Sonntag, 22. Dezember 2024

SELTZER - Eingeschneit


Eingeschneit

von Charles Alden Seltzer


(Orig.: „Seven-Up's Christmas“, 1912; übersetzt von Reinhard Windeler)

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Nein, früher war nicht alles besser. Schon vor 75 Jahren wurde versucht, Leser für dumm zu verkaufen. „Alle Geschichten brandneu“ versprach 1949 das Cover der Dezember-Ausgabe des Pulp-Magazins „Giant Western“, und das galt somit auch für die auf Seite 98 beginnende Kurzgeschichte „Seven-Up’s Christmas“. Man vertraute offenbar darauf, dass den damaligen Lesern nicht bewusst war, dass der Autor Charles Alden Seltzer (1875 – 1942) schon seit gut sieben Jahren nicht mehr am Leben war. 
Tatsächlich hatte „The Outing Magazine“ die Story bereits 1912 in seiner Dezember-Ausgabe  erstmals veröffentlicht, worüber man aber 37 Jahre später kein Wort verlor. Bill Pronzini und Martin H. Greenberg nahmen sie 1990 in die von ihnen herausgegebene Anthologie „Christmas Out West“ auf. Im AKWA-Journal erfährt sie nun – nach gerade einmal 112 Jahren – ihre deutschsprachige Première.

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I.

Der alte Seven-Up stellte sich in die Tür seiner Erdhütte, als Laskar angeritten kam.

„Hast du also hergefunden“, sagte er mit einem breiten Grinsen. „Hab’ dich vorgestern gesehen, wie du es eilig hattest, in die Stadt zu kommen, und mir gedacht, dass du um diese Zeit zurück kommen müsstest.“

Er kam heraus und zog den Sattel von Laskars Pferd, während dieser das Zaumzeug abnahm und das Pferd anschließend zur windgeschützten Seite der Erdhütte brachte.

„Hab’ ’n paar Frijoles für dich im Topf. Schmoren seit Sonnenuntergang schön vor sich hin.“

Laskar war voller Vorfreude, als er dem alten Mann in die Erdhütte folgte. Heiße Frijoles und Sauerteigbrötchen aus Seven-Ups Backöfen waren kaltem Speck und Tomaten aus der Dose auf der windgepeitschten November-Prärie vierzig Meilen von zuhause entfernt um Längen vorzuziehen.

Was einer der Gründe war, weshalb Laskar es immer so einrichtete, dass er auf seinem Rückweg von der Stadt an der Erdhütte einkehren konnte. Der andere Grund war Seven-Up.

Nämlich das einfache Kartenspiel, das Seven-Ups Freude und Wonne war. Und wenn ein Oldtimer wie Seven-Up, der fünfundsechzig war und immer noch als Patrouillierer (1) für die Double R arbeitete, willens war, bis fast zum Tagesanbruch aufzubleiben und mit dir Seven-Up zu spielen, dann war das ein ziemlich guter Beleg dafür, dass er dich mochte. Selbst wenn er neun von zehn Partien gewann, wie es normalerweise der Fall war. Seven-Up hatte seinen Spaß daran, Laskar zu beweisen, dass der noch viel zu lernen hatte, ehe er hoffen konnte, auch nur die Grundlagen des „High-Low-Jack“-Spiels (2) zu beherrschen. Aber der Rindermann störte sich nicht daran.

Als der Tisch abgeräumt war, kam die unvermeidliche Einladung.

„Seven-Up?“ fragte der Patrouillierer. Laskar nickte. „Heute hast du keine Chance“, prahlte der alte Mann. „Mir geht’s gut, und wenn’s mir gut geht, dann kriegt sogar der Mann, der das Kartenspiel erfunden hat, kein Bein auf den Boden.“

„Na, du hast jedenfalls nicht vergessen, wie man ordentlich auf den Putz haut“, sagte Laskar und grinste.

„Dafür steche ich deinen Buben gleich im ersten Spiel“, drohte Seven-Up – und sehr zu Laskars Missfallen tat er genau das.

„Schätze, du hast die Karten markiert“, beschuldigte Laskar ihn.

Seven-Up legte seine Karten ab und sah seinen Freund vorwurfsvoll an.

„Du weißt, dass das nicht stimmt, Las“, sagte er. „Ich habe noch nie jemanden betrogen, und ich bin zu alt, um jetzt damit anzufangen. Aber es gibt Männer, die ihre Karten markieren, Las – ich habe sie kennen gelernt. Ich habe einen Mann gekannt, der in jedem Kartensatz, mit dem er spielte, immer alle hohen Karten markierte. Den hat auch nie jemand erwischt – außer mir –, und da war es schon zu spät.“

Er gab ein sonderbares Lachen von sich, nahm den Herzbuben, legte ihn mit der Vorderseite nach unten hin und drückte das Ende seines Daumennagels gegen die Rückseite, um einen Eindruck zu hinterlassen.

„Siehst du das? Es ist in einer Ecke, aber es ist rund, so wie mein Fingernagel.“

„Ja“, sagte Laskar. „Eine Art Halbkreis.“

„Das stimmt. Also, der Mann, den ich meine, der hat keinen Halbkreis gemacht, wenn er die Karten markiert hat. Er hatte einen Daumen, der irgendwann einmal gequetscht worden war, und der Nagel ist so krumm gewachsen, wie der Mann krumm war, dem er gehörte. Er war nicht rund, sondern flach und eckig, und wenn er damit in einer Ecke draufdrückte, gab es ein kleines Viereck. Oder ein Dreieck oder ein Kreuz, damit er verschiedene Karten markieren konnte. Oh ja, er hatte ein gutes System. Also, ich –“ 

Seven-Up schien Laskar ins Vertrauen ziehen zu wollen, überlegte es sich aber offenbar anders und lachte stattdessen schroff.

„Du gibst“, sagte er, und sie nahmen das Spiel wieder auf.

***

Um drei Uhr morgens war Laskar überzeugt, dass Seven-Up in dieser Nacht unschlagbar war. Etwas verärgert legte er sich schlafen, während Seven-Ups schadenfrohes Kichern in seinen Ohren klang.

Einige Zeit später setzte sich Laskar plötzlich in seiner Koje auf und war hellwach. Der Wind heulte und kreischte um die Dachtraufe der Erdhütte und schlug in heftigen Böen gegen die Nordwand. Das Feuer im Adobe-Kamin brannte schwach, und Laskar war trotz seiner dicken Decke durchgefroren. Er strich mit der Hand über die Decke und stieß einen überraschten Ausruf aus.

„Schnee!“

Im Nu war er aus der Koje und ging zur Tür.  Er riss sie auf und wurde von einem bitterkalten, peitschenden, schneebeladenen Wind zurückgedrängt, von dem die Welt draußen erfüllt war.  Er machte die Tür zu und stand einen Moment mit finsterem Blick da. Dann ging er zu Seven-Up und rüttelte ihn wach.

„Raus aus den Federn!“ befahl er. „Das Wetter ist umgeschlagen!“

Seven-Up kletterte aus seiner Koje und ging zum Fenster, durch das Schnee in Laskars Koje rieselte.

„Ein Sturm aus dem Norden“, sagte Seven-Up leidenschaftslos. „Ich patrouilliere heute nicht – und vielleicht die nächsten Tage auch nicht. Und du gehst nicht nach Hause. Vierzig Meilen. Bei dem Wetter würdest du nicht einmal fünf schaffen.“

„Als ob ich das nicht wüsste!“, sagte Laskar mit finsterem Blick. „Das brauchst du mir nicht sagen.“

Seine Frau würde sich Sorgen um ihn machen. Oder vielleicht auch nicht. Sie könnte denken, dass er seinen Aufbruch aus der Stadt verschoben hatte.

Laskar knöpfte seinen Mantel zu und ging hinaus. Der Wind fegte ihn fast von den Füßen – ein wirbelnder, stechender, blendender Wind, der seine Kleidung mühelos durchdrang.

Vom Himmel war nichts zu sehen, ein wirbelnder weißer Nebel verhüllte ihn. Orientierungspunkte waren ausgelöscht. Er versuchte nach Norden zu blicken – nach Hause. Der feine, kieselige Schnee blendete ihn, und der Wind raubte ihm den Atem.



II.

Er suchte sein Pferd und fand es eng an die Wand der Erdhütte geschmiegt. Das Tier gab ein flehendes blubberndes Wiehern von sich, als es ihn sah, und er band es los und führte es in den windgeschützten Schuppen, neben Seven-Ups Pferd. Er fütterte beide Tiere und kämpfte sich zurück zur Erdhütte.

Seven-Up rührte seelenruhig die Frijoles im Topf um. „Na, gehst du nach Hause?“ fragte er, als Laskar eintrat.

Laskar sagte ihm, wohin er gehen konnte.

„Ich sag’ dir was“, meinte Seven-Up, während sie aßen. „Dieser Nordsturm erinnert mich an den, den wir letztes Jahr hatten. Auch ungefähr um diese Zeit. Das war einer von der heftigen Sorte. War früh dran, blieb aber einen ganzen Monat. Letztes Jahr hab’ ich’s zu Weihnachten nicht in die Stadt geschafft.“

„Ich werde Weihnachten zuhause sein!“, erklärte Laskar.

„Aber sicher. Heute ist erst der erste Dezember. Ich schätze, das wird nicht lange anhalten.“

Seven-Up füllte seinen Teller mit einer weiteren Portion Frijoles, aber Laskar verzichtete auf eine zweite Ladung Bohnen.

Den Rest des Tages verbrachten sie mit Kartenspielen – Seven-Up. Sie gingen früh zu Bett, und als Laskar am nächsten Morgen eifrig den Kopf aus der Tür steckte, tobte der Blizzard mit unverminderter Heftigkeit. Er schloss die Tür und ging schweigend zurück zum Feuer. Er warf ein frisches Holzscheit hinein, setzte sich und starrte düster in die Flammen.

Zum Frühstück gab es Bohnen und Sauerteigbrötchen. Bis zur Mittagszeit spielten sie Karten. Da keiner der Männer hungrig war, ließen sie diese Mahlzeit aus und spielten weiter, bis es Zeit fürs Abendbrot war. Zum Abendessen gab es wieder Frijoles und Sauerteigbrötchen. Danach setzten sie das Kartenspielen fort. Immer Seven-Up. Das war das einzige Spiel, das Seven-Up kannte – das einzige, das er kennen wollte. Nichts anderes kam für ihn in Frage.

Die Quote von Seven-Ups Siegen lag bei etwa neun von zehn. Laskar war so oft geschlagen worden, dass er Seven-Ups unheimliches Glück nicht mehr lustig fand. Beide machten keine Scherze mehr über das Spiel und spielten mit grimmigem Ernst und einer verborgenen Feindseligkeit, die Ärger versprach. Es war Mitternacht, als sie aufhörten. Laskar hatte drei Spiele gewonnen, Seven-Up siebenundzwanzig.

Am nächsten Morgen hatte der Blizzard nicht nachgelassen, sondern er tobte heftiger denn je.

„Wir stecken wirklich fest“, klagte Laskar, als er durch einen fünf Zentimeter großen Spalt in der Tür spähte. „Wahrscheinlich bleiben wir bis zum Frühling hier. Da sind ein paar Viecher am Wandern – sogar ’ne ganze Menge. Zäune halten sie bei diesem Sturm nicht auf.“

„Nichts wird sie aufhalten“, pflichtete Seven-Up bei. „Wenn der Sturm anhält, werden die Mexikaner im nächsten Jahr reichlich Vieh haben – wenn es nicht erfriert, bevor es zum Rio Grande kommt.“

Laskar schloss die Tür, kam an den Tisch und gähnte. „Könnten genauso gut Seven-Up spielen“, sagte er. 

„Willst du ’n paar Frijoles?“ erkundigte sich Seven-Up.

Laskar reagierte mit einem plötzlichen Wutanfall. „Ich habe diese Bohnen satt!“ schnauzte er. 

„Quatsch“, sagte Seven-Up beschwichtigend, „die sind völlig in Ordnung, wenn man nichts Besseres hat.“ 

„Dann iss sie“, höhnte Laskar. „Es gibt Leute, die wollen nichts Besseres. Es hängt alles davon ab, wie ein Mann aufgewachsen ist.“

Seven-Up antwortete nicht und widmete sich seinen Frijoles. Nun waren Tischmanieren nie etwas gewesen, über das er sich Gedanken gemacht hatte – und Laskar übrigens auch nicht. Seven-Up aß, wie er immer aß, mit seinem Messer, laut kauend und mit offenem Mund. Es war weder ein schöner Anblick noch waren die Geräusche angenehm zu hören. Und Laskar war kaum besser. Doch während er zusah, grinste er höhnisch und mit bösartigem Blick.

„Vielleicht solltest du lieber aufhören wie ein Schwein an einem Futtertrog zu fressen“, sagte er nach kurzer Zeit. Seiner Stimme zischte vor unterdrückter Wut.

Seven-Up sah ihn leicht überrascht an. „An meiner Art zu essen ist nichts auszusetzen“, sagte er. „Ich habe schon immer so gegessen und werde jetzt nicht damit aufhören.“ Er hob eine weitere Messerklinge mit Bohnen hoch.

„Tu’ das runter!“ fauchte Laskar. Er zog seinen 45er und hielt die Mündung dicht vor Seven-Up.  Sein Blick war wutentbrannt. „Es ist mir egal, wie du gegessen hast“, erklärte er. „Du wirst nicht wie ein Schwein fressen, solange ich dich im Blick habe!“

Seven-Up ließ das Messer langsam sinken. „Las“, sagte er sanft, „du bist nicht von Natur aus böse. Hier eingesperrt zu sein, geht dir auf die Nerven. Und schon so schnell. Ich hatte gehofft, dass wir miteinander auskommen würden. Letztes Jahr habe ich es zwanzig Tage ausgehalten, bevor ich anfing, mit mir selbst zu streiten und mir Sachen einzubilden.“

Laskar steckte seinen Revolver ein und grinste verlegen. „Ich schätze, das ist so“, stimmte er zu. „Es liegt nicht daran, wie du isst. Es liegt an mir. Merkwürdig, was einen stört, wenn man sich eingesperrt vorkommt.“

„Sehr merkwürdig“, bestätigte Seven-Up. Er nahm sein Messer wieder in die Hand und begann zu essen, aber mit Bedacht, wobei er sein Essen mit elefantenartigem Feingefühl zerkleinerte.

***

Tagsüber wechselten sie sich an Tür und Fenster ab und beobachteten die vorbeiziehenden Rinder. Es gab eine endlose Prozession von ihnen, mal nur ein Tröpfeln, mal eine wogende Welle aus hageren Körpern und schwingenden Hörnern, die kein menschliches Eingreifen aufhalten konnte.

Später am Nachmittag widmete Seven-Up seine Aufmerksamkeit dem Topf mit Frijoles. Laskar blieb am Fenster, wo er beobachtete und die Stirn runzelte, als ob er das, was ihn davon abhielt, nach Hause zu gehen, nicht verstehen könnte. 

Seven-Up lud ihn nicht ein, die Frijoles mit ihm zu teilen, als er sie dampfend aus dem Topf nahm, weil er fürchtete, sein Zorn könnte wieder aufflammen. Er aß seine eigene Mahlzeit verstohlen und behielt dabei seinen Gast im Auge.

Aber Laskar hatte sich jetzt unter Kontrolle. Sein Zorn war zum Ausbruch gekommen, und damit hatte sich ein Teil der Anspannung gelöst. Er würde nicht noch einmal die Beherrschung verlieren, sagte er zu sich selbst.

Was Seven-Up betraf, hatte er sich seiner Selbstbeherrschung gerühmt, aber am Morgen des zehnten Tages ihrer Gefangenschaft kroch er mit einem seltsamen Leuchten in den Augen aus seiner Koje.

„Das Vieh ist die ganze Nacht hier vorbeigezogen“, sagte er. „Schwarze Rinder – alle schwarz – eine Million davon, und eine Frau hat sie getrieben. Das war meine Tochter. Sie hat gewunken und gesagt, sie würde zurückkommen. Hat zu mir gesagt, ich solle auf sie warten. Aber sie kommt nicht wieder. Ich habe zwanzig Jahre gewartet.“

Er öffnete die Tür und wollte gerade hinausrennen, als Laskar ihn packte, zurückzog und die Tür mit einem Fußtritt zuschlug. Seven-Up wehrte sich, aber seine Kraft reichte nicht an die des jüngeren Mannes heran.

„Lass mich“, flehte er. „Ich gehe raus und suche sie. Sie wird erfrieren!“

„Das würde sie, wenn sie da draußen wäre“, stimmte Laskar zu. „Aber das ist sie nicht. Und deine eigenen Innereien wären ein Klumpen Eis, bevor du eine Viertelmeile weit gekommen wärst.“

Seven-Up brabbelte vor sich hin, als Laskar ihn zu seiner Koje trug und ihn hineinlegte. Aber er beruhigte sich und schlief ein. Als er sich am nächsten Morgen an den Vorfall erinnerte, war er nicht gerade erfreut. Er versuchte, freundlich zu Laskar zu sein, aber das war etwas, das ihnen beiden immer schwerer fiel.

In der Erdhütte herrschte ewige Dämmerung, weil der Schnee gegen die Fenster wehte, und die Luft war schal. Als die Tage vergingen, kletterte der Schnee immer höher.

„Wir sollten den Schnee von da wegschaffen“, sagte Seven-Up am Morgen des fünfzehnten Tages. „Dauert nicht mehr lang, und wir haben überhaupt kein Licht mehr.“

„Dann schaff’ ihn weg“, sagte Laskar knapp.

III.

Seven-Up bekam langsam das Gefühl, dass Laskar ihn ausnutzte. Der jüngere Mann hatte seine Gastfreundschaft angenommen und aß sein Essen. Warum konnte er nicht seinen Teil zur Arbeit beitragen? Er kannte Laskar seit zwei Jahren und hatte ihn immer für einen großzügigen, freundlichen Kerl gehalten, der einem Freund gerne half. Jetzt erschien er ihm klein, gemein und engstirnig. Warum wollte er nichts tun? Er faulenzte, während Seven-Up zur Quelle ging, um Wasser zu holen. Er half weder beim Abwasch noch beim Kochen, und er beschwerte sich über die Bohnen.

Das Einzige, was er tat, war, die Pferde zu füttern. Und jetzt fing Seven-Up an zu glauben, dass er das nur tat, um sein eigenes Pferd zu bevorteilen.

Er beschloss, der Sache nachzugehen, und wartete, bis Laskar eingeschlafen zu sein schien. Seine Hand war schon an der Tür, als er Laskars Stimme hörte:

„Wo willst du hin?“

Seven-Ups Augen funkelten vor Wut. „Du lässt mein Pferd verhungern“, knurrte er. „Ich gehe raus, um es zu füttern!“

Laskar schlüpfte aus der Koje. „Ich lasse dein Pferd verhungern!“ wiederholte er. „Wenn du das gewusst hast, warum hast du es dann nicht selbst gefüttert? Weil du zu faul bist, darum!“

Seven-Up stand steif da, die Hand an der Tür. „Das würde ich nicht noch einmal sagen, Las.“

„Warum nicht?“

„Weil ich’s dir sage. Und wenn du noch ein einziges Mal leise zwitscherst, dass ich faul bin, werde ich das Tageslicht durch dich hindurchlassen!“

So trat er endlich offen zu Tage – der blinde, unvernünftige Hass, der aus dem Hüttenkoller geboren wird. Jetzt war die vorgetäuschte Freundschaft verschwunden. Sie lagen stundenlang da, jeder in seiner eigenen Koje, beobachteten den anderen und spotteten über die kleinen Angewohnheiten, die ihnen unter normalen Bedingungen nie aufgefallen wären. Ihnen gefiel nichts am jeweils Anderen.

Seven-Up kam zu der Überzeugung, dass Laskar vorhatte, ihn zu töten. Er wartete, bis der jüngere Mann wirklich eingeschlafen war, dann ließ er sich hinausgleiten und nahm geschickt Laskars Messer und Revolver weg. Vor insgeheimer Zufriedenheit lächelnd kehrte er zu seiner eigenen Koje zurück und schlief ein.

Aber seine Träume waren voller beunruhigender Dinge. Durch sein Gemurmel geweckt, wachte Laskar auf und lauschte.

„Zwanzig Jahre“, murmelte Seven-Up. „Hab’ sie nicht mehr gesehen. Wahrscheinlich ist sie tot. Oder schlimmer. Bill Henley, er hat sie. Er konnte nicht ehrlich spielen. Das Einzige, was an ihm gerade war, war dieser gerade Daumennagel – und damit hat er geschummelt.“ Dann wurde sein Gemurmel unverständlich, und Laskar hörte nicht mehr zu und schlief wieder ein. 

Am nächsten Morgen waren ihre Lebensmittel aufgebraucht. Indem sie den Topf auskratzten, hatten sie genug Frijoles für das Frühstück, mehr nicht. Wäre Seven-Up nicht gezwungen gewesen, mit Laskar zu teilen, hätte er – selbst bei dem Blizzard – genug gehabt, bis der Double-R-Wagen wieder vorbeikommen würde. Er ließ seiner Bitterkeit freien Lauf.

„Du hast mehr als deinen Anteil gegessen“, beschwerte er sich. „Du bist ein Schweinehund, genau das bist du.“ 

„Du bist ein Lügner!“ sagte Laskar. Sein Blick war von einer fürchterlichen Bösartigkeit.

„Ich sage, du bist ein Schweinehund!“ wiederholte Seven-Up.

Laskar griff an sein leeres Holster.

„Ich hab’s gewusst“, sagte Seven-Up. „Du wolltest mich schon die ganze Zeit umbringen. Deshalb habe ich dir dein Messer und deine Pistole weggenommen. Sie sind versteckt! Ich schätze, ich habe dich reingelegt.“

Laskars Augen bekamen einen Glanz, als er nachdachte. „Ich wollte dich nicht umbringen, Seven-Up“, sagte er. „So was würde ich nie tun. Gib mir mein Messer und meine Pistole, und ich gehe raus und hole deine Tochter. Sie kann nicht weit sein.“

Seven-Up lachte schrill. „Du kannst mir nichts vormachen“, sagte er. „Du willst einfach nur dein Messer und deine Pistole wiederhaben. Mach dir keine Sorgen um meine Tochter. Sie treibt die schwarzen Ochsen hier immer wieder vorbei. Wenn sie das nächste Mal vorbei kommt, krieg’ ich sie selbst.“

Laskar ging zum Fenster und kratzte den Reif von der Scheibe. „Ich glaube, wir sind erledigt“, sagte er. „Sieht nicht so aus, als wenn der Sturm nachlässt.“

***

Er wusste, dass seine eigene Selbstbeherrschung nachließ, denn er glaubte, Dinge im Schnee zu sehen, die dort nicht sein konnten, und manchmal hörte er sich selbst lachen, obwohl es nichts zu lachen gab.

Einmal glaubte er, einen Reiter auf einem schwarzen Pferd zu sehen, der sich der Hütte näherte. Der Reiter war im Sattel nach vorne gesunken und sah wie erfroren aus. Aber Laskar sagte nichts davon, weil er wusste, dass dort in Wirklichkeit kein Reiter war.

Dass Seven-Up seine Tochter erwähnt hatte, ging Laskar nicht aus dem Kopf. Irgendetwas an dieser Geschichte kam ihm bekannt vor. Hatte er sie schon einmal gehört oder war sie irgendwo in seinem eigenen Umfeld passiert? 

„Seven-Up“, fragte er, „wie ist dein richtiger Name?“

Der alte Mann hörte auf, mit den Daumen zu drehen, und seine Augen blitzten listig auf.

„Du willst meinen Namen wissen, damit du Bill Henley sagen kannst, dass er vor mir auf der Hut sein soll. Aber ich verrate meinen Namen nicht! Ich werde ihn niemandem verraten – außer Bill Henley, und wenn ich ihn finde, werde ich ihm meinen Namen sagen!“

Am späten Nachmittag dieses Tages klarte der Himmel auf, es hörte auf zu schneien, und der Wind legte sich. Eine kalte Sonne tauchte die Welt in ein schimmerndes, glitzerndes, blendendes Licht. Aber keiner der beiden Männer bekam es mit. Sie waren in völlige Lethargie versunken und hatten nicht einmal mehr die Energie, sich noch zu hassen.

Zwei Tage lang lagen sie in ihren Kojen und rührten sich nicht einmal, um die Pferde zu füttern. Am vierundzwanzigsten Tag ihrer Gefangenschaft taumelte Laskar aus seinen Decken in die ewigwährende Dunkelheit der Erdhütte.

„Hoch mit dir, alter Blödmann!“ knurrte er und schüttelte Seven-Up. „Wir werden ziemlich bald unsere himmlischen Harfen spielen, und da können wir uns auch gleich einstimmen. Komm, wir spielen Seven-Up.“

Seven-Up kroch aus seiner Koje. Es war unschwer zu erkennen, dass er die Strapazen von Hunger und Einsamkeit nicht so gut verkraftete wie Laskar. Sein Gesicht hatte eine unnatürliche Farbe, und ein irrer Ausdruck lag in seinen Augen. Nur der letzte Teil von Laskars Rede interessierte ihn. 

„Seven-Up?“ sagte er. „Klar spiele ich Seven-Up. Das ist doch mein Name, oder nicht?“

Laskar zog ein Bündel Geldscheine hervor. „Lass uns um etwas spielen“, sagte er. „Ich setze dieses Geld. Wenn du gewinnst, kriegst du es. Wenn du verlierst, sagst du mir deinen richtigen Namen. Einverstanden?“

„Mein Name“, sagte Seven-Up mit belegter Stimme. „Mein Name. Du kannst nicht gewinnen, Las. Ich kann den Mann schlagen, der das Kartenspiel erfunden hat. Klar bin ich einverstanden.“

Laskar gewann nicht. Seven-Up schnappte sich sein Geld und kicherte höhnisch. Pleite, wie er war, nahm Laskar eine Goldkette und ein Medaillon aus seiner Tasche und legte sie auf den Tisch.

„Ich setze das hier“, sagte er.

IV.

Seven-Up zog das Medaillon zu sich heran. Sein Anblick bewirkte eine erstaunliche Veränderung in ihm. Das irre Licht in seinen Augen erlosch und wurde von einem kalten, metallischen Schimmer abgelöst. Die hektische Farbe in seinem Gesicht verwandelte sich in eine seltsame Blässe.

„Las“, fragte er, „woher hast du dieses Medaillon?“

„Es gehört meiner Frau. Was geht das dich an?“

„Wie heißt deine Frau?“

„Amy.“

„Was war ihr Nachname, bevor sie dich geheiratet hat?“

„Legget“, sagte Laskar. Sein Interesse war nun geweckt.

Seven-Up schloss für einen Moment die Augen. „Las“, sagte er, „es ist merkwürdig, dass mir nie aufgefallen ist, dass du einen Daumen verloren hast. Wann ist das passiert?“

„Als ich dreizehn Jahre alt war“, sagte Laskar abweisend. „Was geht dich das an?“

„Du bist ein Lügner!“ kreischte Seven-Up. „Du bist Bill Henley!“

Er griff nach seinem Holster, nur um zu erkennen, dass es leer war. Mit seltsamen kehligen Geräuschen taumelte er zur Tür, riss sie auf und kämpfte sich durch den Schnee zum Schuppen, wo die Pferde angebunden waren. Laskar folgte ihm mit wachsender Angst in seinen Augen.

Als Seven-Up den Schuppen erreichte, kramte er unter einem Haufen schneebedeckten Strohs herum und holte das Messer und die Pistole hervor, die er Laskar weggenommen hatte. Er richtete sich gerade auf, als Laskar sich ihm entgegen warf und wild nach der Hand schlug, die die Waffe hielt.

Es gelang ihm, Seven-Up die Pistole aus der Hand zu schlagen, und sie flog über einen Meter weit weg und vergrub sich in einer Schneewehe.

Seven-Up knurrte wie ein in die Enge getriebener Wolf und versuchte, das Messer einzusetzen, aber Laskar packte seinen Arm.

Eng umschlungen taumelten sie im Schnee umher und kämpften lautlos und erbittert. Seven-Ups Alter war ein Nachteil für ihn, aber er kämpfte mit einer Wildheit, die von seit zwanzig Jahren aufgestauten Rachegelüsten angetrieben wurde.

Ein Dutzend Mal war er kurz davor, seine Messerhand frei zu bekommen. Aber seine Geschicklichkeit rettete Laskar, und Laskars Muskeln erlahmten nicht.

Sie krachten gegen eine Ecke der Erdhütte und wurden von dort gegen den Rand einer gewaltigen Schneeverwehung geworfen. Dort setzte Laskar seine Kraft ein, und er drückte Seven-Up in den Schnee zurück.

Seven-Up verlor das Gleichgewicht, ließ das Messer fallen und ging zu Boden, Laskar auf ihm drauf. Der jüngere Mann lag mit seinem ganzen Gewicht auf Seven-Up.

„Hör auf“, jammerte Seven-Up schwach. „Du tust mir weh, Las. Geh’ runter.“ Er wimmerte vor Schmerz. „Geh’ runter, Las. Ich liege auf einem Stück Fels.“

Laskar drehte sich ein wenig zur Seite, aber um sicherzugehen, schob er eine Hand unter den alten Mann.

Er stieß gegen etwas Hartes, das kein Felsbrocken war und das ihn seine Hand rasch zurückziehen ließ.

„Hilf mir!“ keuchte er.

Gemeinsam kratzten sie den Schnee weg und legten die steifgefrorene Leiche eines Mannes frei. Das Gesicht war das Gesicht des Mannes, den Laskar vor vielen Nächten auf dem schwarzen Pferd reiten gesehen hatte. Er stand auf und fuhr sich mit der Hand über die Augen. Wo war das schwarze Pferd? Automatisch blickte er zum Schuppen. Das schwarze Pferd war da, eingekuschelt zwischen den anderen beiden.

Plötzlich bemerkte er, was Seven-Up tat.

„Heh!“ schrie er.

Seven-Up saß rittlings auf dem Toten, umklammerte dessen linke Hand und schrie vor Wut. „Es ist Bill Henley!“

Zum Beweis hob er die linke Hand der Leiche an, sodass Laskar sie sehen konnte. An ihr befand sich ein seltsam deformierter Daumennagel.

Laskar hielt sich nicht damit auf, die Hand zu untersuchen. Er zog Seven-Up auf die Füße. Sofort geriet er in einen neuen Kampf. Er war dabei zu versuchen, den alten Mann von der Leiche fernzuhalten, als er Rufe hörte und ein halbes Dutzend Cowboys näherkommen sah – seine eigenen Männer.

***


Sie brachten Seven-Up zurück in die Erdhütte und versorgten ihn mit Whisky und Essen. Sie erzählten Laskar, wie sehr seine Frau sich Sorgen um ihn gemacht hatte und wie sie, als der Sturm vorbei war, sich sofort auf die Suche nach ihm gemacht hatten.

An diesem Abend spielten sie Karten, sie tanzten, sie sangen, sie spielten Karten und johlten vor lauter Freude.

Für Seven-Up und Laskar war das alles Musik in ihren Ohren.

Der Weihnachtstag brach klar und kalt an. Seven-Up, immer noch schwach, aber bei klarem Verstand, erwachte vom Geruch des Essenkochens und vom Klang ausgelassener Stimmen.

„Sagt mal“, sagte er, „seid ihr Leute echt oder bilde ich mir immer noch Sachen ein?“ Er sah Laskar an. „Habe ich dich sagen gehört, dass der Name deiner Frau Amy Legget war? Lüg’ mich nicht an, Las“, bat er eindringlich. 

„Ich schätze, das hast du nicht geträumt, Schwiegervater“, rief Laskar laut und reichte ihm die Whiskyflasche.

Seven-Up fuhr sich mit der Hand über die Stirn. „Und habe ich mir Sachen eingebildet, als ich dachte, ich hätte Bill Henley da draußen im Schnee gefunden?“ fragte er zögernd.

„Das war Bill Henley, eindeutig“, sagte Laskar. „Die Jungs haben ihn durchsucht, bevor sie ihn begraben haben, und haben Briefe und andere Sachen gefunden, die beweisen, dass er wirklich Bill Henley war.“

Seven-Up seufzte tief und lehnte sich in der Koje zurück. „Las“, sagte er, „es gibt noch etwas, was ich gerne wissen würde. Ich habe immer gedacht, dass Bill Henley etwas damit zu tun hatte, dass Amy von zuhause weggegangen ist. Hatte er das?“

„Ssscht, du alter Blödmann“, sagte Laskar leise. „Das ist eine andere Geschichte – eine, die Amy dir erzählen wird, wenn wir heute Abend wieder zuhause sind.“

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024


Fußnoten:

(1) Ein „Line Rider“ war ein Cowboy, der von einsamen Posten am Rande des zu einer Ranch gehörenden Gebiets aus an Abschnitten der Grenzlinie der Ranch patrouillierte, um Rinder, die die Linie überschritten hatten, entweder zurück zu holen, wenn es die eigenen waren, oder zu vertreiben, wenn es fremde waren. Patroullierer bildeten gewissermaßen eine Art lebenden Zaun um das Weideland einer Ranch.

(2) „High“ ist beim Seven-Up die höchste Trumpf-Karte, also das Trumpf-Ass; „Low“ ist die niedrigste Trumpf-Karte, also die Trumpf-Zwei; „Jack“ ist der Trumpf-Bube, für den es einen Gewinnpunkt gibt, wenn man ihn sticht.