Aber abends saß sie unter ihres Vaters Baum auf der Bank, die Junie gebaut hatte, und las ihm bei Kerzenlicht aus seinem Lieblingsbuch vor, Jeanne d'Arc von Mark Twain (2) .
II.
An einem Sommermorgen, als June und Kate zum Beerenpflücken unterwegs waren, kam Annie mit dem Gewehr in der Hand von Neds Baum auf dem Hügel herunter. Von der Veranda aus, auf der ich saß, konnte ich ihrem Gesicht ansehen, dass sie etwas auf dem Herzen hatte.
„Ich weiß, wer es getan hat“, sagte sie. „Ich weiß, wer Papa ermordet hat.“
Ich hatte gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber nachdem mehrere Jahre vergangen waren, hätte ich nicht damit gerechnet, dass er so plötzlich kommen würde.
„Ist das so?“ sagte ich.
„Hasst du Gott für das, was mit Papa passiert ist?“
„Nein. Gott hatte nichts damit zu tun.“
„Gehen wir deshalb nicht mehr in die Kirche?“ fragte Annie und lehnte ihr Gewehr an den Türrahmen. Sie setzte sich neben mich auf die Verandastufen, unsere Beine berührten sich. „Ich habe den Blick gesehen, mit dem du den Prediger angeschaut hast, als wir gestern in der Stadt waren, um Mehl zu kaufen. Er war’s, stimmt’s?“
Ich flehte sie an: „Versprich mir, dass du nicht zu diesem Mann gehst. Er und ich haben vor Jahren eine Abmachung getroffen. Er lässt uns in Ruhe, wenn wir ihn in Ruhe lassen. Wir haben nur uns selbst.“
„Warum hat er Papa umgebracht? Was hat Papa jemals irgendwem angetan?“ fragte Annie, und ihre Augen füllten sich mit Tränen.
„Er hatte etwas gesehen, was er nicht hätte sehen sollen“, sagte ich. „Und er wollte es dem Sheriff erzählen. Ich habe ihn gewarnt, sich nicht einzumischen … aber dein Daddy war ein guter Mann, Annie.“ Ich legte meinen Arm um Annies Schultern und drückte sie.
„Hat der Prediger noch jemanden umgebracht?“ fragte Annie und blickte den Hügel hinauf zu Neds Eiche.
„Ein Saloon-Mädchen. Er ist ein böser Mensch. Also gehen wir ihm am besten aus dem Weg.“
Sie ging hinein und schenkte mir eine Tasse Kaffee ein, und als sie zurückkam, versprach sie mir, dass sie ihn nicht erschießen würde. Ich hätte nicht gedacht, dass sie es ihren Schwestern erzählen würde, aber innerhalb weniger Tage hing eine dunkle Wolke über unserem Haus. Zum Glück dauerte das nur ein paar Wochen. Die Stimmung änderte sich, als Annie eines Tages beim Abendessen verkündete, dass man sie aufgrund ihrer Fähigkeiten als Scharfschützin und ihrer natürlichen Ausstrahlung für Bill Thompsons Wildwest-Show angeworben hätte. Die Mädchen waren regelrecht aufgekratzt, und sogar ich spürte, wie die Nachricht meine Laune hob.
„Aber da ist noch etwas“, sagte Annie. „Sie lassen mich eine Szene für die Show schreiben.“
„Sie lassen dich schreiben? Sind die so verzweifelt?“ sagte Kate mit einem Augenzwinkern.
„Tja“, sagte Annie, „ich habe zu ihnen gesagt, wenn sie meine Schießkünste haben wollen, dann müssen sie mich eine Geschichte meiner Wahl erzählen lassen. June, würdest du mir helfen, ein Bühnenbild zu bauen?“
Junie quietschte vor Freude. „Oh, es wäre mir eine Ehre“, sagte sie. „Worum geht es in deiner Geschichte?“
„Das erzähle ich dir und Kate später. Mama muss bis zum großen Tag warten.“
Ich lachte und machte mich daran, den Tisch abzuräumen. „Ich wusste immer, dass du für die Bühne bestimmt bist, Annie“, sagte ich.
Die Tage waren süß und voller Liebe. Doch abends saßen die Mädchen im Mondlicht auf der Bank unter Neds Baum, und obwohl ich nichts außer ihren Silhouetten sehen konnte, wusste ich, dass meine Mädchen nicht lächelten. Aber ich wusste nicht, dass sie sich verschworen.
III.
Es war am 13. August 1904, zwei Monate nachdem die Mädchen herausgefunden hatten, wer ihren Vater getötet hatte, als Annie in einer der größten Wildwest-Shows auftrat, die die Region je gesehen hatte und die genau in unserer Stadt stattfand. Als ich mich zu den anderen Zuschauern setzte, schaute ich mich als Erstes um, um zu sehen, wo sich dieser mordende Drecksack von einem Prediger befand. Es war bestürzend, ihn neben dem Sheriff sitzen zu sehen, aber ich erinnerte mich selbst daran, dass der Gesetzeshüter nicht wusste, dass der Prediger ein Mörder war. Wie die Fakten auch sein mochten, an jenem Tag verlor ich dennoch den Respekt vor dem Sheriff.
Ich warf dem Prediger einen Blick zu, der sagte: Ich kann mir immer noch wünschen, Sie wären tot.
Und er warf mir einen Blick zu, der sagte: Ich kann Sie und Ihre Töchter immer noch töten.
Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf meine Tochter Annie, die mit einer Gruppe von Kindern plauderte, Autogramme gab und erklärte, wie man am besten mit einem Gewehr zielt. Annie sah liebreizend aus mit ihrem flachen Hut und dem Kleid mit den gestickten Blumen. Sie hatte mich gebeten, am unteren Rand Fransen anzubringen, und obwohl ich nicht sicher war, dass ihr das irgendeine Hilfe sein würde, genauer zu schießen, hatte ich zugesagt. Aber als ich sie jetzt dort stehen sah, war ich mir fast sicher, dass die Verzierung ihren Schüssen tatsächlich helfen würde, ihr Ziel zu treffen; es ließ sie aussehen, als wäre sie zum Teil Sioux.
Die Kulisse war mit einer großen Plane abgedeckt, die von drei kreisförmigen Zielscheiben gehalten wurde. Die Kinder lugten unter sie und zogen an dem Stoff, bevor sie von einer Frau mit einer großen Feder am Hut verjagt wurden. Männer und Frauen bereiteten sich auf ihre Auftritte vor, verschwanden im Schauspielerzelt und tauchten wieder daraus auf. Das Zelt war direkt neben der Straße in der Nähe des Saloons aufgebaut worden, wo gleich dahinter ein Mädchen ermordet worden war. Ermordet von demselben Mann, der Ned ermordet hatte, demselben Mann, der hier saß und atmete, obwohl er von einem Ast hätte baumeln sollen.
***
Als es an der Zeit war, dass die Show begann, trat Bill Thompson vor die Menge, die Platz genommen hatte, und hieß seine neueste Scharfschützin herzlich willkommen, Annie Green. Die Menge jubelte. Zu dieser Zeit gab es im Umkreis von hundert Meilen keinen Mann, der nicht von ihr gehört hatte, und auch keine Frau und kein Kind. Die Menschen kamen mit dem Zug und sogar mit pferdelosen Kutschen, um sie schießen zu sehen; sie war eine lokale Legende und eine regionale Sensation. Ich strahlte. Ich wünschte, Ned hätte sehen können, wie sein kleines Mädchen zu solch einer Frau geworden war.
Annie lächelte und winkte der Menge zu, und das mit mehr Selbstvertrauen, als ich jemals in meinem Leben gehabt hatte oder haben würde. Sie nahm ihre Position ein und feuerte drei Schüsse in schneller Folge ab.
PÄNG, PÄNG, PÄNG.
Jede Kugel traf die Mitte ihrer Zielscheiben oben auf der Plane, die sodann zu Boden fiel und die Kulisse enthüllte, die June gebaut hatte. Alle jubelten, ich jedoch nicht. Mein Lächeln verschwand, und eine tiefe Besorgnis erfüllte meine Seele. June hatte einen Wald aus Sperrholz gebaut, und ich wusste sofort, was meine Töchter zu zeigen planten. Das war der Wald, in dem mein Ned getötet worden war.
„Es war einmal“, rief Annie, „bevor Recht und Gesetz in dieses Land kamen, da gab es Männer, die Mord und Totschlag im Sinn hatten – gesetzlose Männer –, die Städte überall in dieser großartigen Nation heimsuchten.“
Bill Thompson kam aus dem Zelt, ganz in Schwarz gekleidet und mit einem großen, falschen Schnurrbart, der ihm über die Oberlippe hing. Er trug zwei Patronengurte über der Brust und hatte schwarzen Ruß auf seinen Schneidezähnen, damit es so aussah, als ob einer davon fehlte.
„Cole Vance“, fuhr Annie fort, „hatte hinter dem Saloon ein Mädchen ermordet, aber jemand hatte gesehen, wie er mit blutverschmierten Händen den Tatort verließ.“
Der Prediger sah mit zusammengekniffenen Augen zu mir herüber. Ich wich seinem Blick aus und zwang mich zu einem Lächeln, während ich Annie im Auge behielt.
Vom anderen Ende der Kulisse kam ein Mann mit einem weißen, breitkrempigen Hut und ging zur Mitte von Junes Wald. Das Publikum jubelte und johlte für den Helden.
Annie wartete, bis die Menge sich beruhigt hatte, und fuhr dann fort: „Ted Brown war auf dem Weg, um dem Sheriff zu erzählen, was er in jener Nacht gesehen hatte. Er beschloss, den Weg durch den Wald zu nehmen, weil er annahm, das wäre sicherer. Er wusste, dass Cole ihn in der Nacht zuvor gesehen hatte und dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er nach ihm suchen würde. Aber der Mörder Cole Vance hatte das durchschaut und ihm im Wald aufgelauert.“
Bill Thompson blickte finster drein, als er zur Mitte der Bühne ging, und sagte: „Ich habe dieses Saloon-Mädchen umgebracht, und jetzt werde ich den Mann umbringen, der gesehen hat, wie ich dieses Saloon-Mädchen umgebracht habe.“
Ich schnappte nach Luft, und eine ältere Frau, die neben mir saß, tätschelte meine Hand. „Das ist nur gespielt, Schätzchen“, sagte sie.
Aber es war nicht nur gespielt. Sie erzählten die Geschichte von Ned. Vielleicht nicht in allen Einzelheiten, aber genau genug, dass ich mir Sorgen machte. Die Mädchen kannten sein Geheimnis, und das wusste jetzt auch der Prediger.
Sie – wir – waren alle in Gefahr.
***
Ich schaute zu dem Prediger hinüber, der mich mit hasserfülltem Blick anstarrte. Ich wollte hinüber zum Sheriff laufen und ihm alles erzählen, aber was würde er darauf sagen? Wo sind die Beweise? Warum haben Sie Ned nicht schon vor Jahren als ermordet gemeldet?
Dann holte Cole Vance ein Messer aus Holz hervor, das so bemalt war, dass es echt aussah, und stach auf Ted Brown ein, der zu Boden fiel und sich in einer übertrieben dramatischen Todesszene auf dem Waldweg krümmte.
Der bösartige Bill lachte schallend.
Das Publikum buhte den Schurken aus.
„Was für ein übler Kerl“, sagte Annie zu der Menge, die mitlachte, aber verstummte, als Annie ihre Waffe auf den Mann in Schwarz richtete. „Aber dann kam eine junge Frau, die Tochter des Mannes, der gemeuchelt worden war.“
Annie trat vor. Sie war nicht mehr nur die Erzählerin; jetzt war sie eine Figur in dem Stück.
Sie fuhr fort: „Seine Tochter war keine gewöhnliche Lady, sie war ziemlich geschickt im Umgang mit einer Flinte. Manche Leute sagten, sie sei mit einem Gewehr in der Hand und einem Bowie-Messer zwischen den Zähnen geboren worden. Manche Leute sagten, sie sei dazu geboren, um böse Menschen zu töten.“ Annie feuerte einen Schuss ab, der Bill Thompson den Hut vom Kopf riss.
PÄNG.
Sein Gesicht erzählte die Geschichte eines Mannes, der sowohl beeindruckt war von der Treffsicherheit meiner Annie wie auch erschrocken ob ihres Selbstvertrauens. Es war offensichtlich, dass Bill nicht mit diesem Schuss gerechnet hatte, und er benötigte ein paar Augenblicke, um seine Sprache wieder zu finden. Er rieb sich den Kopf und betrachtete seine Hand.
„Du hast meinen Pa getötet“, sagte Annie. „Und jetzt werde ich dich töten. Genau hier. Und heute.“
„Du bist eine … du bist eine gute Schützin … junge Dame“, erwiderte Bill und bemühte sich, seine Stimme nicht vor Angst zittern zu lassen. „Aber beruhigen wir uns erst einmal etwas … und, na ja … beruhigen wir uns einfach.“
Dann feuerte meine Annie einen weiteren Schuss ab, mit dem sie einen krummen Zweig aus Sperrholz nahe am Bühnenrand zersplitterte, in direkter Nähe zum Sheriff und zum Prediger. Bill wich zurück, duckte sich und suchte sofort Deckung. Der Sheriff zuckte zusammen, lachte dann aber, weil er annahm, das gehörte alles zur Show.
Der Prediger, der entweder um sein Leben fürchtete oder seine ehemaligen Taten nicht ertragen konnte, erhob sich und verließ dann die Show. In Richtung Kirche.
Die Frau neben mir beugte sich zu mir und sagte: „Dem schlägt die Gewalt wohl auf den Magen.“
Ich antwortete: „Schon möglich.“ Dann stand ich auf und folgte ihm.
***
Als ich hinter ihm die staubige Straße zur Kirche hinunterging, durchbohrte ich den Kopf des Predigers mit meinen Blicken. Mir war noch nicht klar, wie ich es anstellen sollte, aber ich war entschlossen, ihn zu töten. Ich wusste, dass meine Töchter in der Lage wären, alleine zu überleben. Das hatten sie bereits bewiesen. Aber jetzt wollte ich, dass sie sich sicher fühlen konnten. Ich wollte, dass meine Babys in Sicherheit waren.
Der Prediger betrat die Kirche. Ich kann mir den Grund dafür nicht erklären, aber mein Gang wurde langsamer, als ich mich der Eingangstür des Gebäudes näherte. Da war ein Gefühl der Vorahnung, aber worauf es sich bezog, konnte ich nicht sagen.
PÄNG.
Ich stand da, nur wenige Schritte von der Kirche entfernt, und mein Herz raste. Eine Menschenmenge erschien hinter mir, dort, wo im weiteren Verlauf der Straße die Show unterbrochen worden war, als man den Schuss gehört hatte. Sie sahen mich erwartungsvoll an. Ich drehte mich um und rannte in die Kirche. Als ich die Kirchentüren öffnete, stieg mir sofort der Geruch von Schießpulver in die Nase. Am Fuß der Kanzel lag der Prediger, verrenkt wie ein Sack mit Abfall. Sein Kiefer war sauber von seinem Gesicht abgetrennt, aber ich wandte meinen Blick nicht ab. Tief in mir drinnen dankte ich Gott für das Blut; ich hatte den Glauben an meinen Herrgott wieder gefunden. Ich sah sie, wie sie die Kirche durch die Hintertür verließ, meine Kate. Meine Blume, meine Gärtnerin; sie hatte den Garten wieder von einem Unkraut befreit. Dann dämmerte es mir: Das Bühnenbild, das June gebaut hatte, die Szene, die von meiner Annie geschrieben und aufgeführt wurde, all das diente dazu, den Prediger zurück zur Kirche zu treiben, weg von den Zuschauern. Sie hatten ihm vor seiner Hinrichtung die Beweise für seine Verbrechen gezeigt. Sie hatten ihn gemeinsam getötet.
Ich trat aus der Kirche, als der Sheriff angerannt kam, und ich rief: „Man hat den Prediger ermordet! Ich habe den Mörder gesehen. Er hat einen Vollbart.“ Dann tat ich so, als wäre ich nahe davor umzukippen, und lehnte mich schwer an die Schulter des Sheriffs.
Der Sheriff setzte mich auf den Treppenstufen ab und tätschelte meine Hand. Er zog seinen Revolver und ging in die Kirche hinein. Er war auf der Suche nach einem Mann mit Bart, einem Mann, den er nie finden würde.
IV.
An jenem Nachmittag saßen wir unter der Weißeiche auf der Bank, die June gebaut hatte, und Annie las uns allen aus Neds Buch vor. Kate hatte frische, kühle Gurken für uns mitgebracht, die beim Essen zwischen unseren Zähnen knackten. Überall um uns herum hörten wir die Vögel zwitschern und die Insekten an unseren Ohren vorbeizischen; es war eine lebendige, blühende Welt. Ich atmete aus.
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024
Fußnoten
(1)
Brief an die Hebräer, Kapitel 13, Vers 17
(2)
„Personal Recollections of Joan of Arc“ (dt.: Persönliche Erinnerungen an Jeanne d’Arc) erschien seit April 1895 in Fortsetzungen in Harper’s Magazine und im Mai 1896 in Buchform.
|
Frankie LAINE - Hell Bent for Leather! [LP 1961 - Original: Columbia CL-1615] |