amos zuckte
ein wenig zusammen, blieb aber konzentriert. Der Weg bog scharf nach
rechts ab, und der weiße Sims, der dort abzweigte, war mit Blut und
Schrot übersät. Er bog um die Ecke und fand endlich seine Beute.
Sie war
bemerkenswerterweise noch am Leben – wenn auch nur so gerade eben.
Ihr Mantel aus Wildschweinleder war geöffnet und breitete sich zu
beiden Seiten von ihr aus wie zwei verkümmerte schwarze Flügel. Die
blaue Bluse darunter, die hochgerutscht war und einen Fingerbreit
fischweißen Bauch freigab, war mit Schrotkugeln übersät, jedes
winzige Loch war schwarz gesäumt, und rot sickerte es aus ihm
heraus. Auch ihre rechte Wange war gesprenkelt, die Haut dort
angeschwollen, wo eine Schrotkugel sie durchschlagen hatte, und dort
aufgerissen, wo ein ganzer Haufen sie getroffen hatte. Hals und Hände
blutverschmiert. Eisblaue Augen, aus denen Tränen strömten. Sie
strampelte schwach mit den Beinen, als ob sie versuchen wollte
wegzulaufen. Ihr Busen hob und senkte sich, ihr weit geöffneter Mund
schnappte nach Luft.
Auch Amos keuchte.
„Nelda“, sagte er.
„Mein Gott, Nelda.“
IV.
Nolan
hielt unablässig Wache, füllte Öl in der Lampe nach, wenn die
Flamme schwächer wurde, und wiederholte jedes Gebet, an das er sich
aus der kurzen Zeit, die er in Arkansas in der Sonntagsschule
verbracht hatte, erinnern konnte. Seine Mutter schien nichts zu
hören, nichts zu sehen und nicht viel zu tun, außer Mitleid
erregend zu stöhnen und Schweiß zu verströmen. Ihr Gesicht war
blass und klamm, die Bandagen, die Amos an Gesicht, Brust und Rippen
angelegt hatte, klebrig und dunkel. Als der Junge seinen Vater
fragte, wie es passiert war, blieb Amos stumm. Und als Nolan wissen
wollte, ob seine Mutter überleben würde oder nicht, konnte der Mann
nur die Augen schließen und versuchen, nicht zu atmen.
Auch er wollte Dinge
wissen. Dinge wie, warum seine Frau zurückgekommen war und wie sie
es durch den Blizzard quer über die gefrorene Prärie bis zu ihrem
einstigen Zuhause geschafft hatte. Er hätte mit der Frage gewartet;
er hätte Monate und Jahre gewartet, um es heraus zu finden. Aber in
der dritten Nacht, nachdem Amos seine Braut, die ihn verlassen hatte,
im Dunkeln mit seinem Perkussionsgewehr Kaliber Zwölf getroffen
hatte, stieß Nelda ein leises, kaum hörbares Maunzen aus und starb.
Nolan weinte einen
ganzen Tag lang lautlos. Amos sagte kein Wort und bewegte kaum einen
Muskel, abgesehen davon, dass er den Quilt seiner toten Frau behutsam
hochzog und über ihr regloses, weißes Gesicht legte. Am Tag darauf
machte er sich daran, die Leiche aus der Holzhütte zu tragen,
nachdem er sie zuvor sorgfältig in den Quilt eingewickelt hatte, der
nun als Leichentuch diente. Nolan half, indem er seine Mutter bei den
Füßen nahm. Gemeinsam brachten sie sie in die Erdhütte, wo sie
würde bleiben müssen, bis der Blizzard nachließ und der Schnee so
weit geschmolzen war, dass sie einen Bestatter und vielleicht einen
Pfarrer rufen konnten. Bis dahin musste sie zusammen mit dem
Rindfleisch warten.
V.
Die
Wölfe kehrten an Heiligabend zurück.
In der Holzhütte
wurden keine Lieder gesungen, keine Geschichten erzählt, und es
wurde nicht gelacht. Die Kohlen glommen wie immer im Herd. Statt Gans
zu essen, kauten Amos und Nolan langsam und leise auf dünn
geschnittenen Rindfleischstreifen, die sparsam zugeteilt waren. Um
kein Öl zu verschwenden, löschte Amos eine Stunde nach Einbruch der
Dunkelheit das Licht, schickte seinen Jungen auf sein Lager und zog
sich auf die Veranda zurück, wo er saß und die blassen, weit
entfernten Sterne betrachtete, die auf ihn herabblinkten.
Gelegentlich wanderte
sein Blick nach Südosten, in Richtung der Erdhütte. Nachts konnte
er sie nicht sehen, aber er wusste genau, wo sie war. Und das wussten
– wie er bald erfuhr – auch die Wölfe.
Sie kamen in einem
Rudel von einem halben Dutzend zurück und streiften schnell und
leise durch die Schneewehen, wobei das Mondlicht gelegentlich ein
Glitzern ihrer geheimnisvollen, starrenden Augen zurück warf. Mit
ihrem dichten grauen und weißen Fell sahen sie eher wie Gespenster
als wie Tiere aus, und ihre Absichten waren klar, als Amos
beobachtete, wie sie wie eine Militäreinheit oder ein Trupp von
Indianern auf Raubzug die Erdhütte umkreisten. Keiner von ihnen gab
einen Laut von sich; wenn sie auftraten, schienen sie nicht einmal
die Oberfläche des Schnees zu durchbrechen. Doch als die Scharniere
der niedrigen Eingangstür zur Erdhütte quietschten, wusste Amos,
dass sie wieder da waren. Er rannte in die Holzhütte, um die
Schrotflinte zu holen, und unterdrückte dabei die aufsteigende
Übelkeit, die mit der unvermeidlichen Erinnerung an das letzte Mal
einherging, als er sie abgefeuert hatte.
„Was ist los, Papa?“
murmelte Nolan von seinem Lager aus.
„Bleib drinnen“,
fauchte Amos. „Ich werde mich darum kümmern.“
Er lud die Patronen,
während er wieder hinaus in den Frost und den Schnee rannte, ließ
den Verschluss zuschnappen und nahm die Erdhütte ins Visier. Jetzt
gaben die Tiere, ermutigt durch ihren Fund, jeglichen Anschein von
Heimlichkeit auf. Sie knurrten sich gegenseitig an und rissen mit
ihren geifernden Kiefern an dem Rindfleisch. Amos konnte auf Anhieb
vier von ihnen zählen, die mit einem riesigen gefrorenen Stück
rosafarbenem Kuhfleisch Tauziehen spielten, während die Hitze ihrer
Schnauzen das Fleisch auftaute, das sie so gierig verschlingen
wollten. Und obwohl dieser Diebstahl seiner Vorräte das Ende von ihm
und seinem Sohn bedeuten würde, waren es die sterblichen Überreste
seiner Frau, die ihm die meisten Sorgen bereiteten. Er würde nicht
zulassen, dass diese Teufel Nelda entweihten, selbst wenn das den
Hungertod bedeuten würde. Er würde jeden einzelnen der Wölfe
abschlachten und ihn roh verspeisen, bis aufs Mark, bevor ihre
schmutzigen Reißzähne auch nur ein Haar auf ihrem Kopf berühren
konnten.
Wo waren also die
anderen beiden Wölfe, fragte sich Amos mit wachsender Sorge.
Mit einem krachenden
Geräusch riss das Rindfleisch auseinander, wodurch zwei Paar Tiere
voneinander weg geschleudert wurden, nur um ihren Kampf um das
Fleisch gleich wieder aufzunehmen. Amos stapfte so schnell er konnte
durch den hüfthohen Schnee und feuerte die Ladungen mit einem
kräftigen Druck auf beide Abzüge auf das Paar ab, das ihm am
Nächsten war. Das Festmahl wurde durch den Knall und das qualvolle
Jaulen der mit Schrot übersäten Wölfe jäh unterbrochen.
Die anderen beiden in
seinem Blickfeld ließen das Fleisch auf ihren jeweiligen Seiten
fallen und wichen knurrend einige Schritte zurück, wobei sich ihre
weißen Lefzen bedrohlich über entblößten Reißzähnen zurück
zogen. Amos verlor keine Zeit beim Nachladen, denn er hatte so viele
Patronen wie möglich in die Tasche seines Mantels gesteckt hatte,
als er sich die Waffe griff. Die Wölfe, die er mit seinen Schüssen
traf, schlugen wild um sich, heulten auf und färbten den Schnee rot.
Amos behielt sie aus dem Augenwinkel im Blick, während er zielte und
auf die beiden übrig gebliebenen schoss. Einer ging tödlich
getroffen zu Boden, während der andere auf eine unheimlich
menschenähnliche Weise kreischte, seine Hinterbeine hochwarf und
dann direkt auf Amos zutrabte. Da er keine Zeit hatte, noch einmal
nachzuladen, drehte er die Schrotflinte um, sodass er sie an den noch
heißen Läufen packte, holte aus und schlug den Schaft mit voller
Wucht auf den Kopf des angreifenden Tieres, wodurch dessen Schädel
zertrümmert wurde und das Tier zu Boden fiel. Kaum war es
zusammengebrochen, schlug er mit dem Schaftende immer wieder auf die
Schädeldecke des Wolfs und zermalmte ihm das Gehirn. Er hörte erst
auf, als hinter ihm ein tiefes, grollendes Knurren erklang, das das
Erscheinen der fehlenden beiden anzeigte.
Sie kamen aus der
Erdhütte, den Rücken gekrümmt wie Katzen, mit aufgestelltem Fell,
ihre langen gelblichen Zähne gefletscht und bereit. Amos machte eine
Drehung, drehte die Schrotflinte mit einer Hand richtig herum und
griff mit der anderen in die Tasche, um weitere Patronen zu holen. Er
schnappte sich eine Handvoll, war aber zu hektisch, um es mit Bedacht
zu tun, und als er sie aus der Tasche zog, fielen ihm alle bis auf
eine sofort vor die Füße. Mit nur einer Patrone bewaffnet, lud er,
klappte den Verschluss zu und feuerte, während der ihm nächste Wolf
die dabei verstrichene Zeit brauchte, um ihn zu erreichen. Der Schuss
aus nächster Nähe traf Hals und Kiefer des Tieres und zerfetzte es
in einem roten Nebel, durch den der zweite Wolf mit nach vorne
ausgestreckten Pfoten und wilder Miene in die Höhe sprang.
Angesichts zweier leerer Kammern erstarrte Amos endlich vor Angst.
Alles in allem hatte er einen gewaltigen Kampf geliefert, aber er
hatte wirklich nicht damit gerechnet, ihn zu verlieren. Ein kleiner
Fehler würde wahrscheinlich nicht nur ihn, sondern auch Nolan das
Leben kosten. Die Wölfe würden schnell mit Amos fertig werden und
mit dem Rindfleisch fort sein, bevor der Junge etwas davon
mitbekommen konnte. Und da Amos in erster Linie nur Neldas Leichnam
beschützen wollte, schmerzte die drohende Niederlage umso mehr. Er
war sich nicht wirklich sicher, dass es ihm etwas ausmachte, ob die
verdammten Bestien ihm das Fleisch von den Knochen nagten oder nicht,
aber nicht ihr. Nicht seiner geliebten Nelda.
„Fahr zur Hölle“,
krächzte er, als die riesigen Pranken mit seiner Brust
zusammenstießen und ihn hart in den Schnee drückten. Einen
Sekundenbruchteil später winselte der Wolf jämmerlich und taumelte
von Amos weg, rollte über den Pulverschnee, bevor er sich wieder
aufrappelte. Das Fell an seiner rechten Flanke war blutverklebt. Das
Biest jaulte halb, halb knurrte es und trabte dann in einem weiten
Halbkreis auf das ihm nächste Stück Rindfleisch zu, biss hinein und
trug es in die Nacht davon.
Amos blinzelte mehrmals
und hielt den Atem an, während er auf den Schmerz wartete, der nie
kam. Er war in Ordnung. Er war in Sicherheit. Mit einem Ruck setzte
er sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Ein Lichtstreifen
erhellte den Bereich, in dem die ersten beiden Wölfe niedergestreckt
worden waren. Einer lag tot da, aber der andere war verschwunden und
hatte eine Spur aus roten Flecken hinterlassen. Also vier tote. Vier
waren tot und zwei hatten überlebt, obwohl er damit rechnete, dass
sie wahrscheinlich irgendwo da draußen auf der gefrorenen Prärie an
ihren Wunden sterben würden. Das hoffte er jedenfalls.
„Papa – Papa, alles
in Ordnung mit dir?“
Der Junge stand in
seinem Morgenmantel und in Stiefeln da und umklammerte mit beiden
Händen den splitterigen Griff einer Heugabel. Die Zinken glühten
förmlich vom Blut und Fell an ihren Spitzen.
Als Amos ihn im
Gegenlicht der Lampe musterte, war er erstaunt. Er grinste, aber als
er seinen Kopf wieder dem Gemetzel im Schnee zuwandte und erkannte,
dass ihre gesamten Rindfleischvorräte weg waren, verschwand das
Lächeln und entwich in seiner Brust die Luft aus seinen Lungen.
„Wir sind ruiniert,
Sohn“, sagte er. „Wir sind erledigt.“
Er schloss die Augen,
stützte sich auf die Knie und spürte zum ersten Mal, seit er in
dieser Nacht nach draußen gegangen war, die Kälte, die seinen
ganzen Körper durchströmte. Warum hatte ihn der verdammte,
idiotische Junge vor der Erlösung bewahrt? Warum musste dieses
Leiden weitergehen?
Amos kämpfte gegen die
Tränen an, die ihm heiß in die Augen stiegen, und stand auf.
„Ich werde mich um
deine Mama kümmern“, sagte er und wich Nolans Blick aus. „Bring’
die Kadaver auf die Veranda. Ich werde sie morgen früh zerlegen.“
VI.
„Es
ist eklig.“
Nolan rümpfte die Nase
und verzog das Gesicht, während er mit offenem Mund seinen Kiefer
bewegte.
„Iss es“, befahl
sein Vater. Auch er kaute auf dem Wildfleisch herum. Der Januar war
halb vorbei, und das Wolfsfleisch wurde immer weniger. Trotzdem
beschwerte sich der Junge immer wieder darüber, dass er es essen
musste.
„Wenn wir doch noch
das Rinderfleisch hätten.“
„Wir haben’s aber
nicht. Und Wölfe fressen verfaultes Zeug, tote Sachen. Deshalb
riechen sie so schlecht.“
„Und schmecken
schlecht“, fügte Nolan hinzu.
„Auch das. Aber das
ist, was wir haben, also hör’ auf zu meckern und iss auf.“
Der Junge zog die
Augenbrauen zusammen und kaute schneller und fester, wobei er sich
sogar während des Schluckens auf den Vorgang konzentrierte. Amos
hatte versucht, das Fleisch auf jede ihm bekannte Weise zuzubereiten,
vom Kochen bis zum Braten in der gusseisernen Pfanne. Er kochte es,
bis es fast keinen Geschmack mehr hatte, was ihnen beiden noch am
Liebsten war, aber der Geschmack war immer noch unangenehm. Es war
zäh und würzig, und es behielt immer einen leichten Todesgeruch.
Aber bald würde es aufgebraucht sein, und Amos ahnte, dass der Tag
nicht mehr lange auf sich warten ließ, an dem er und sein Sohn sich
wünschen würden, sie hätten wenigstens noch einen Bissen von dem
stinkenden Fleisch.
Worüber keiner von
ihnen sprach, war, was die Tiere mit der Leiche in der Erdhütte
angestellt hatten, bevor sie getötet oder verjagt wurden. Von den
Schrotladungen, die sie getötet hatten, bereits zerfetzt – und
trotz der kalten Bedingungen an ihrem provisorischen Ruheplatz mit
der Zeit und durch die Verwesung grau und ledrig geworden –, hatten
die Wölfe, die an sie heran gekommen waren, ihren linken Arm beinahe
aus der Gelenkpfanne gerissen und an einer Seite ihres Körpers so
viel abgebissen, dass die Rippen zu sehen waren. Der Anblick am
nächsten Morgen traf Amos wie ein Hammerschlag auf die Stirn und
versetzte ihn in entsetztes Schweigen, bis Nolan hinter ihm herkroch
und einen wilden Schrei ausstieß. Amos, der wieder halbwegs zu sich
gekommen war, drehte sich um und schob seinen Sohn hinaus ins
Tageslicht. Danach schluchzte der Junge eine Weile, und keiner von
ihnen sprach auch nur ein Wort darüber. Sogar jetzt, am
Abendbrottisch, während ihre Gedanken ganz klar auf diesen
schrecklichen Anblick und darauf fixiert waren, was dies für ihre
Vorräte bedeutete, wurde darüber nichts laut ausgesprochen. Und was
es auch bedeutete, war, dass mindestens einer der Wölfe sich an
Neldas Fleisch zu schaffen gemacht hatte und es einfach keine
Möglichkeit gab, heraus zu finden, ob es einer war, den Amos und
Nolan aufaßen, oder nicht.
Das einzig Gute war,
dass die Biester nicht zurückkehrten. Abend für Abend saß Amos
nach der kargen und unangenehmen Mahlzeit in Mantel und Hut auf der
Veranda und lauschte dem unaufhörlichen Schneefall, aber er hörte
nichts mehr. Nach den ersten paar Nächten nahm er das Gewehr nicht
mehr mit; nur seine Flasche mit dem Roggenwhisky, die fast leer war.
Er teilte ihn ebenso sparsam auf wie das Wolfsfleisch, aber nur
praktisch völlige Abstinenz würde verhindern, dass beides
vollständig aufgebraucht sein würde, bevor der Winter vorüber war.
Dieser Tag kam, als der
Schneefall endlich nachließ, eine Woche vor Monatsende, und einen
klaren, hellen Himmel freigab, der die wachsende Panik und den Hunger
beleuchtete, die Amos und seinen Sohn quälten. Nolan schlief bis
Mittag, woraufhin er aufstand, zum Tisch ging, sich setzte und mit
leerem Blick auf das grob behauene Holz starrte, das weder von einem
Teller noch einer Schüssel oder einer Tasse belastet wurde. Amos
hingegen stand bei Sonnenaufgang auf und verbrachte den ganzen Morgen
damit, durch den hüfthohen Schnee zu stapfen und nach Anzeichen von
Schmelzwasser oder Spuren auf der fernen, unsichtbaren Straße zu
suchen. Irgendetwas, was auf ein Ende der Isolation hinweisen könnte.
Er fand nichts. Am Nachmittag wiederholte er den Vorgang, diesmal
jedoch mit dem Zwölfer-Kaliber im Schlepptau. Alles, was sich
bewegte, war dazu geeignet, abgeschossen zu werden, aber nichts
bewegte sich außer einer Wolkenbank, die riesig und unaufhaltsam von
Norden heranzog. Ein weiterer Schneesturm war im Anmarsch.
Die Dämmerung brach
früh herein, wie sie es im tiefsten Winter immer tat. Nolan blieb am
Tisch sitzen und saß still und schweigend in der zunehmenden
Dunkelheit, während die Temperatur draußen erneut sank, wo Amos auf
dem Weg stand, der im Begriff war zu verschwinden. Er stützte sich
auf die Schrotflinte wie auf einen Wanderstock und starrte mit
unruhigem Ziel auf die Erdhütte.
VII.
Es
war schlimmer als das Wolfsfleisch, obwohl er nicht mit Gewissheit
sagen konnte, ob nicht die überwältigende Trauer und Schuldgefühle
etwas damit zu tun hatten. Tränen liefen seine Wangen hinab,
hinterließen Furchen in dem Schmutz, der sich auf seinem Gesicht
angesammelt hatte, weil er sich nicht gewaschen hatte, und er
stöhnte, als er das erste Mal schluckte. Das kleine Feuer, das er
entzündet hatte, füllte die Erdhütte mit grauschwarzem Rauch, der
durch den offenen Eingang nach draußen zog und den üblen Geruch
versengtem, verfaultem Fleisch in den fallenden Schnee hinaus trug.
Zusammengekauert in der stinkenden Hitze konnte er nach einer Weile
kaum noch atmen,. Er verbrannte sich die Fingerspitzen, als er die
Stücke aus den Flammen nahm, um sie in seinen Mund zu stecken.
Unerträglicherweise hinterging ihn sein eigener Körper: Sein Magen
knurrte, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Die wackelige
Kraftlosigkeit, die von tagelangem anschwellenden Hunger herrührte,
schien sich sofort zu legen.
Er aß, bis von Neldas
rechtem Arm nur noch die Knochen und zähen Sehnen übrig waren. Als
er fertig war, als er sich sattgegessen hatte, schaufelte er Erde
über das kleine Feuer, kroch auf Händen und Knien wieder hinaus und
stopfte sich handvollweise Schnee in den Mund. Er schmolz sofort und
floss kalt und sauber seine Kehle hinab, aber er wusste, dass aller
Schnee in Colorado nicht ungeschehen machen konnte, was geschehen
war.
VIII.
Obwohl
er sich zunächst sicher war, dass es nur ein Traum war, ließ der
Schrei einer Elster, der von einer anderen Elster beantwortet wurde,
Amos kerzengerade aufspringen und nach der Waffe greifen. Er spürte
eine schleimige Schicht auf Gesicht und Hals, weil er im Schlaf stark
geschwitzt hatte, und sein Kopf schien sich vor Schwäche und
Erschöpfung zu drehen. Seine Hand griff in die Luft, während die
andere hastig den Schlaf aus seinen Augen rieb, damit er sehen
konnte, wo er die Schrotflinte zuletzt hingelegt hatte. Als die
Verschwommenheit aus seinem Blick verschwunden war, konnte er
ziemlich deutlich erkennen, dass die Waffe überhaupt nicht da war.
Amos beeilte sich, in
seine Stiefel zu schlüpfen und nach draußen zu gehen. Auf der Suche
nach den Vögeln warf er wilde Blicke in den strahlend weißen
Himmel. Er entdeckte sie im Westen, wo sie Kreise zogen und sich
gegenseitig ankrächzten, insgesamt drei an der Zahl. Winzige,
kohlschwarze Flecken am Himmel, die frei umeinander schwirrten, als
würden sie spielen.
„Meine Flinte“,
murmelte er mit klappernden Zähnen. „Wo zum Teufel ist meine
gottverdammte Flinte?“
Er biss sich auf die
Unterlippe und zitterte. Eine dumpfe Hitze stieg aus seinem Innersten
auf und breitete sich durch seine Gliedmaßen, seine Finger und Zehen
aus. Der Junge, dachte er. Der Junge hat sie genommen.
„Nolan!“ brüllte
Amos und drehte sich um sich selbst, um die grenzenlose Blässe der
toten Welt um ihn herum abzusuchen. „Deine Augen sollen verdammt
sein, Junge – Nolan!“
Seine Stimme schallte über das
gefrorene Tiefland und hallte in Wellen wider, die die Elstern
erreichten und sie zum Schweigen und zur Flucht veranlassten. Im Nu
waren sie verschwunden, und der Himmel war wieder leer. Amos starrte
wütend in die hohle Luft, in der sie kurz zuvor noch herumgetollt
waren, und er wimmerte.
„Die vor Hunger und Mangel
erschöpft sind“ (1), flüsterte er. Die Worte der
Heiligen Schrift kamen weiß über seine Lippen und stiegen zum
leeren Firmament auf, von dem ihm kein Vogel geliefert wurde, wo kein
Gott wachte, während seine Schöpfung litt und hungerte. „Die
das dürre Land abnagen, die Wüste und Einöde…“ (2)
Sein Blick wanderte vom Schnee zum
Horizont, der sich unendlich in alle Richtungen erstreckte, und er
fragte sich, wie weit er kommen würde, wenn er jetzt losginge, wie
lange es dauern würde, bis er zusammenbräche, und wie lange, bis
die Frühlingswärme den Winter verdrängen und seine Knochen dem
nächsten Menschen offenbaren würde, der vorbeikam. Der Gedanke
zauberte ihm ein perverses Lächeln ins Gesicht, obwohl er sich
überhaupt nicht sicher war, warum. Irgendetwas mit Erlösung,
vermutete er. Entkommen.
„Hunger und Mangel“, sagte Amos.
„Hunger und Mangel.“
Er schluckte trocken und wollte gerade
wieder in die Holzhütte gehen, als er aus dem Augenwinkel die
Erdhütte und die dünne graue Säule erblickte, die aus dem Eingang
wogte, halb verdeckt vom Schnee der vergangenen Nacht. Er hielt
verwirrt und etwas ängstlich inne und bemühte sich in seinem
verwirrten Kopf, es zu verstehen. Ein Feuer. Aber wie? Und warum?
„Nolan?“
Der Wind trieb den Rauch Richtung
Süden, auf Amos zu. Der Geruch brennenden Holzes stieg ihm in die
Nase, und noch etwas anderes. Etwas unbestimmt Widerwärtiges.
Er schnupperte in der Luft und würgte
ein wenig. Es roch ein bisschen wie das Wolfsfleisch – verfault,
ungenießbar –, aber gleichzeitig auch anders. Sein Magen krampfte
sich zusammen, und er gab ein Grunzen von sich, weil er keine
Kontrolle über seinen eigenen Körper hatte. Mit einem tiefen
Atemzug reckte er den Hals, um einen letzten Blick in den Himmel zu
werfen und zu sehen, ob die Elstern vielleicht zurückgekommen waren.
Das waren sie nicht. Amos stieß einen Seufzer aus und machte sich
auf den Weg zur Erdhütte.
Der Rauch wurde jetzt dichter und
schwärzer. Es hatte etwas Fettiges an sich, das an Amos’ Haut und
seinem Hirschledermantel zu kleben schien. Auch der Geruch war
schlimmer: widerlich-süß, mit einem unverkennbaren Unterton von
Fäulnis, wie der Geruch verwesender Kadaver, die nach einer
sommerlichen Büffeljagd über die Ebene verstreut lagen. Amos hielt
sich die Nase zu und duckte sich in die Erdhütte. Die Luft brannte
in seinen Augen, so dass er sie zu Schlitzen zusammenkneifen musste.
Er konnte die schattenhafte Gestalt, die wie ein Affe über den
aufsteigenden Flammen hockte, kaum erkennen, bis der Feuerschein ihr
Gesicht erhellte, die fettige Haut und den Mund, von dem Fett
tropfte. Der Junge weinte und zitterte am ganzen Körper, während er
schluchzte, während seine Zunge sich über seine Lippen streckte, um
einen grauen Klumpen in seinen Mund zu ziehen. Neben ihm am Boden lag
die Schrotflinte. Hinter ihm die abscheulich verstümmelten Überreste
von Nelda. Von Amos’ Frau. Von Nolans Mutter.
„Nein“, keuchte Amos, und seine
Kehle brannte. „Jesus Christus, nein.“
Nolan hob sein Gesicht, und sein
glasiger Blick irrte durch die Dunkelheit, die das Feuer umhüllte,
bis er sich auf seinen Vater konzentrierte. Als er Amos erkannte,
sackte er zusammen, kaute schneller und rückte näher an die Waffe
heran.
Wieder kamen Amos Worte der Heiligen
Schrift in den Sinn – dass ihr sollt eurer Söhne und Töchter
Fleisch essen (3) – und er sagte laut: „Und was
ist mit eurer Mütter Fleisch?“
Und er lachte.
Und Nolan ergriff die
Doppelperkussionschrotflinte, die sonst vielleicht Elstern vom toten
Winterhimmel herunter geholt hätte, und schoss seinem Vater aus
knapp einem Meter Entfernung in die Brust.
„Sie hat uns wegen dir verlassen“,
flüsterte der Junge, kaum hörbar über dem Knistern der Flammen,
nachdem Amos auf dem Boden zusammengebrochen war und der Lärm des
Knalls in seinen Ohren verstummt war. „Mich wird sie niemals
verlassen, Papa. Aber Mama hat nie etwas von dir gewollt.“
IX.
Er
wurde im Frühling gehenkt, in Denver, an einem regnerischen
Nachmittag mit weniger Zuschauern als allgemein erwartet. Arkansas
Aubrey war derjenige, der ihn zuerst gefunden hatte, gerade einmal
eineinhalb Wochen vorher, vor dem Marshal und Deputy Jensen und den
Morrell-Brüdern, die sich als ungebetene Gäste an sie angehängt
hatten. Als Aubrey auf den Jungen traf, schnitzte dieser auf der
Veranda an einem Holzstück, während der letzte Schnee auf dem
gelben Kurzgras zu braunem Matsch schmolz. Er war gekommen, um zu
fragen, ob er wieder anheuern könnte, bis er sich auf den Rückweg
nach Texas machen konnte, aber seine Zuversicht erhielt einen
Dämpfer, als er erkannte, wie armselig das Grundstück aussah und
dass weit und breit kein Vieh zu sehen war. Die Holzhütte sah nicht
viel besser aus: Das Dach hing in der Mitte durch, und der Schnee
hatte auf der ganzen Vorderseite Schmutz und Schäden hinterlassen.
An der Dachtraufe waren grauweiße Kaninchen aufgehängt, deren Fell
dunkel und blutverschmiert war und die darauf warteten, zerlegt und
gekocht zu werden. Die Schrotflinte lehnte bequem am Türpfosten. Sie
unterhielten sich eine Weile, doch der Junge war kurz angebunden und
schaute dem alten Farmhelfer kein einziges Mal in die Augen. Als
Aubrey fragte, ob er hineingehen und mit Amos sprechen dürfte,
machte Nolan lediglich eine Kopfbewegung, als wollte er sagen:
„Meinetwegen.“
Die Knochen waren auf der Pritsche an
der Ostseite der Holzhütte drapiert, mit Spuren von Messerschnitten
und vom Feuer geschwärzt. Sie lagen auf dem Quilt, den Nelda
gefertigt hatte und dessen Farben zu verblassen begannen. Sie waren
sorgfältig arrangiert, um einen gewissen Anschein von ihrer
ursprünglichen Anordnung zu erwecken, die nicht präzise war, die
dabei verfolgte Absicht aber deutlich genug erkennen ließ. Zwei
nahezu vollständige Skelette, Seite an Seite, von allem befreit, was
nicht Knochen war. Als Arkansas Aubrey das grausige Bild sah, stieß
er einen hohen Schrei aus und stolperte schwer atmend und mit weit
aufgerissenen Augen zurück zur Veranda.
Nolan schüttelte nur
den Kopf, ohne die Schnitzarbeit zu unterbrechen, die er mit dem
einzigen Messer ausführte, das er je benutzt hatte, und sagte mit
gewohnter Gelassenheit: „Wölfe.“
©
für die Übersetzung bei Reinhard Windeler
Fußnoten:
(1)
Buch Hiob, Kapitel 30, Vers 3
(2)
ebenda
(3)
3. Buch Mose, Kapitel 26, Vers 29