Mittwoch, 11. Dezember 2024

McDONNELL - Drei Schwestern


Drei Schwestern

von Sean Thomas McDonnell


(Orig.: „Beneath the Valley Oak“, 2024; übersetzt von Reinhard Windeler)

Sean Thomas McDonnell (Jahrgang 1976) lebt in Danville, Kalifornien, ganz in der Nähe von San Francisco.
Das Album „Hell Bent for Leather!“ von Frankie Laine aus dem Jahre 1961 entfachte seine Liebe zu Western. Aber erst seit Ende 2023 schreibt er ernsthaft Geschichten, überwiegend im Horror-Genre, aber auch Science Fiction – und eben klassische Western.
Die hier präsentierte Story stammt aus dem Sammelband "Beneath the Valley Oak" , der im August 2024 erschienen ist und noch fünf andere Kurzgeschichten enthält.
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I.

An dem Abend, an dem Ned getötet wurde, waren die Mädchen und ich unten am Fluss und wuschen. Wir sprachen über die Wicken, die wir Ende Februar gepflanzt hatten und die jetzt, da es März war, zu sprießen begannen. Wir hörten einen Mann aufschreien, aber es war nicht Ned. Ich sagte den Mädchen – befahl ihnen –, sie sollten dort bleiben, wo sie waren, am Flussufer, und sich keinen Zentimeter rühren, und dort fand ich sie auch, als ich zurückkam, und mein Gesichtsausdruck war so normal, wie ich ihn nur hinbekommen konnte.

„Alles in Ordnung, Mama?“ fragte June, unsere älteste Tochter.

„Ja. Alles ist in Ordnung. Macht weiter mit der Wäsche“, antwortete ich.

Aber es war nicht in Ordnung. Ich hatte am Rande des Waldes gestanden, war aber nicht hineingegangen. Ich vermute, dass mein Körper etwas wusste, was mein Verstand nicht wusste. Sicher, ich rief nach Ned, aber mein Ruf scheuchte nur einen Schwarm Krähen auf, der in den Himmel aufstieg wie eine Handvoll Kohle, die hoch geworfen wurde, um die Sonne anzuheizen.

Beim Abendessen erzählte ich den Mädchen, dass ihr Vater in die Stadt gegangen wäre, um ein paar Vorräte zu besorgen, und nicht vor dem Morgen zurückkommen würde. Kate und June nahmen das hin, aber Annie nicht; sie war das jüngste der Mädchen, und daher führte bei ihr jede Antwort zur nächsten Frage.

„Warum ist er so spät am Tag gegangen?“ fragte sie.

„Ich bin müde“, sagte ich. „Geh’ und mach’ dich fertig fürs Bett.“

Sie schmollte, aber sie tat, wie ihr geheißen.

Erst als die Dunkelheit das Land vollständig verschluckt hatte und die Mädchen tief und fest schliefen, zog ich meinen dicken Mantel und meine Stiefel an und ging den Weg hinunter zu dem, von dem ich wusste, dass es mich erwartete.

Der Mond ließ sein Licht durch die Zweige der immergrünen Pflanzen fallen, und nach einiger Zeit gewöhnten sich meine Augen an die Nacht. Als ich Ned sah, wusste ich sofort, dass er ermordet worden war; im blauen Schein des Mondlichts sah die rechte Hälfte seines Gesichts aus wie gemeißelter Alabaster, aber die andere Hälfte war eingedrückt wie ein hartgekochtes Ei, auf das man mit einem Löffel aus Metall geklopft hat. Ich war wütend – sogar mörderisch –, aber mehr noch, ich litt Qualen. Und mehr noch, ich hatte Angst.
Ich eilte zurück zu unserer beengten Heimstätte und verriegelte die Tür. Neds Gewehr wog schwerer, als ich es in Erinnerung hatte, aber das traf jetzt auch auf die Welt zu. Ich saß dort bis zum Morgen, meine Augen brannten vor Müdigkeit und Tränen, mein Kopf pochte von den unüberwindlichen Herausforderungen, die vor mir lagen. Ich biss mir auf die Lippe und dachte an den Prediger, Neds Mörder. Der rostige Geschmack in meinem Mund verursachte in mir ein mulmiges Gefühl. Aber als die Morgensonne durch das Fenster meine Hand berührte, schob ich all das beiseite. Ich erinnerte mich daran, dass das Überleben meiner Töchter an erster Stelle stand; ihr Leben war das Einzige, worauf es ankam. 

Beim Frühstück überbrachte ich unseren Mädchen die Nachricht, dass ihr Vater tot war.

Kate, unsere mittlere Tochter, verschloss sich wie eine Blume in der Dunkelheit. Ich fragte mich, ob ich ihr Gesicht jemals wiedersehen würde. Ihr Zauber war abgestumpft, ausgelöscht. Mein Blut, mein Baby – ich wollte zu Gott schreien.

Nach langem Weinen machte June ein tapferes Gesicht und bot an, alle Aufgaben zu übernehmen, zu denen sie in der Lage war. Es würden viele sein, sagte ich ihr. Sie erklärte, das wisse sie, und umarmte mich. Wieder fühlten sich meine Wut und meine Traurigkeit gefährlich an. Ich war unberechenbar.
Aber Annie, die süße, kleine Annie, sie war es, die mich fragte, wer es getan hatte. Worauf ich antwortete: „Das spielt keine Rolle, denn er kommt nicht zurück.“ Sie stellte die Frage nicht, aber ich konnte in ihren Augen sehen, dass sie überlegte, ob ich über ihren Vater oder über den Mann sprach, der ihn getötet hatte. Ich hätte ihr gesagt, über beide. Aber sie blickte nur auf ihre Hände.
Wir begruben Ned unter seinem Lieblingsbaum, einer Kalifornischen Weißeiche mit wilden Ästen, die sich nicht entscheiden konnten, in welche Richtung sie wachsen sollten, oben auf einem Hügel mit Blick auf den Fluss. Der Boden war von der Sonne des scheinbaren Frühlings ausgetrocknet; wir brauchten fast drei ganze Tage, um einen Sarg zu zimmern, das Loch zu auszuheben, seinen Leichnam zum Grab zu schleppen und das Loch wieder aufzufüllen. Die harte Arbeit erlaubte uns allen, die Nächte durchzuschlafen, denn unsere Körper verlangten nach Ruhe, aber wenn wir aufwachten, waren wir steif und erfüllt vom Gefühl des Verlustes.

***

In meinem Kopf spielten sich gewalttätige Szenarien von dem ab, was ich tun würde, sobald ich das Gesicht des Predigers sehen würde, und egal, wie sehr ich auch versuchte, sie aus meinem Kopf zu vertreiben, fanden sie doch ihren Weg zurück zu mir. Vor der Wut kann man sich nicht verstecken.

Auf dem Weg in die Stadt, auf demselben Stück Straße, das uns vor Jahren in dieses Land gebracht hatte, brüllte ich in den Wind, aber es gab keine Reaktion außer dem nervösen Zucken des langen lohfarbenen Ohrs meines Pferdes.

In der Stadt angekommen, marschierte ich zur Kirche und ging durch die Türen, ohne anzuhalten. Ich wusste, wenn ich anhielte, würde ich nicht hineingehen. Der Prediger war dort und sprach mit einer Frau, die ihren Kopf zum Gebet gesenkt hatte. Ihre Hand lag in seiner, und obwohl ihre Augen geschlossen waren, waren seine Augen weit geöffnet und schauten am Gesicht der Frau vorbei.

Als er mich entdeckte, ließ er ihre Hand los und stand auf. Die Frau war offensichtlich erschrocken. 

„Ich bitte um Entschuldigung“, sagte ich. „Ich sehe, Sie haben zu tun.“ 

Die Frau lächelte und nickte, aber der Prediger sagte mir, ich solle warten. Er flüsterte der Frau etwas zu, die erkennbar verstimmt die Kirche verließ. Wir waren allein. Neds Mörder stand vor mir. Er lächelte breit, aber angestrengt, es war wie das Lächeln eines Verkäufers.

„Möchten Sie sich setzen?“ fragte er und klopfte auf den Sitz neben sich, eine lange Kirchenbank mit kastanienbraunen Kissen.

„Nein. Ich bleibe stehen“, sagte ich.

Bei dieser Bemerkung veränderte sich sein Gesichtsausdruck. Das Verkäuferlächeln verschwand und entblößte eine Reihe von Wolfszähnen, und seine osterblauen Augen wurden zu Wintermeeren; er wusste, dass ich Bescheid wusste, und in unserem beiderseitigen Wissen wirbelte ein wilder Hass durch das Kirchenschiff.

„Haben Sie’s dem Sheriff gesagt?“ fragte er.

„Nein – und das werde ich auch nicht tun. Ich bitte nur darum, dass Sie uns in Ruhe lassen.“ 

Mir war es ernst mit diesen Worten, so wahr mir Gott helfe, ich meinte sie genau so. Wenn mich das zu einem Feigling oder Schlimmerem macht, dann sei es so, aber ich wollte nur Ruhe und eine Zukunft für meine Mädchen.

„Das ist gut. Er würde mir eher glauben als Ihnen.“ 

„Ich weiß. Dann belassen wir es einfach dabei.“

„Wieviel hat Ned Ihnen erzählt?“

„Er hat mir erzählt, wie Sie das Mädchen ermordet haben. Er sagte, er hätte Sie in der Nacht gesehen – der Nacht, in der sie verschwunden ist – und dass Sie Blut an Ihren Händen hatten.“

Der Prediger bestieg seine Kanzel und sah auf mich herab. Sein Blick wanderte immer wieder zur Tür und zu den Fenstern. Wenn ein Mensch erst einmal Blut an den Händen hat, dachte ich, wird das Töten wahrscheinlich zu einer zweckmäßigen Lösung für alle Sorgen.

Ich ging näher zur Tür und fuhr fort: „Wenn Sie uns in Ruhe lassen, nehme ich Ihr Geheimnis mit in mein Grab. Mir geht es nur um meine Mädchen. Sie halten sich von uns fern, und wir halten uns von Ihnen fern.“

Er schloss die Augen zum Gebet. Welcher Gott würde seine Botschaft empfangen? Ich mochte nicht darüber nachdenken.

Er öffnete seine Augen und seine Bibel. Sein Gesicht entspannte sich; es sah fast wie das Gesicht eines Mannes aus, der mit sich im Reinen ist. Er sagte: „Gehorcht euren Lehrern und folgt ihnen, denn sie wachen über eure Seelen.“  (1)   Dann klappte er die Bibel mit einem dumpfen Schlag zu. „Dieses Mädchen war eine Hure. Sie hätte nie in diese Stadt kommen sollen – in meine Stadt.“

Ich spuckte aus und sagte: „Das mag Ihre Stadt sein, aber die Hölle wird auch die Ihrige sein.“

Der Prediger schlug mit der Faust auf die Kanzel und schrie: „Ned war ein Feind Gottes und ein Feind dieser schönen Stadt!“

Ich wollte ihm den Kopf abreißen, aber ich widerstand diesem Drang. Für meine Töchter widerstand ich. Ich drehte mich um und ging. Ich verfluchte Gott dafür, dass er den Prediger nicht an Ort und Stelle erschlagen hatte.

Wieder brüllte ich in den Wind.

***

Es waren dunkle Zeiten. Zeiten, in denen ich nicht sicher war, dass wir sie überstehen würden. Aber die Zeit und neue Perspektiven haben die Eigenschaft, Steine in die unruhigen Gewässer des Lebens zu legen, über die man gehen kann. Und so lernten wir, ohne Ned auszukommen. Zu viert lernten wir, gemeinsam zu überleben.

Kate begeisterte sich für den Anbau von Obst und Gemüse. Sie verbrachte Stunden im Garten. Im Frühling kümmerte sie sich um ihre Rüben und Erbsen und im Sommer um Tomaten und Gurken. Die Ernten füllten immer ihren Korb. Sie riss Unkraut aus, als wäre es ihre Berufung, manchmal stoisch in ihrer gärtnerischen Not, manchmal in göttlicher Wut, wie eine beschützende Mutter. Aber meistens war sie in diesem Garten mit sich im Reinen. Sie betete die Sonne an, und wenn die Sonne schlief, schlief auch Kate. Im Laufe der Jahre ließ die Härte ihres Gesichts nach, es wurde weicher, und etwas von dem alten Zauber kehrte zurück. Aber um ihre Augen hatten sich die Fältchen gebildet, die von schweren Zeiten zeugen, Fältchen, die ein Elternteil sowohl als tröstlich empfindet – im Wissen, dass sein Kind überleben kann – wie auch voller Bedauern, weil die Trauer sein Kind verändert hat.

Aber wenn Katie der Spaten der Familie war, dann war Junie der Hammer. Wenn Reparaturen an unserem Haus erforderlich waren, war es June, die zu Stemmeisen und Säge griff. Sie baute eine stabile Bank, die groß genug war, dass wir alle darauf sitzen konnten, und stellte sie unter ihres Vaters Weißeiche auf. Und sie baute eine Vorratskammer für Kates eingelegtes Gemüse und Marmeladen. Abends saß sie still auf der Veranda und schaute hinauf zu den Sternen.

Doch während ihre Schwestern bauten und anbauten, peilte die ach so süße Annie durch das Visier von Neds Gewehr. Sie tötete und fing. Ihre ruhige Hand und ihre Gelassenheit halfen ihr bei der Jagd auf alle Arten von Wild, und so kam es nur selten vor, dass wir abends kein Fleisch auf dem Tisch hatten.

Morgens hängte sie verschiedene Gegenstände an die Äste der Weißeiche, unter der ihr Vater begraben lag, und aus großer Entfernung schoss sie auf die Ziele. Sie wurde eine so treffsichere Schützin, dass sie mehrere örtliche Schießwettbewerbe gewann und in den meisten Fällen mit der Siegerprämie nach Hause ging.

Aber abends saß sie unter ihres Vaters Baum auf der Bank, die Junie gebaut hatte, und las ihm bei Kerzenlicht aus seinem Lieblingsbuch vor, Jeanne d'Arc von Mark Twain (2) .  

II.

An einem Sommermorgen, als June und Kate zum Beerenpflücken unterwegs waren, kam Annie mit dem Gewehr in der Hand von Neds Baum auf dem Hügel herunter. Von der Veranda aus, auf der ich saß, konnte ich ihrem Gesicht ansehen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.

„Ich weiß, wer es getan hat“, sagte sie. „Ich weiß, wer Papa ermordet hat.“

Ich hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber nachdem mehrere Jahre vergangen waren, hätte ich nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich kommen würde.

„Ist das so?“ sagte ich.

„Hasst du Gott für das, was mit Papa passiert ist?“

„Nein. Gott hatte nichts damit zu tun.“

„Gehen wir deshalb nicht mehr in die Kirche?“ fragte Annie und lehnte ihr Gewehr an den Türrahmen. Sie setzte sich neben mich auf die Verandastufen, unsere Beine berührten sich. „Ich habe den Blick gesehen, mit dem du den Prediger angeschaut hast, als wir gestern in der Stadt waren, um Mehl zu kaufen. Er war’s, stimmt’s?“

Ich flehte sie an: „Versprich mir, dass du nicht zu diesem Mann gehst. Er und ich haben vor Jahren eine Abmachung getroffen. Er lässt uns in Ruhe, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Wir haben nur uns selbst.“

„Warum hat er Papa umgebracht? Was hat Papa jemals irgendwem angetan?“ fragte Annie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Er hatte etwas gesehen, was er nicht hätte sehen sollen“, sagte ich. „Und er wollte es dem Sheriff erzählen. Ich habe ihn gewarnt, sich nicht einzumischen … aber dein Daddy war ein guter Mann, Annie.“ Ich legte meinen Arm um Annies Schultern und drückte sie.

„Hat der Prediger noch jemanden umgebracht?“ fragte Annie und blickte den Hügel hinauf zu Neds Eiche.

„Ein Saloon-Mädchen. Er ist ein böser Mensch. Also gehen wir ihm am besten aus dem Weg.“

Sie ging hinein und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein, und als sie zurückkam, versprach sie mir, dass sie ihn nicht erschießen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es ihren Schwestern erzählen würde, aber innerhalb weniger Tage hing eine dunkle Wolke über unserem Haus. Zum Glück dauerte das nur ein paar Wochen. Die Stimmung änderte sich, als Annie eines Tages beim Abendessen verkündete, dass man sie aufgrund ihrer Fähigkeiten als Scharfschützin und ihrer natürlichen Ausstrahlung für Bill Thompsons Wildwest-Show angeworben hätte. Die Mädchen waren regelrecht aufgekratzt, und sogar ich spürte, wie die Nachricht meine Laune hob.

„Aber da ist noch etwas“, sagte Annie. „Sie lassen mich eine Szene für die Show schreiben.“

„Sie lassen dich schreiben? Sind die so verzweifelt?“ sagte Kate mit einem Augenzwinkern.

„Tja“, sagte Annie, „ich habe zu ihnen gesagt, wenn sie meine Schießkünste haben wollen, dann müssen sie mich eine Geschichte meiner Wahl erzählen lassen. June, würdest du mir helfen, ein Bühnenbild zu bauen?“

Junie quietschte vor Freude. „Oh, es wäre mir eine Ehre“, sagte sie. „Worum geht es in deiner Geschichte?“

„Das erzähle ich dir und Kate später. Mama muss bis zum großen Tag warten.“

Ich lachte und machte mich daran, den Tisch abzuräumen. „Ich wusste immer, dass du für die Bühne bestimmt bist, Annie“, sagte ich.

Die Tage waren süß und voller Liebe. Doch abends saßen die Mädchen im Mondlicht auf der Bank unter Neds Baum, und obwohl ich nichts außer ihren Silhouetten sehen konnte, wusste ich, dass meine Mädchen nicht lächelten. Aber ich wusste nicht, dass sie sich verschworen.



III.

Es war am 13. August 1904, zwei Monate nachdem die Mädchen herausgefunden hatten, wer ihren Vater getötet hatte, als Annie in einer der größten Wildwest-Shows auftrat, die die Region je gesehen hatte und die genau in unserer Stadt stattfand. Als ich mich zu den anderen Zuschauern setzte, schaute ich mich als Erstes um, um zu sehen, wo sich dieser mordende Drecksack von einem Prediger befand. Es war bestürzend, ihn neben dem Sheriff sitzen zu sehen, aber ich erinnerte mich selbst daran, dass der Gesetzeshüter nicht wusste, dass der Prediger ein Mörder war. Wie die Fakten auch sein mochten, an jenem Tag verlor ich dennoch den Respekt vor dem Sheriff.

Ich warf dem Prediger einen Blick zu, der sagte: Ich kann mir immer noch wünschen, Sie wären tot.

Und er warf mir einen Blick zu, der sagte: Ich kann Sie und Ihre Töchter immer noch töten.

Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf meine Tochter Annie, die mit einer Gruppe von Kindern plauderte, Autogramme gab und erklärte, wie man am besten mit einem Gewehr zielt. Annie sah liebreizend aus mit ihrem flachen Hut und dem Kleid mit den gestickten Blumen. Sie hatte mich gebeten, am unteren Rand Fransen anzubringen, und obwohl ich nicht sicher war, dass ihr das irgendeine Hilfe sein würde, genauer zu schießen, hatte ich zugesagt. Aber als ich sie jetzt dort stehen sah, war ich mir fast sicher, dass die Verzierung ihren Schüssen tatsächlich helfen würde, ihr Ziel zu treffen; es ließ sie aussehen, als wäre sie zum Teil Sioux.

Die Kulisse war mit einer großen Plane abgedeckt, die von drei kreisförmigen Zielscheiben gehalten wurde. Die Kinder lugten unter sie und zogen an dem Stoff, bevor sie von einer Frau mit einer großen Feder am Hut verjagt wurden. Männer und Frauen bereiteten sich auf ihre Auftritte vor, verschwanden im Schauspielerzelt und tauchten wieder daraus auf. Das Zelt war direkt neben der Straße in der Nähe des Saloons aufgebaut worden, wo gleich dahinter ein Mädchen ermordet worden war. Ermordet von demselben Mann, der Ned ermordet hatte, demselben Mann, der hier saß und atmete, obwohl er von einem Ast hätte baumeln sollen.

***

Als es an der Zeit war, dass die Show begann, trat Bill Thompson vor die Menge, die Platz genommen hatte, und hieß seine neueste Scharfschützin herzlich willkommen, Annie Green. Die Menge jubelte. Zu dieser Zeit gab es im Umkreis von hundert Meilen keinen Mann, der nicht von ihr gehört hatte, und auch keine Frau und kein Kind. Die Menschen kamen mit dem Zug und sogar mit pferdelosen Kutschen, um sie schießen zu sehen; sie war eine lokale Legende und eine regionale Sensation. Ich strahlte. Ich wünschte, Ned hätte sehen können, wie sein kleines Mädchen zu solch einer Frau geworden war.

Annie lächelte und winkte der Menge zu, und das mit mehr Selbstvertrauen, als ich jemals in meinem Leben gehabt hatte oder haben würde. Sie nahm ihre Position ein und feuerte drei Schüsse in schneller Folge ab.

PÄNG, PÄNG, PÄNG.

Jede Kugel traf die Mitte ihrer Zielscheiben oben auf der Plane, die sodann zu Boden fiel und die Kulisse enthüllte, die June gebaut hatte. Alle jubelten, ich jedoch nicht. Mein Lächeln verschwand, und eine tiefe Besorgnis erfüllte meine Seele. June hatte einen Wald aus Sperrholz gebaut, und ich wusste sofort, was meine Töchter zu zeigen planten. Das war der Wald, in dem mein Ned getötet worden war. 

„Es war einmal“, rief Annie, „bevor Recht und Gesetz in dieses Land kamen, da gab es Männer, die Mord und Totschlag im Sinn hatten – gesetzlose Männer –, die Städte überall in dieser großartigen Nation heimsuchten.“

Bill Thompson kam aus dem Zelt, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem großen, falschen Schnurrbart, der ihm über die Oberlippe hing. Er trug zwei Patronengurte über der Brust und hatte schwarzen Ruß auf seinen Schneidezähnen, damit es so aussah, als ob einer davon fehlte. 

„Cole Vance“, fuhr Annie fort, „hatte hinter dem Saloon ein Mädchen ermordet, aber jemand hatte gesehen, wie er mit blutverschmierten Händen den Tatort verließ.“

Der Prediger sah mit zusammengekniffenen Augen zu mir herüber. Ich wich seinem Blick aus und zwang mich zu einem Lächeln, während ich Annie im Auge behielt.

Vom anderen Ende der Kulisse kam ein Mann mit einem weißen, breitkrempigen Hut und ging zur Mitte von Junes Wald. Das Publikum jubelte und johlte für den Helden.

Annie wartete, bis die Menge sich beruhigt hatte, und fuhr dann fort: „Ted Brown war auf dem Weg, um dem Sheriff zu erzählen, was er in jener Nacht gesehen hatte. Er beschloss, den Weg durch den Wald zu nehmen, weil er annahm, das wäre sicherer. Er wusste, dass Cole ihn in der Nacht zuvor gesehen hatte und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er nach ihm suchen würde. Aber der Mörder Cole Vance hatte das durchschaut und ihm im Wald aufgelauert.“

Bill Thompson blickte finster drein, als er zur Mitte der Bühne ging, und sagte: „Ich habe dieses Saloon-Mädchen umgebracht, und jetzt werde ich den Mann umbringen, der gesehen hat, wie ich dieses Saloon-Mädchen umgebracht habe.“

Ich schnappte nach Luft, und eine ältere Frau, die neben mir saß, tätschelte meine Hand. „Das ist nur gespielt, Schätzchen“, sagte sie.

Aber es war nicht nur gespielt. Sie erzählten die Geschichte von Ned. Vielleicht nicht in allen Einzelheiten, aber genau genug, dass ich mir Sorgen machte. Die Mädchen kannten sein Geheimnis, und das wusste jetzt auch der Prediger.

Sie – wir – waren alle in Gefahr.

***

Ich schaute zu dem Prediger hinüber, der mich mit hasserfülltem Blick anstarrte. Ich wollte hinüber zum Sheriff laufen und ihm alles erzählen, aber was würde er darauf sagen? Wo sind die Beweise? Warum haben Sie Ned nicht schon vor Jahren als ermordet gemeldet?

Dann holte Cole Vance ein Messer aus Holz hervor, das so bemalt war, dass es echt aussah, und stach auf Ted Brown ein, der zu Boden fiel und sich in einer übertrieben dramatischen Todesszene auf dem Waldweg krümmte.

Der bösartige Bill lachte schallend.

Das Publikum buhte den Schurken aus.

„Was für ein übler Kerl“, sagte Annie zu der Menge, die mitlachte, aber verstummte, als Annie ihre Waffe auf den Mann in Schwarz richtete. „Aber dann kam eine junge Frau, die Tochter des Mannes, der gemeuchelt worden war.“

Annie trat vor. Sie war nicht mehr nur die Erzählerin; jetzt war sie eine Figur in dem Stück.

Sie fuhr fort: „Seine Tochter war keine gewöhnliche Lady, sie war ziemlich geschickt im Umgang mit einer Flinte. Manche Leute sagten, sie sei mit einem Gewehr in der Hand und einem Bowie-Messer zwischen den Zähnen geboren worden. Manche Leute sagten, sie sei dazu geboren, um böse Menschen zu töten.“ Annie feuerte einen Schuss ab, der Bill Thompson den Hut vom Kopf riss.

PÄNG.

Sein Gesicht erzählte die Geschichte eines Mannes, der sowohl beeindruckt war von der Treffsicherheit meiner Annie wie auch erschrocken ob ihres Selbstvertrauens. Es war offensichtlich, dass Bill nicht mit diesem Schuss gerechnet hatte, und er benötigte ein paar Augenblicke, um seine Sprache wieder zu finden. Er rieb sich den Kopf und betrachtete seine Hand.

„Du hast meinen Pa getötet“, sagte Annie. „Und jetzt werde ich dich töten. Genau hier. Und heute.“

„Du bist eine … du bist eine gute Schützin … junge Dame“, erwiderte Bill und bemühte sich, seine Stimme nicht vor Angst zittern zu lassen. „Aber beruhigen wir uns erst einmal etwas … und, na ja … beruhigen wir uns einfach.“

Dann feuerte meine Annie einen weiteren Schuss ab, mit dem sie einen krummen Zweig aus Sperrholz nahe am Bühnenrand zersplitterte, in direkter Nähe zum Sheriff und zum Prediger. Bill wich zurück, duckte sich und suchte sofort Deckung. Der Sheriff zuckte zusammen, lachte dann aber, weil er annahm, das gehörte alles zur Show.

Der Prediger, der entweder um sein Leben fürchtete oder seine ehemaligen Taten nicht ertragen konnte, erhob sich und verließ dann die Show. In Richtung Kirche.

Die Frau neben mir beugte sich zu mir und sagte: „Dem schlägt die Gewalt wohl auf den Magen.“ 

Ich antwortete: „Schon möglich.“ Dann stand ich auf und folgte ihm.

***

Als ich hinter ihm die staubige Straße zur Kirche hinunterging, durchbohrte ich den Kopf des Predigers mit meinen Blicken. Mir war noch nicht klar, wie ich es anstellen sollte, aber ich war entschlossen, ihn zu töten. Ich wusste, dass meine Töchter in der Lage wären, alleine zu überleben. Das hatten sie bereits bewiesen. Aber jetzt wollte ich, dass sie sich sicher fühlen konnten. Ich wollte, dass meine Babys in Sicherheit waren.

Der Prediger betrat die Kirche. Ich kann mir den Grund dafür nicht erklären, aber mein Gang wurde langsamer, als ich mich der Eingangstür des Gebäudes näherte. Da war ein Gefühl der Vorahnung, aber worauf es sich bezog, konnte ich nicht sagen.

PÄNG.

Ich stand da, nur wenige Schritte von der Kirche entfernt, und mein Herz raste. Eine Menschenmenge erschien hinter mir, dort, wo im weiteren Verlauf der Straße die Show unterbrochen worden war, als man den Schuss gehört hatte. Sie sahen mich erwartungsvoll an. Ich drehte mich um und rannte in die Kirche. Als ich die Kirchentüren öffnete, stieg mir sofort der Geruch von Schießpulver in die Nase. Am Fuß der Kanzel lag der Prediger, verrenkt wie ein Sack mit Abfall. Sein Kiefer war sauber von seinem Gesicht abgetrennt, aber ich wandte meinen Blick nicht ab. Tief in mir drinnen dankte ich Gott für das Blut; ich hatte den Glauben an meinen Herrgott wieder gefunden. Ich sah sie, wie sie die Kirche durch die Hintertür verließ, meine Kate. Meine Blume, meine Gärtnerin; sie hatte den Garten wieder von einem Unkraut befreit. Dann dämmerte es mir: Das Bühnenbild, das June gebaut hatte, die Szene, die von meiner Annie geschrieben und aufgeführt wurde, all das diente dazu, den Prediger zurück zur Kirche zu treiben, weg von den Zuschauern. Sie hatten ihm vor seiner Hinrichtung die Beweise für seine Verbrechen gezeigt. Sie hatten ihn gemeinsam getötet.

Ich trat aus der Kirche, als der Sheriff angerannt kam, und ich rief: „Man hat den Prediger ermordet! Ich habe den Mörder gesehen. Er hat einen Vollbart.“ Dann tat ich so, als wäre ich nahe davor umzukippen, und lehnte mich schwer an die Schulter des Sheriffs.

Der Sheriff setzte mich auf den Treppenstufen ab und tätschelte meine Hand. Er zog seinen Revolver und ging in die Kirche hinein. Er war auf der Suche nach einem Mann mit Bart, einem Mann, den er nie finden würde.

IV.

An jenem Nachmittag saßen wir unter der Weißeiche auf der Bank, die June gebaut hatte, und Annie las uns allen aus Neds Buch vor. Kate hatte frische, kühle Gurken für uns mitgebracht, die beim Essen zwischen unseren Zähnen knackten. Überall um uns herum hörten wir die Vögel zwitschern und die Insekten an unseren Ohren vorbeizischen; es war eine lebendige, blühende Welt. Ich atmete aus.

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024






Fußnoten

(1)  Brief an die Hebräer, Kapitel 13, Vers 17

(2)  „Personal Recollections of Joan of Arc“ (dt.: Persönliche Erinnerungen an Jeanne d’Arc) erschien seit April 1895 in Fortsetzungen in Harper’s Magazine und im Mai 1896 in Buchform.


Frankie LAINE - Hell Bent for Leather!  [LP 1961 - Original: Columbia CL-1615]