(Orig.: „Wolves“, 2018; übersetzt von Reinhard Windeler)
Ed Kurtz ist das von seinem wahren Namen abgeleitete Pseudonym eines Autors, der aus Arkansas stammt (Jahrgang 1977) und in Connecticut lebt. Er debütierte 2011 mit dem Roman „Bleed“ (dt.: Ausgeblutet) und hat sich im Horror-Genre etabliert, schreibt aber auch Western-Romane, darunter die originelle Boon-Trilogie (2020 – 2022), die leider bisher nicht auf Deutsch erschienen ist.Die folgende Kurzgeschichte, die in einem gnadenlosen Colorado-Winter spielt, ist – diese Warnung sei voraus geschickt – nichts für Zartbesaitete. Sie ist in der Anthologie „Blood They Brought and Other Stories“ enthalten und wurde vier Jahre später auch in der Anthologie „Horseblood“ veröffentlicht.
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Nelda machte sich im November davon, kurz vor den ersten Schneefällen, ungefähr sobald ihr klar wurde, dass die Ernte keinen Ertrag bringen würde und dass in der Holzhütte, die Amos für sie gebaut hatte, nie ein Penny übrig sein würde. Zu diesem Zeitpunkt waren die beiden Männer, die Amos eingestellt hatte, Arkansas Aubrey und Little Nick Sanchez, bereits nicht mehr da. Die beiden hatten auf einen Aufstieg gehofft, als der Homestead Act erlassen wurde, wurden aber enttäuscht und verschwanden, als sie erfuhren, dass Amos die Bestimmungen des Gesetzes niemals würde einhalten können, um einen ganzen Viertelabschnitt zu behalten. Er war drauf und dran, das Land zu verlieren, für das er so hart gearbeitet hatte, um es fruchtbar zu machen. So verlor er seine Frau, seine Arbeiter, seine Ernte und mehr als die Hälfte des halben Dutzends magerer Kühe, die er auf den Weiden frei grasen ließ, durch Hunger, Krankheiten und Arapaho-Überfälle. Alles, was Amos jetzt noch geblieben war, war die Holzhütte, die er mit Nolan gebaut hatte, seinem Sohn mit Nelda, die ihm auch gehört hatte.
Aber der Schnee kam, und aus Denver hieß es, der Winter würde hart werden. Die Vorräte waren knapp und die Aussichten düster. Amos schlachtete die beiden Kühe, die er auf der Weide finden konnte, und hängte ihre mageren Kadaver in die Erdhütte, wo er einen Teil des Fleisches salzte und den Rest in den immer kälteren Nächten und Tagen auskühlen ließ. Er teilte das Fleisch zwischen sich und Nolan auf, ergänzte es mit klumpigen Kuchen aus minderwertigem Mehl und dünnem, mit Gerste verschnittenem Kaffee, der kaum nach mehr als schmutzigem Wasser schmeckte. Und als in der ersten Dezemberwoche am späten Abend die ersten Flocken träge aus den sich ballenden Wolken herabfielen, wusste Amos ohne jeden Zweifel, dass sie nicht genug haben würden. Er entkorkte eine Flasche Roggenwhisky, die er nur selten anrührte, setzte sich auf die vordere Veranda der Holzhütte, die das Schmuckstück des Hauses war, und während er am Flaschenhals nippte, sah er zu, wie sein Ruin sanft und wunderschön aus dem sich verdunkelnden Himmel herab schwebte.
Am Morgen war das Kurzgras mit strahlendem Weiß bedeckt, unberührt und unverdorben, und es fiel immer noch Schnee. Er kam jetzt in dicken, klobigen Flocken, hart und schwer wie ein starker Platzregen im Frühling. Amos erwachte auf der Veranda, fast steifgefroren unter einem Quilt, den Nelda damals in Arkansas gefertigt hatte, vor Colorado und vor dem Krieg, als ihr Bauch mit Nolan immer dicker wurde. Sie hatte nicht viel mitgenommen, als sie wegging.
„Um Himmels willen, Junge“, krächzte Amos, und die Worte wurden von weißen Dampfschwaden begleitet. „Verbrauch’ nicht alle Lebensmittel. Der Winter hat gerade erst angefangen.“
„Du warst die ganze Nacht auf der Veranda“, sagte der Junge, ohne den Blick von seiner Arbeit abzuwenden. „Du bist da draußen fast erfroren, Papa. Du brauchst etwas Heißes, um dich innen aufzuwärmen.“
„Von jetzt an“, sagte er und schlurfte zum Tisch, „fragst du um Erlaubnis, bevor du die Rationen anrührst, hörst du?“
II.
Zwei Wochen vor Weihnachten kam Nolan stampfend und keuchend durch den Schnee zurück zur Holzhütte. Mit einer Hand hatte er eine Holzschaufel am Stiel gepackt. Amos kam zur Tür und sah zu, wie er durch den Passweg näher kam, den sie beide durch die hüfthohen Schneewehen gegraben hatten. Das Gesicht des Jungen war knallrosa und glitzerte vor Eis.
„Die Andersons sind weg“, rief Nolan im Gehen. „Ihre Hütte ist völlig leer, bis auf ein paar Stühle und einen Hundekadaver. Ich schätze, der Hund ist zum Sterben da hingegangen, wo es nicht so kalt war.“
„Wahrscheinlich ein Wolf“, sagte Amos mit einem Kopfschütteln.
„Er war ganz verwest. Schwer zu sagen.“
„Hab’ vor ein paar Nächten ein Heulen gehört. Die sind besser für diesen Scheiß gewappnet als wir.“
„Nichts zu fressen für die“, vermutete der Junge. „Ich habe da draußen nichts gesehen, Papa. Nicht einmal einen Vogel. Und schon gar keine Kühe.“
„Wenn noch eine von denen übrig war, ist sie jetzt tot. Gefressen oder unter all dem Schnee und Eis begraben. Verdammt. Gottverdammt.“
„Papa –“
„Nun mach’ schon – komm’ rein.“
Mit einem langen Seufzer lehnte der Junge die Schaufel an die Vorderseite der Holzhütte und folgte seinem Vater ins vergleichsweise Warme. Er bemerkte sofort, dass die Kohlen im Herd kaum noch glommen, aber es war trotzdem verdammt viel besser als draußen. Amos ließ sich auf einen Stuhl nieder, der eine gerade Rückenlehne hatte und direkt neben dem eisernen schwarzen Herd stand, und schloss seine Augen.
„Was gibt’s denn heute zum Abendessen?“ fragte Nolan verlegen.
„Kein Abendessen“, bellte sein Vater und rümpfte die Nase. „Vielleicht morgen.“
III.
Er lauschte seinem eigenen Atem und beobachtete, wie er in Schwaden ausströmte. Er wartete darauf, dass sich die Wolken verzogen, damit der Mond schien, aber das tat er nicht. Falls die Wölfe jetzt in der Nähe waren, pirschten sie sich lautlos an. Vielleicht teilten sie sich auf: einige zum Pferd, einige zum Rindfleisch in der Erdhütte. Und einer zu Amos.
Sachte stieg er die drei vereisten Stufen von der Veranda hinunter in den Schnee, der festgetrampelt auf dem Erdboden unter ihm lag. Jeder seiner Schritte knirschte nur ganz leicht. Das Doppelperkussionsgewehr Kaliber Zwölf fest gegen seine Schulter gepresst, schauten seine Augen geradeaus an den Läufen entlang. Der Schnee tüpfelte weiterhin die kristallklare Landschaft vor ihm, wie mit Nadelstichen, und legte sich auf die Schrotflinte und Amos’ schütteres schwarzes Haar. Durch die dünne Wolle seiner alten Strümpfe schienen seine Fußsohlen vor Kälte zu brennen, aber er verdrängte es aus seinem Kopf. Horchen. Beobachten.
So wenig zu essen. So ein langer Winter.
Er blieb ein paar Schritte vom Fuß der Treppe entfernt stehen und wartete.
Dann: Knirschen, etwas Gewichtiges auf gefrorenem Schnee und Eis. Schritte in mittlerer Entfernung, fast direkt vor ihm, irgendwo in dem Bereich. Amos hielt den Atem an, hielt die Schrotflinte fest im Griff. Er hatte sie seit Ewigkeiten nicht mehr abgefeuert. War nicht nötig gewesen. Sein Nacken wurde heiß, und ihm wurde fast schwindlig, als ihm einfiel, dass er mehr würde tun können, als nur Little Rock für sich und Nolan zu retten. Er könnte durchaus auch die dürftige Speisekarte um Wolfsfleisch erweitern.
Amos blinzelte zweimal kurz hintereinander, und als die nächsten Schritte die mürbe Oberfläche des Schnees durchbrachen, schwenkte er leicht nach links, vertraute seinen Ohren und seinen Instinkten und feuerte beide Läufe gleichzeitig ab. Die Schrotflinte bockte wie eine aufgescheuchte Stute. Nicht vorbereitet auf den Rückstoß, taumelte er zwei oder drei Schritte zurück. Der Lichtblitz brannte in seinen Augen, und in seinen Ohren entwickelte sich vom Lärm des Knalls ein hohes, fast unmerkliches Pfeifen. Allmählich kam alles zurück: die Dunkelheit, sein Gleichgewicht, der flüsternde Klang des Schnees. Das Gewehr senkte sich langsam, fast wie von selbst. Amos starrte in die Nacht. Dachte daran, dass er nicht die Geistesgegenwart besessen hatte, mehr Patronen mitzunehmen, als er nach draußen ging. Jetzt war er praktisch unbewaffnet. Wehrlos.
„Am Besten, du verschwindest hier“, bellte er. Er wünschte sich eine Reaktion, ein Heulen oder Winseln oder irgendetwas anderes. Etwas, das ihn wissen ließ, dass er ein Zeichen gesetzt hatte, dass er vielleicht einen oder zwei dieser blutrünstigen Bastarde zur Strecke gebracht hatte. Aber da war nichts. Er atmete tief und laut aus, legte die Waffe über seinen Unterarm und ging in die Richtung, in die er geschossen hatte.
Genau jetzt lichteten sich endlich die Wolken, als der Wind auffrischte, sie nach Süden trieb und ein Loch im Nachthimmel öffnete, durch das der Mond scheinen konnte. Silbriges Licht wurde in einem Schauer glitzernder Punkte vom Schnee zurück geworfen, und auch der dunkelrote Fleck auf dem Weg, den er und Nolan gegraben hatten, glänzte. Amos entdeckte ihn und runzelte die Stirn. Der Schnee war bereits dabei, ihn zu verdecken wie ein verborgenes Geheimnis. Er ging schneller und beeilte sich, dem Blut zu folgen, solange er noch das Licht des Mondes hatte.
Little Rock stieß ein hohes Winseln aus und schnaubte noch ein bisschen mehr. Amos zuckte ein wenig zusammen, blieb aber konzentriert. Der Weg bog scharf nach rechts ab, und der weiße Sims, der dort abzweigte, war mit Blut und Schrot übersät. Er bog um die Ecke und fand endlich seine Beute.
Sie war bemerkenswerterweise noch am Leben – wenn auch nur so gerade eben. Ihr Mantel aus Wildschweinleder war geöffnet und breitete sich zu beiden Seiten von ihr aus wie zwei verkümmerte schwarze Flügel. Die blaue Bluse darunter, die hochgerutscht war und einen Fingerbreit fischweißen Bauch freigab, war mit Schrotkugeln übersät, jedes winzige Loch war schwarz gesäumt, und rot sickerte es aus ihm heraus. Auch ihre rechte Wange war gesprenkelt, die Haut dort angeschwollen, wo eine Schrotkugel sie durchschlagen hatte, und dort aufgerissen, wo ein ganzer Haufen sie getroffen hatte. Hals und Hände blutverschmiert. Eisblaue Augen, aus denen Tränen strömten. Sie strampelte schwach mit den Beinen, als ob sie versuchen wollte wegzulaufen. Ihr Busen hob und senkte sich, ihr weit geöffneter Mund schnappte nach Luft.
Auch Amos keuchte.
„Nelda“, sagte er. „Mein Gott, Nelda.“
IV.
Nolan hielt unablässig Wache, füllte Öl in der Lampe nach, wenn die Flamme schwächer wurde, und wiederholte jedes Gebet, an das er sich aus der kurzen Zeit, die er in Arkansas in der Sonntagsschule verbracht hatte, erinnern konnte. Seine Mutter schien nichts zu hören, nichts zu sehen und nicht viel zu tun, außer Mitleid erregend zu stöhnen und Schweiß zu verströmen. Ihr Gesicht war blass und klamm, die Bandagen, die Amos an Gesicht, Brust und Rippen angelegt hatte, klebrig und dunkel. Als der Junge seinen Vater fragte, wie es passiert war, blieb Amos stumm. Und als Nolan wissen wollte, ob seine Mutter überleben würde oder nicht, konnte der Mann nur die Augen schließen und versuchen, nicht zu atmen.
Auch er wollte Dinge wissen. Dinge wie, warum seine Frau zurückgekommen war und wie sie es durch den Blizzard quer über die gefrorene Prärie bis zu ihrem einstigen Zuhause geschafft hatte. Er hätte mit der Frage gewartet; er hätte Monate und Jahre gewartet, um es heraus zu finden. Aber in der dritten Nacht, nachdem Amos seine Braut, die ihn verlassen hatte, im Dunkeln mit seinem Perkussionsgewehr Kaliber Zwölf getroffen hatte, stieß Nelda ein leises, kaum hörbares Maunzen aus und starb.
Nolan weinte einen ganzen Tag lang lautlos. Amos sagte kein Wort und bewegte kaum einen Muskel, abgesehen davon, dass er den Quilt seiner toten Frau behutsam hochzog und über ihr regloses, weißes Gesicht legte. Am Tag darauf machte er sich daran, die Leiche aus der Holzhütte zu tragen, nachdem er sie zuvor sorgfältig in den Quilt eingewickelt hatte, der nun als Leichentuch diente. Nolan half, indem er seine Mutter bei den Füßen nahm. Gemeinsam brachten sie sie in die Erdhütte, wo sie würde bleiben müssen, bis der Blizzard nachließ und der Schnee so weit geschmolzen war, dass sie einen Bestatter und vielleicht einen Pfarrer rufen konnten. Bis dahin musste sie zusammen mit dem Rindfleisch warten.
V.
Die Wölfe kehrten an Heiligabend zurück.
In der Holzhütte wurden keine Lieder gesungen, keine Geschichten erzählt, und es wurde nicht gelacht. Die Kohlen glommen wie immer im Herd. Statt Gans zu essen, kauten Amos und Nolan langsam und leise auf dünn geschnittenen Rindfleischstreifen, die sparsam zugeteilt waren. Um kein Öl zu verschwenden, löschte Amos eine Stunde nach Einbruch der Dunkelheit das Licht, schickte seinen Jungen auf sein Lager und zog sich auf die Veranda zurück, wo er saß und die blassen, weit entfernten Sterne betrachtete, die auf ihn herabblinkten.
Gelegentlich wanderte sein Blick nach Südosten, in Richtung der Erdhütte. Nachts konnte er sie nicht sehen, aber er wusste genau, wo sie war. Und das wussten – wie er bald erfuhr – auch die Wölfe.
Sie kamen in einem Rudel von einem halben Dutzend zurück und streiften schnell und leise durch die Schneewehen, wobei das Mondlicht gelegentlich ein Glitzern ihrer geheimnisvollen, starrenden Augen zurück warf. Mit ihrem dichten grauen und weißen Fell sahen sie eher wie Gespenster als wie Tiere aus, und ihre Absichten waren klar, als Amos beobachtete, wie sie wie eine Militäreinheit oder ein Trupp von Indianern auf Raubzug die Erdhütte umkreisten. Keiner von ihnen gab einen Laut von sich; wenn sie auftraten, schienen sie nicht einmal die Oberfläche des Schnees zu durchbrechen. Doch als die Scharniere der niedrigen Eingangstür zur Erdhütte quietschten, wusste Amos, dass sie wieder da waren. Er rannte in die Holzhütte, um die Schrotflinte zu holen, und unterdrückte dabei die aufsteigende Übelkeit, die mit der unvermeidlichen Erinnerung an das letzte Mal einherging, als er sie abgefeuert hatte.
„Was ist los, Papa?“ murmelte Nolan von seinem Lager aus.
„Bleib drinnen“, fauchte Amos. „Ich werde mich darum kümmern.“
Er lud die Patronen, während er wieder hinaus in den Frost und den Schnee rannte, ließ den Verschluss zuschnappen und nahm die Erdhütte ins Visier. Jetzt gaben die Tiere, ermutigt durch ihren Fund, jeglichen Anschein von Heimlichkeit auf. Sie knurrten sich gegenseitig an und rissen mit ihren geifernden Kiefern an dem Rindfleisch. Amos konnte auf Anhieb vier von ihnen zählen, die mit einem riesigen gefrorenen Stück rosafarbenem Kuhfleisch Tauziehen spielten, während die Hitze ihrer Schnauzen das Fleisch auftaute, das sie so gierig verschlingen wollten. Und obwohl dieser Diebstahl seiner Vorräte das Ende von ihm und seinem Sohn bedeuten würde, waren es die sterblichen Überreste seiner Frau, die ihm die meisten Sorgen bereiteten. Er würde nicht zulassen, dass diese Teufel Nelda entweihten, selbst wenn das den Hungertod bedeuten würde. Er würde jeden einzelnen der Wölfe abschlachten und ihn roh verspeisen, bis aufs Mark, bevor ihre schmutzigen Reißzähne auch nur ein Haar auf ihrem Kopf berühren konnten.
Wo waren also die anderen beiden Wölfe, fragte sich Amos mit wachsender Sorge.
Mit einem krachenden Geräusch riss das Rindfleisch auseinander, wodurch zwei Paar Tiere voneinander weg geschleudert wurden, nur um ihren Kampf um das Fleisch gleich wieder aufzunehmen. Amos stapfte so schnell er konnte durch den hüfthohen Schnee und feuerte die Ladungen mit einem kräftigen Druck auf beide Abzüge auf das Paar ab, das ihm am Nächsten war. Das Festmahl wurde durch den Knall und das qualvolle Jaulen der mit Schrot übersäten Wölfe jäh unterbrochen.
Sie kamen aus der Erdhütte, den Rücken gekrümmt wie Katzen, mit aufgestelltem Fell, ihre langen gelblichen Zähne gefletscht und bereit. Amos machte eine Drehung, drehte die Schrotflinte mit einer Hand richtig herum und griff mit der anderen in die Tasche, um weitere Patronen zu holen. Er schnappte sich eine Handvoll, war aber zu hektisch, um es mit Bedacht zu tun, und als er sie aus der Tasche zog, fielen ihm alle bis auf eine sofort vor die Füße. Mit nur einer Patrone bewaffnet, lud er, klappte den Verschluss zu und feuerte, während der ihm nächste Wolf die dabei verstrichene Zeit brauchte, um ihn zu erreichen. Der Schuss aus nächster Nähe traf Hals und Kiefer des Tieres und zerfetzte es in einem roten Nebel, durch den der zweite Wolf mit nach vorne ausgestreckten Pfoten und wilder Miene in die Höhe sprang. Angesichts zweier leerer Kammern erstarrte Amos endlich vor Angst. Alles in allem hatte er einen gewaltigen Kampf geliefert, aber er hatte wirklich nicht damit gerechnet, ihn zu verlieren. Ein kleiner Fehler würde wahrscheinlich nicht nur ihn, sondern auch Nolan das Leben kosten. Die Wölfe würden schnell mit Amos fertig werden und mit dem Rindfleisch fort sein, bevor der Junge etwas davon mitbekommen konnte. Und da Amos in erster Linie nur Neldas Leichnam beschützen wollte, schmerzte die drohende Niederlage umso mehr. Er war sich nicht wirklich sicher, dass es ihm etwas ausmachte, ob die verdammten Bestien ihm das Fleisch von den Knochen nagten oder nicht, aber nicht ihr. Nicht seiner geliebten Nelda.
„Fahr zur Hölle“, krächzte er, als die riesigen Pranken mit seiner Brust zusammenstießen und ihn hart in den Schnee drückten. Einen Sekundenbruchteil später winselte der Wolf jämmerlich und taumelte von Amos weg, rollte über den Pulverschnee, bevor er sich wieder aufrappelte. Das Fell an seiner rechten Flanke war blutverklebt. Das Biest jaulte halb, halb knurrte es und trabte dann in einem weiten Halbkreis auf das ihm nächste Stück Rindfleisch zu, biss hinein und trug es in die Nacht davon.
Amos blinzelte mehrmals und hielt den Atem an, während er auf den Schmerz wartete, der nie kam. Er war in Ordnung. Er war in Sicherheit. Mit einem Ruck setzte er sich auf und blinzelte in die Dunkelheit. Ein Lichtstreifen erhellte den Bereich, in dem die ersten beiden Wölfe niedergestreckt worden waren. Einer lag tot da, aber der andere war verschwunden und hatte eine Spur aus roten Flecken hinterlassen. Also vier tote. Vier waren tot und zwei hatten überlebt, obwohl er damit rechnete, dass sie wahrscheinlich irgendwo da draußen auf der gefrorenen Prärie an ihren Wunden sterben würden. Das hoffte er jedenfalls.
„Papa – Papa, alles in Ordnung mit dir?“
Der Junge stand in seinem Morgenmantel und in Stiefeln da und umklammerte mit beiden Händen den splitterigen Griff einer Heugabel. Die Zinken glühten förmlich vom Blut und Fell an ihren Spitzen.
Als Amos ihn im Gegenlicht der Lampe musterte, war er erstaunt. Er grinste, aber als er seinen Kopf wieder dem Gemetzel im Schnee zuwandte und erkannte, dass ihre gesamten Rindfleischvorräte weg waren, verschwand das Lächeln und entwich in seiner Brust die Luft aus seinen Lungen.
„Wir sind ruiniert, Sohn“, sagte er. „Wir sind erledigt.“
Er schloss die Augen, stützte sich auf die Knie und spürte zum ersten Mal, seit er in dieser Nacht nach draußen gegangen war, die Kälte, die seinen ganzen Körper durchströmte. Warum hatte ihn der verdammte, idiotische Junge vor der Erlösung bewahrt? Warum musste dieses Leiden weitergehen?
Amos kämpfte gegen die Tränen an, die ihm heiß in die Augen stiegen, und stand auf.
„Ich werde mich um deine Mama kümmern“, sagte er und wich Nolans Blick aus. „Bring’ die Kadaver auf die Veranda. Ich werde sie morgen früh zerlegen.“
VI.
„Es ist eklig.“
Nolan rümpfte die Nase und verzog das Gesicht, während er mit offenem Mund seinen Kiefer bewegte.
„Iss es“, befahl sein Vater. Auch er kaute auf dem Wildfleisch herum. Der Januar war halb vorbei, und das Wolfsfleisch wurde immer weniger. Trotzdem beschwerte sich der Junge immer wieder darüber, dass er es essen musste.
„Wenn wir doch noch das Rinderfleisch hätten.“
„Wir haben’s aber nicht. Und Wölfe fressen verfaultes Zeug, tote Sachen. Deshalb riechen sie so schlecht.“
„Und schmecken schlecht“, fügte Nolan hinzu.
„Auch das. Aber das ist, was wir haben, also hör’ auf zu meckern und iss auf.“
Der Junge zog die Augenbrauen zusammen und kaute schneller und fester, wobei er sich sogar während des Schluckens auf den Vorgang konzentrierte. Amos hatte versucht, das Fleisch auf jede ihm bekannte Weise zuzubereiten, vom Kochen bis zum Braten in der gusseisernen Pfanne. Er kochte es, bis es fast keinen Geschmack mehr hatte, was ihnen beiden noch am Liebsten war, aber der Geschmack war immer noch unangenehm. Es war zäh und würzig, und es behielt immer einen leichten Todesgeruch. Aber bald würde es aufgebraucht sein, und Amos ahnte, dass der Tag nicht mehr lange auf sich warten ließ, an dem er und sein Sohn sich wünschen würden, sie hätten wenigstens noch einen Bissen von dem stinkenden Fleisch.
Worüber keiner von ihnen sprach, war, was die Tiere mit der Leiche in der Erdhütte angestellt hatten, bevor sie getötet oder verjagt wurden. Von den Schrotladungen, die sie getötet hatten, bereits zerfetzt – und trotz der kalten Bedingungen an ihrem provisorischen Ruheplatz mit der Zeit und durch die Verwesung grau und ledrig geworden –, hatten die Wölfe, die an sie heran gekommen waren, ihren linken Arm beinahe aus der Gelenkpfanne gerissen und an einer Seite ihres Körpers so viel abgebissen, dass die Rippen zu sehen waren. Der Anblick am nächsten Morgen traf Amos wie ein Hammerschlag auf die Stirn und versetzte ihn in entsetztes Schweigen, bis Nolan hinter ihm herkroch und einen wilden Schrei ausstieß. Amos, der wieder halbwegs zu sich gekommen war, drehte sich um und schob seinen Sohn hinaus ins Tageslicht. Danach schluchzte der Junge eine Weile, und keiner von ihnen sprach auch nur ein Wort darüber. Sogar jetzt, am Abendbrottisch, während ihre Gedanken ganz klar auf diesen schrecklichen Anblick und darauf fixiert waren, was dies für ihre Vorräte bedeutete, wurde darüber nichts laut ausgesprochen. Und was es auch bedeutete, war, dass mindestens einer der Wölfe sich an Neldas Fleisch zu schaffen gemacht hatte und es einfach keine Möglichkeit gab, heraus zu finden, ob es einer war, den Amos und Nolan aufaßen, oder nicht.
Das einzig Gute war, dass die Biester nicht zurückkehrten. Abend für Abend saß Amos nach der kargen und unangenehmen Mahlzeit in Mantel und Hut auf der Veranda und lauschte dem unaufhörlichen Schneefall, aber er hörte nichts mehr. Nach den ersten paar Nächten nahm er das Gewehr nicht mehr mit; nur seine Flasche mit dem Roggenwhisky, die fast leer war. Er teilte ihn ebenso sparsam auf wie das Wolfsfleisch, aber nur praktisch völlige Abstinenz würde verhindern, dass beides vollständig aufgebraucht sein würde, bevor der Winter vorüber war.
Dieser Tag kam, als der Schneefall endlich nachließ, eine Woche vor Monatsende, und einen klaren, hellen Himmel freigab, der die wachsende Panik und den Hunger beleuchtete, die Amos und seinen Sohn quälten. Nolan schlief bis Mittag, woraufhin er aufstand, zum Tisch ging, sich setzte und mit leerem Blick auf das grob behauene Holz starrte, das weder von einem Teller noch einer Schüssel oder einer Tasse belastet wurde. Amos hingegen stand bei Sonnenaufgang auf und verbrachte den ganzen Morgen damit, durch den hüfthohen Schnee zu stapfen und nach Anzeichen von Schmelzwasser oder Spuren auf der fernen, unsichtbaren Straße zu suchen. Irgendetwas, was auf ein Ende der Isolation hinweisen könnte. Er fand nichts. Am Nachmittag wiederholte er den Vorgang, diesmal jedoch mit dem Zwölfer-Kaliber im Schlepptau. Alles, was sich bewegte, war dazu geeignet, abgeschossen zu werden, aber nichts bewegte sich außer einer Wolkenbank, die riesig und unaufhaltsam von Norden heranzog. Ein weiterer Schneesturm war im Anmarsch.
Die Dämmerung brach früh herein, wie sie es im tiefsten Winter immer tat. Nolan blieb am Tisch sitzen und saß still und schweigend in der zunehmenden Dunkelheit, während die Temperatur draußen erneut sank, wo Amos auf dem Weg stand, der im Begriff war zu verschwinden. Er stützte sich auf die Schrotflinte wie auf einen Wanderstock und starrte mit unruhigem Ziel auf die Erdhütte.
VII.
Es war schlimmer als das Wolfsfleisch, obwohl er nicht mit Gewissheit sagen konnte, ob nicht die überwältigende Trauer und Schuldgefühle etwas damit zu tun hatten. Tränen liefen seine Wangen hinab, hinterließen Furchen in dem Schmutz, der sich auf seinem Gesicht angesammelt hatte, weil er sich nicht gewaschen hatte, und er stöhnte, als er das erste Mal schluckte. Das kleine Feuer, das er entzündet hatte, füllte die Erdhütte mit grauschwarzem Rauch, der durch den offenen Eingang nach draußen zog und den üblen Geruch versengtem, verfaultem Fleisch in den fallenden Schnee hinaus trug. Zusammengekauert in der stinkenden Hitze konnte er nach einer Weile kaum noch atmen,. Er verbrannte sich die Fingerspitzen, als er die Stücke aus den Flammen nahm, um sie in seinen Mund zu stecken. Unerträglicherweise hinterging ihn sein eigener Körper: Sein Magen knurrte, und ihm lief das Wasser im Mund zusammen. Die wackelige Kraftlosigkeit, die von tagelangem anschwellenden Hunger herrührte, schien sich sofort zu legen.
Er aß, bis von Neldas rechtem Arm nur noch die Knochen und zähen Sehnen übrig waren. Als er fertig war, als er sich sattgegessen hatte, schaufelte er Erde über das kleine Feuer, kroch auf Händen und Knien wieder hinaus und stopfte sich handvollweise Schnee in den Mund. Er schmolz sofort und floss kalt und sauber seine Kehle hinab, aber er wusste, dass aller Schnee in Colorado nicht ungeschehen machen konnte, was geschehen war.
VIII.
Obwohl er sich zunächst sicher war, dass es nur ein Traum war, ließ der Schrei einer Elster, der von einer anderen Elster beantwortet wurde, Amos kerzengerade aufspringen und nach der Waffe greifen. Er spürte eine schleimige Schicht auf Gesicht und Hals, weil er im Schlaf stark geschwitzt hatte, und sein Kopf schien sich vor Schwäche und Erschöpfung zu drehen. Seine Hand griff in die Luft, während die andere hastig den Schlaf aus seinen Augen rieb, damit er sehen konnte, wo er die Schrotflinte zuletzt hingelegt hatte. Als die Verschwommenheit aus seinem Blick verschwunden war, konnte er ziemlich deutlich erkennen, dass die Waffe überhaupt nicht da war.
Amos beeilte sich, in seine Stiefel zu schlüpfen und nach draußen zu gehen. Auf der Suche nach den Vögeln warf er wilde Blicke in den strahlend weißen Himmel. Er entdeckte sie im Westen, wo sie Kreise zogen und sich gegenseitig ankrächzten, insgesamt drei an der Zahl. Winzige, kohlschwarze Flecken am Himmel, die frei umeinander schwirrten, als würden sie spielen.
„Meine Flinte“, murmelte er mit klappernden Zähnen. „Wo zum Teufel ist meine gottverdammte Flinte?“
Er biss sich auf die Unterlippe und zitterte. Eine dumpfe Hitze stieg aus seinem Innersten auf und breitete sich durch seine Gliedmaßen, seine Finger und Zehen aus. Der Junge, dachte er. Der Junge hat sie genommen.
„Nolan!“ brüllte Amos und drehte sich um sich selbst, um die grenzenlose Blässe der toten Welt um ihn herum abzusuchen. „Deine Augen sollen verdammt sein, Junge – Nolan!“
Seine Stimme schallte über das gefrorene Tiefland und hallte in Wellen wider, die die Elstern erreichten und sie zum Schweigen und zur Flucht veranlassten. Im Nu waren sie verschwunden, und der Himmel war wieder leer. Amos starrte wütend in die hohle Luft, in der sie kurz zuvor noch herumgetollt waren, und er wimmerte.
„Die vor Hunger und Mangel erschöpft sind“ (1), flüsterte er. Die Worte der Heiligen Schrift kamen weiß über seine Lippen und stiegen zum leeren Firmament auf, von dem ihm kein Vogel geliefert wurde, wo kein Gott wachte, während seine Schöpfung litt und hungerte. „Die das dürre Land abnagen, die Wüste und Einöde…“ (2)
Sein Blick wanderte vom Schnee zum Horizont, der sich unendlich in alle Richtungen erstreckte, und er fragte sich, wie weit er kommen würde, wenn er jetzt losginge, wie lange es dauern würde, bis er zusammenbräche, und wie lange, bis die Frühlingswärme den Winter verdrängen und seine Knochen dem nächsten Menschen offenbaren würde, der vorbeikam. Der Gedanke zauberte ihm ein perverses Lächeln ins Gesicht, obwohl er sich überhaupt nicht sicher war, warum. Irgendetwas mit Erlösung, vermutete er. Entkommen.
„Hunger und Mangel“, sagte Amos. „Hunger und Mangel.“
Er schluckte trocken und wollte gerade wieder in die Holzhütte gehen, als er aus dem Augenwinkel die Erdhütte und die dünne graue Säule erblickte, die aus dem Eingang wogte, halb verdeckt vom Schnee der vergangenen Nacht. Er hielt verwirrt und etwas ängstlich inne und bemühte sich in seinem verwirrten Kopf, es zu verstehen. Ein Feuer. Aber wie? Und warum?
„Nolan?“
Der Wind trieb den Rauch Richtung Süden, auf Amos zu. Der Geruch brennenden Holzes stieg ihm in die Nase, und noch etwas anderes. Etwas unbestimmt Widerwärtiges.
Der Rauch wurde jetzt dichter und schwärzer. Es hatte etwas Fettiges an sich, das an Amos’ Haut und seinem Hirschledermantel zu kleben schien. Auch der Geruch war schlimmer: widerlich-süß, mit einem unverkennbaren Unterton von Fäulnis, wie der Geruch verwesender Kadaver, die nach einer sommerlichen Büffeljagd über die Ebene verstreut lagen. Amos hielt sich die Nase zu und duckte sich in die Erdhütte. Die Luft brannte in seinen Augen, so dass er sie zu Schlitzen zusammenkneifen musste. Er konnte die schattenhafte Gestalt, die wie ein Affe über den aufsteigenden Flammen hockte, kaum erkennen, bis der Feuerschein ihr Gesicht erhellte, die fettige Haut und den Mund, von dem Fett tropfte. Der Junge weinte und zitterte am ganzen Körper, während er schluchzte, während seine Zunge sich über seine Lippen streckte, um einen grauen Klumpen in seinen Mund zu ziehen. Neben ihm am Boden lag die Schrotflinte. Hinter ihm die abscheulich verstümmelten Überreste von Nelda. Von Amos’ Frau. Von Nolans Mutter.
„Nein“, keuchte Amos, und seine Kehle brannte. „Jesus Christus, nein.“
Nolan hob sein Gesicht, und sein glasiger Blick irrte durch die Dunkelheit, die das Feuer umhüllte, bis er sich auf seinen Vater konzentrierte. Als er Amos erkannte, sackte er zusammen, kaute schneller und rückte näher an die Waffe heran.
Wieder kamen Amos Worte der Heiligen Schrift in den Sinn – dass ihr sollt eurer Söhne und Töchter Fleisch essen (3) – und er sagte laut: „Und was ist mit eurer Mütter Fleisch?“
„Sie hat uns wegen dir verlassen“, flüsterte der Junge, kaum hörbar über dem Knistern der Flammen, nachdem Amos auf dem Boden zusammengebrochen war und der Lärm des Knalls in seinen Ohren verstummt war. „Mich wird sie niemals verlassen, Papa. Aber Mama hat nie etwas von dir gewollt.“
IX.
Die Knochen waren auf der Pritsche an der Ostseite der Holzhütte drapiert, mit Spuren von Messerschnitten und vom Feuer geschwärzt. Sie lagen auf dem Quilt, den Nelda gefertigt hatte und dessen Farben zu verblassen begannen. Sie waren sorgfältig arrangiert, um einen gewissen Anschein von ihrer ursprünglichen Anordnung zu erwecken, die nicht präzise war, die dabei verfolgte Absicht aber deutlich genug erkennen ließ. Zwei nahezu vollständige Skelette, Seite an Seite, von allem befreit, was nicht Knochen war. Als Arkansas Aubrey das grausige Bild sah, stieß er einen hohen Schrei aus und stolperte schwer atmend und mit weit aufgerissenen Augen zurück zur Veranda.
Nolan schüttelte nur den Kopf, ohne die Schnitzarbeit zu unterbrechen, die er mit dem einzigen Messer ausführte, das er je benutzt hatte, und sagte mit gewohnter Gelassenheit: „Wölfe.“
© für die Übersetzung bei Reinhard Windeler
Fußnoten:
(1) Buch Hiob, Kapitel 30, Vers 3
(2) ebenda
(3) 3. Buch Mose, Kapitel 26, Vers 29