Freitag, 20. Dezember 2024

PARNHAM - Es war einmal in Mirage


Es war einmal in Mirage

von I. J. Parnham


(Orig.: „One Upon a Time in Mirage“, 2007; übersetzt von Reinhard Windeler)

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Ian Joseph Parnham (Jahrgang 1960) ist der wohl produktivste britische Western-Autor der letzten zwei Jahrzehnte. In Nottinghamshire in England geboren, lebt er mittlerweile am Moray Firth in Schottland.
Eigentlich Buchhalter von Beruf, erschien 2001 sein erster Roman (The Outlawed Deputy), dem seither mehr als einhundert weitere folgten. Etwa zwei Drittel davon haben wiederkehrende Protagonisten, beispielsweise Cassidy Yates, Fergal O’Brien oder Lincoln Hawk. Außer seinem bürgerlichen Nachnamen benutzt er auch die Pseudonyme Scott Connor und Ed Law, letzteres bisher ausschließlich für seine Dalton-Serie, die gegenwärtig achtzehn Bände umfasst.
Auch schrieb er einige Kurzgeschichten, die 2013 bzw. 2016 als „Six-Shooter Tales“ und „More Six-Shooter Tales“ zusammengefasst wurden.
In der hier präsentierten Story ist fast nichts so, wie es den Anschein hat; ein Märchen wird erzählt, aber was für eines! Und von wem?

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T
ucker Crowley schlief, als der neue Gefangene hereingebracht wurde. Er lugte mit seinem Kopf unter seiner Decke hervor, als Sheriff McAllen dem Gefangenen einen Stoß versetzte, sodass er auf den Boden fiel, wo er auf seiner Hüfte gegen die andere Pritsche rutschte.

Der Gefangene schnappte nach Luft. Dann sprang er auf und warf sich gegen die Zellentür, doch McAllen hatte sie bereits zugeschlagen und verriegelt und einen Schritt zurück gemacht. Dennoch packte der Gefangene die Gitterstäbe und rüttelte daran.

„Sparen Sie Ihre Kräfte“, sagte McAllen höhnisch. „Sie werden sie brauchen.“

„Ich habe noch genug, um es mit Ihnen aufzunehmen“, schrie der Gefangene und spuckte dann einen Klumpen Speichel aus, der McAllen an der Schulter traf und von dort auf seinen Stern tropfte.

Mit dem Handrücken wischte McAllen seinen Stern ab. 

„Darüber werden wir uns später noch einmal unterhalten“, sagte er und ging dann zurück zu der Tür, die zu den Zellen führte.

„McAllen hat nicht mit vielem recht, aber damit schon“, sagte Tucker, der jetzt hellwach war, als die Tür zuschlug und die Schlüssel klimperten. „Du wirst hier drin noch viel Zeit mit deiner Wut verbringen, wenn du dich nicht beruhigst.“

Der Gefangene betrachtete seine trostlose Umgebung: zwei Zellen, an drei Seiten vergittert, die rückwärtige Wand aus Stein, und zwei schnarchende Saufnasen in der anderen Zelle.

„Ich schätze, du hast recht“, sagte er. Er ließ sich auf die freie Pritsche fallen.

Der Grund für die Wut des Gefangenen war klar. Seine Knöchel wiesen blutige Kratzer auf, eine Lippe war aufgeplatzt und hatte seine Zähne besudelt, und seine Wange zierte ein dunkler blutunterlaufener Fleck.

„Hat McAllen dir übel mitgespielt?“

„Nicht so übel wie ich ihm.“

Der Gefangene stieß ein wehmütiges Lachen aus, das Tucker erwiderte. Sie tauschten Namen aus, und so erfuhr Tucker, dass er seine Zelle mit Durango Jones teilte.

„Und was hast du angestellt, dass man dich hier reingeworfen hat?“ fragte Tucker.

„Was geht dich das an?“ knurrte Durango, und seine kurzzeitig freundliche Stimmung war im Nu verflogen. 

„Hey“, sagte Tucker und hob seine Hände. „Ich wollte nur ein wenig reden. Wir können hier nicht gerade viel tun außer reden.“

„Es hat keinen Sinn, dass ich meine Luft damit verschwende. Ich habe nicht vor, lange hier drin zu bleiben.“

Durango deutete auf das kleine Gitter in der rückwärtigen Wand, durch das die Strahlen des tiefstehenden Mondes fielen.

„Dann wünsche ich dir viel Glück mit deinen Träumen. Ich habe meinen ersten Monat hier damit verbracht, Fluchtpläne zu schmieden, bis mir klar wurde, dass es unmöglich ist, und nach dieser Nacht wird es keine Rolle mehr spielen.“

Tucker legte sich wieder hin und bettete seinen Kopf auf seinen Händen. Er hatte Durango eine Gelegenheit zum Reden gegeben, aber wenn er das Angebot nicht annahm, konnte er einfach seinen unterbrochenen Schlaf fortsetzen.

„Wieso?“ fragte Durango. „Was passiert denn morgen?“

Tucker lächelte. „Ich werde für zehn Jahre nach Denver verfrachtet.“

„Wofür hast du die denn gekriegt?“

„Wofür nicht?“ Tucker schwang seine Beine auf den Boden und beugte sich vor. Er senkte seine Stimme. „Für die Sachen, die ich getan habe, hätte ich zehnmal gehängt werden können, aber sie haben mich nur wegen Pferdediebstahls dran gekriegt.“

„Und, was hast du sonst noch gemacht?“

Tucker überlegte, ob er ehrlich antworten sollte. Er hatte seinen ersten Mann mit sechzehn getötet, die nächsten zehn Jahre damit verbracht, dem schnellen Geld nachzujagen, und er war sich nicht sicher, wie viele Männer er bei dieser Jagd getötet hatte. Aber da sein Mitgefangener so verschlossen war, verspürte er kein Bedürfnis, mehr von sich verraten.

„Du musst aufpassen, was du hier drinnen sagst. Die Ratten haben Ohren, wenn du verstehst, was ich meine.“ Tucker streckte sich wieder aus. „Also du zuerst. Was hast du angestellt, dass man dich hier reingeworfen hat?“

Durango seufzte. Er stand auf, legte die drei Schritte bis zur Rückwand zurück und machte dann einen Satz, um gegen das Gitter zu schlagen. Nachdem er den Rundgang durch die Zelle beendet hatte, ließ er sich zurück auf seine Pritsche fallen und nahm die gleiche Haltung ein wie Tucker.

„Das ist eine lange Geschichte.“

„Ich habe die Zeit, sie mir anzuhören, vorausgesetzt, du bist bis morgen fertig.“

Durango räusperte sich, sagte aber nichts, während er überlegte, ob er sein Verbrechen preisgeben sollte. Dann brummte er, als hätte er eine Entscheidung getroffen, und fing an zu reden. Seine Stimme war leise und melodisch und lieferte gerade genug Details, um Tucker die Augen schließen zu lassen und sich vorstellen zu können, dass außerhalb seiner kleinen Zelle tatsächlich noch eine Welt existierte…

***

Walker Beck gab mir ein Zeichen, die Hütte, deren Wände aus Fellen bestanden, zu betreten. Wie er versprochen hatte, war er allein. Er saß an einem Tisch, seine Hände lagen auf der Tischplatte.

„Also, haben Sie das Geld?“ fragte er.

„Ja, aber nur, wenn Sie Mance Ryker haben“, sagte ich.

„Ich weiß, wo er ist.“ Walker lehnte sich in seinem Stuhl zurück. „Warum wollen Sie ihn haben?“

Ich hatte diese Frage viele Male beantwortet und nie einen Grund gesehen, mein Anliegen zu verheimlichen.

„Mein Name ist Durango Jones. Vor drei Jahren hat Mance Ryker meinen Bruder getötet.“

Walker breitete seine Hände in einer wohlwollenden Geste aus. „Dann können Sie ihn haben, sobald ich das Geld habe.“

So lief es immer ab, bis zu dem Moment, in dem ich erfuhr, ob ich echte Informationen bekommen würde, die mich Mance näher bringen würden, oder ob ich einfach einen weiteren Betrüger töten müsste. Ich griff mit der linken Hand in meine Jacke und hielt dann inne.

„Geben Sie mir einen Beweis. Erzählen Sie mir etwas über Mance Ryker, das nur jemand wissen kann, der ihn kennt.“

Walkers kleine Augen musterten meine rechte Hand, die neben meinem Holster baumelte, und meine verborgene linke Hand, die vielleicht eine versteckte Waffe hielt – oder auch nicht.

Er lächelte. „Also gut, Sie sind nicht der einzige Mann, der Geld für Mance bietet.“

Ich dachte über diese Information nach, die für mich neu war, als Walkers Blick nervös über meine Schulter huschte und seine wahre Absicht verriet. Ich nickte, als wollte ich mehr hören, woraufhin Walker sich entspannte, und dann riss ich meinen Revolver aus dem Holster, wobei ich mich in der Hüfte drehte, während meine linke Hand aus meiner Jacke hervorschoss.

Ich jagte Blei dort durch die Fellwand, wo Walker hingesehen hatte. Ein schmerzerfüllter Aufschrei ertönte im selben Moment, als ich das Loch in der Wand bemerkte, durch das der getroffene Mann mich beobachtet hatte.

Dann drehte ich mich wieder um. Walker fummelte nach seiner eigenen Waffe, aber bevor er sie aus dem Leder hatte, stieß ich ihm mit einem Tritt den Tisch ins Gesicht, sodass er rückwärts von seinem Stuhl fiel. Er landete auf dem Rücken und schüttelte sich, aber da war ich schon über den Tisch gesprungen und hatte ihm meinen Revolver so fest unters Kinn gestoßen, dass ich Zweifel hatte, dass er seinen Mund weit genug öffnen konnte, um meine Frage zu beantworten.

„Ich biete kein Geld mehr für Mance, sondern nur noch Ihr Leben“, sagte ich. „Reden Sie!“

„Sie haben einen großen Fehler gemacht“, blökte Walker mit zusammengebissenen Zähnen. „Sie haben gerade einen Hilfssheriff erschossen. Lorne Wright. Die Behörden suchen auch nach Mance. Sie zahlen gutes Geld für Informationen über jeden, der nach ihm fragt.“

„Ein gesuchter Mann zu sein, macht mir keine Sorgen. Jetzt reden Sie!“

„Sie haben nicht verstanden, was ich meine.“ Walker lachte schnaubend und hohl, es war wahrscheinlich das letzte Mal, dass er sich amüsierte. „Lorne ist nicht der einzige Gesetzeshüter, der sich für Mance interessiert.“

Walkers Augen flackerten und deuteten an, dass ich doch noch etwas übersehen hatte. Diesmal bemerkte ich es zu spät.

„Lassen Sie ihn los“, sagte eine entschlossene Stimme hinter mir.

Schritte waren zu hören, als ein Mann, vermutlich ein anderer Gesetzeshüter, seine Position bezog. Walker hatte recht. Ich hatte einen Fehler gemacht, und zwar einen schlimmen. Ich wägte meine Chancen ab, es mit einem Mann aufzunehmen, der sehr wahrscheinlich eine Waffe auf meinen Rücken gerichtet hatte.

Dann stieß ich Walker zu Boden. Ich richtete mich auf, hob meine rechte Hand und ließ den Revolver fallen …

***

Und so bist du hier gelandet“, sagte Tucker. „Nun, zumindest hast du einen Mann des Gesetzes umgelegt.“

Das Funkeln in Durangos Augen zeigte seine Verärgerung darüber, dass seine Geschichte unterbrochen wurde.

„Ich war noch nicht fertig“, sagte er. „Ich habe dir gesagt, dass es eine lange Geschichte ist, und so bin ich nicht hier gelandet.“

„Du meinst, der Beamte hat dich nicht verhaftet?“

Durango lachte. „Er hat’s versucht, nur hatte ich tatsächlich eine zweite Waffe, von der ich dir erzählt hätte, wenn du den Mund gehalten hättest, und auch, dass das vor sechs Monaten und jenseits der Staatengrenze in Newton passiert ist.“

„Also bist du entkommen.“

„So ist es. Ich habe den anderen Deputy gekillt und Walker dazu gebracht, es so sehr zu bereuen, mich hintergangen zu haben, dass er mich am Ende anflehte, ihn zu töten, und ich bin seinem Wunsch nachgekommen. Aber nicht, bevor er mir erzählt hat, was ich über Mance Ryker wissen wollte. Und es war eine gute Information, auch wenn sie einen anderen Preis hatte.“ 

„Was für einen Preis?“

„Ich werde es dir sagen, vorausgesetzt, du bleibst still“, sagte Durango und drohte Tucker tadelnd mit einem Finger.

***

Ich stand vor Jim Crests Laden, hatte einen Fuß angehoben und ihn flach an die Mauer gedrückt, während ich rauchte und den Eindruck vermittelte, als würde ich den Tag vertrödeln. Vor den wenigen Leuten, die vorbeikamen, tippte ich an meinen Hut, damit ich niemanden beunruhigte.

Schließlich sollte es ja nicht so aussehen, als würde ich gleich die Bank der Stadt ausrauben. Ich hatte schon viele fragwürdige Dinge tun müssen, seit ich es mir zur Lebensaufgabe gemacht hatte, den Mann aufzuspüren und zu töten, der meinen Bruder erschossen hatte.

Das hier war die schlimmste Sache. Die Leute, die ich bisher töten musste, hatten entweder beabsichtigt, mich zu töten, oder sie standen zwischen mir und meiner Mission, aber dieses Mal hatte ich bewusst vor, das Gesetz zu brechen. Walkers Information hatte mich zu Tex Cody und seiner bunt zusammengewürfelten Truppe von Banditen geführt.

Mance Ryker ritt mit diesen Männern, behauptete Walker. Ich hatte vier Monate gebraucht, bis ich sie gefunden hatte, und einen weiteren Monat, um nahe genug heranzukommen, um sie beobachten zu können, aber da war Mance schon weitergezogen.

Also erschlich ich mir mühsam das Vertrauen von Tex und stellte fest, dass er bereit war, über Mance zu sprechen, aber erst, nachdem er mich auf die Probe gestellt hatte. An diesem Tag würde ich beweisen, dass ich ein Mann war, dem er vertrauen konnte. Tex war auf der gegenüberliegenden Straßenseite, wo er sich ebenfalls unbekümmert verhielt und mir gelegentlich geheime Signale zukommen ließ, die mich über den Gang der Dinge auf dem Laufenden hielten. 

Nicht, dass ich diese Informationen gebraucht hätte, als seine Banditen in die Stadt ritten. Sieben Männer hielten vor der Bank an und gingen im Gänsemarsch hinein. Ich stieß mich, genau wie Tex, von der Mauer ab, um die weitere Entwicklung abzuwarten.

Es dauerte nicht lange. Zwei Männer kamen mit über die Schulter geworfenen Satteltaschen eilig heraus. Sie nahmen Positionen seitlich neben der Tür ein, schwenkten ihre Waffen hin und her und beobachteten genau die fast menschenleere Straße, während die anderen Männer rückwärts heraus kamen und dabei für den Fall, dass es Ärger gab, ihre Waffen ins Innere richteten.

Nicht, dass es Ärger gegeben hätte. Tex hatte den Überfall sorgfältig geplant, und seine Männer führten ihn bisher mit überraschender Schnelligkeit und ohne einen einzigen Schuss abzufeuern durch. Dann fiel mir etwas auf, oder genauer gesagt, mir fiel auf, dass etwas nicht da war.

Ich kannte mich in dieser Stadt nicht aus, aber es waren nur sehr wenige Leute unterwegs, fast so, als ob… Ich ging die Straße hinunter in Richtung der Bank, während sich Tex auf der anderen Straßenseite zu mir umdrehte und sich fragte, warum ich mich nicht an die Anweisungen hielt.

Der Grund für mein Unbehagen wurde bald klar. Eine Reihe von Gesetzeshütern erhob sich hinter der falschen Fassade auf dem Dach des Saloons gegenüber der Bank, und alle schossen gleichzeitig. Ihr Dauerfeuer streckte vier der Banditen nieder, bevor sie überhaupt herausfinden konnten, woher die Schüsse kamen.

Selbst die Erkenntnis, dass sie in eine Falle getappt waren, half ihnen nicht. Zwei Männer gingen hinter ihren Pferden in Deckung und feuerten hinauf zum Saloon, doch nun kamen sie von den Seiten her unter Beschuss, als sich weitere versteckte Gesetzeshüter bemerkbar machten.

Beide Männer taumelten zum hölzernen Gehsteig. Ich konnte ihnen nicht helfen, nicht, dass ich mein Leben aufs Spiel hätte setzen wollen, denn es war ja Tex, der mir alles über Mance erzählen konnte, was ich wissen musste. Ich ließ meine Waffe im Holster und machte auf dem Absatz kehrt, um rasch an meinem Pferd vorbei zu gehen und den Eindruck zu erwecken, ich wäre unbeteiligt und würde nur der Schießerei entkommen wollen, aber Tex überraschte mich mit seiner Loyalität. 

Er rannte los und stürmte über die Straße auf den einzigen überlebenden Mann zu. Er erreichte ihn gerade, als der Mann eine Kugel in den Rücken bekam, die ihn in die Knie zwang. Tex kam schlitternd neben ihm zum Stehen und hielt ihn einen Moment lang aufrecht, aber ich hatte sein Handeln falsch verstanden.

Sein Mut ging nicht so weit, dass er tollkühn gewesen wäre. Er riss dem sterbenden Mann die Satteltasche von der Schulter, ließ ihn zu Boden fallen und rannte dann von der Bank weg. Ich ging in eiligem Tempo weiter, als Tex an mir vorbeirannte.

Er erreichte sein Pferd und wollte aufsteigen, doch dann mussten die Gesetzeshüter auf dem Saloondach entschieden haben, dass er kein die Situation ausnutzender Passant, sondern doch ein Bandit war. Eine Salve von Schüssen prasselte um ihn herum.

Die meisten verfehlten ihn, doch dann platzte etwas Rotes aus seiner Seite und warf ihn zu Boden, wobei seine ausgestreckte Hand die Satteltasche von seinem Reittier zog. Er lag ausgestreckt da, bis das Echo des letzten Schusses verhallte, und kämpfte sich dann auf die Knie.

Ich wollte nicht, dass die Bemühungen von fünf Monaten bei meiner Suche nach Mance zunichte gemacht wurden. Also nahm ich mein Pferd und schlängelte mich hinaus auf die Straße. Als mein gemütlicher Spazierritt mich zufällig an Tex vorbei führte, untersuchten die Gesetzeshüter ganz offen die, die sie erledigt hatten, als erwarteten sie keinen Ärger.

„Kannst du reiten?“ fragte ich Tex.

„Bring’ mich einfach da rauf“, sagte Tex, und seine entschlossene Äußerung waren die einzigen Worte, die ihn retten konnten.

Ich half dem verwundeten Tex auf sein Pferd. Dann stieg ich auf, und wir galoppierten aus der Stadt. Als ich das letzte Gebäude passierte, warf ich einen prüfenden Blick zurück. Die Gesetzeshüter hatten unsere Flucht gesehen und hasteten gerade zu ihren Pferden …

***

So bist du also hier gelandet“, sagte Tucker. Er stieß einen leisen Pfiff aus. „Das ist hart für dich. Sie werden dich behandeln, als wärst du ein Bankräuber, auch wenn du nur Tex geholfen hast.“

„Das würden sie, wenn das der Grund wäre, warum ich hier bin“, sagte Durango in gereiztem Ton. 

Tucker schnaubte. „Du meinst, sie haben dich nicht erwischt?“

„Nö, aber das hättest du herausgefunden, wenn du mich nicht wieder unterbrochen hättest.“

„Hey, als du gesagt hast, das sei eine lange Geschichte, habe ich nicht erwartet, dass sie so lang wird“, sagte Tucker und hob seine Hände.

„Die Leute haben immer gesagt, ich rede zu viel.“

„Das tust du.“ Tucker seufzte. „Aber ich beschwere mich nicht. Warum also bist du hier drin?“

„Dazu komme ich noch, wenn du mich lässt.“ Durango holte tief Luft, bevor er fortfuhr, nachdem Tucker ein aufmunterndes Brummen von sich gegeben hatte. „Es war schon spät in der Nacht, bevor wir uns ausruhen konnten. Diese Gesetzeshüter waren hartnäckig, und ich war mir sicher, dass sie immer noch da draußen nach uns suchten, aber ich hatte keine andere Wahl, als eine Pause einzulegen. Tex ging es schlecht.“

***


Ich trat Tex in die Seite, um herauszufinden, ob er noch lebte, und erhielt als Antwort ein keuchendes Stöhnen, bevor er seine gequälten Worte herauspresste.

„Hilf mir“, keuchte er.

„Das werde ich, wenn du mir sagst, was ich wissen will“, sagte ich.

„Mance Ryker muss den Beamten einen Tipp gegeben haben, also werde ich reden, aber ich weiß nicht viel. Harlow allerdings schon. Hilf mir, und ich erzähle dir von ihm.“

Ich kniff die Augen zusammen. Meine Stimme nahm einen der Welt überdrüssigen Ton an, den ich nicht vortäuschen musste. 

„Und wer ist Harlow?“

Tex sagte es mir, also half ich ihm, obwohl ich keine Zeit damit verschwendete, ihn hinterher zu begraben. Offenbar wartete dieser Harlow in einem Versteck mit frischen Pferden auf Tex. Danach hätte sich die Gruppe zerstreut, um eine eventuelle Verfolgung so schwer wie möglich zu machen.

Als ich am Treffpunkt ankam, saßen vier Männer um ein niedriges Feuer herum und stritten darüber, ob sie hereingelegt worden waren. Ich ging kein Risiko ein und blieb im Schatten. Ich schleuderte eine leere Satteltasche in die Mitte ihres Lagers.

Alle vier Männer sprangen mit gezogenen Waffen auf. Eindringlich schauten sie in alle Himmelsrichtungen und versuchten herauszufinden, wo ich war.

„Wer ist da?“ Aufgrund von Tex’ Beschreibung wusste ich, dass es Harlow war.

„Ich bin Durango Jones, aber ihr kennt mich nicht. Ich bin erst seit kurzem bei Tex.“

„Wo ist Tex?“

„Er kommt nicht. Wir sind in eine Falle gelaufen. Ich bin der Einzige, der davongekommen ist.“

„Wie praktisch, dass ausgerechnet der einzige Mann, den ich nicht kenne, davonkommt.“

„Vielleicht ist es das, aber ich bin derjenige, der hier ist, und ihr müsst jetzt mit mir klarkommen. Ich habe fünftausend Dollar, aber ich will das Geld nicht. Ich habe mich Tex nur angeschlossen, um Informationen über einen hinterlistigen Schurken namens Mance Ryker zu kriegen.“

„Ich kenne Mance.“ Harlow gab den anderen Männern Handzeichen und erteilte ihnen damit offensichtlich einen stummen Befehl. „Zeig’ dich, und wir sprechen über einen Handel.“

„Später, und ob ihr mir vertraut oder nicht, ihr solltet wissen, dass die Wahrheit ist, dass die Gesetzeshüter, die Tex erwischt haben, immer noch hinter mir her sind. Sie werden bald hier sein. Ihr solltet besser abhauen.“

Harlow brummte verärgert und gestikulierte dann zu den anderen Männern, die keine Aufforderung benötigten, um zu ihren Pferden zu hasten.

„Wir treffen uns in Mirage und sprechen über das Geld“, rief er.

„Und über Mance Ryker“, sagte ich, aber nur zu mir selbst.

Da war Harlow schon außer Sichtweite, und ich schlich durch die Schatten zu meinem eigenen Pferd. Draußen auf der Ebene waren im flüchtiges Licht der tief stehenden Mondsichel sich nähernde Reiter zu erkennen, als die hartnäckigen Gesetzeshüter den Abstand zu Harlow verkürzten …

***

Und so bist du also hier drin gelandet?“ fragte Tucker, nachdem Durango ein paar Sekunden innegehalten hatte. 

„Nö. Die Gesetzeshüter haben nicht nach mir gesucht, als sie die vier im Visier hatten, auch wenn sie sie offenbar nicht eingeholt haben. Ich bin nach Mirage gekommen, um auf Harlow zu warten.“ 

„Aber die Gesetzeshüter haben dich vorher gefunden?“

„Nein, haben sie nicht. Ich war ihnen immer einen Schritt voraus. Ich habe die Beweise beseitigt, indem ich die fünftausend Dollar unter den Wurzeln dieses alten Galgenbaums außerhalb der Stadt versteckt habe. Kennst du den?“

„Yeah.“

„Dann habe ich mich hier eine Woche lang verkrochen und darauf gewartet, dass Harlow auftaucht.“ Durango rieb sich das Kinn und lächelte traurig. „Aber heute Abend wurde mir das Warten zu langweilig. Ich ließ mich auf ein Pokerspiel ein und verlor hundert Dollar an einen Mann, der mehr Karten im Ärmel hatte, als er in seiner Hand hielt. Ich habe ihn erschossen, und so hat mich Sheriff McAllen hier reingeworfen.“

Tucker dachte über Durangos Antwort auf die Frage nach, die er vor einiger Zeit gestellt hatte.

„Also hat der Grund, warum du hier drin bist, nichts mit deiner Suche nach Mance Ryker zu tun, nichts mit Walker, diesen Hilfssheriffs, Tex Codys Banditen, dem Banküberfall, Harlow und dem ganzen Rest?“ 

„Nö.“

„Warum hast du dann nicht einfach gesagt, dass du bei einem Pokerspiel einen Mann erschossen hast?“

Durango zuckte mit den Schultern. „Es hat mir die Zeit vertrieben, während ich darauf gewartet habe, hier rauszukommen.“

Tucker lachte. „Du, mein Freund, gehst nirgendwo hin.“

„Tja, entweder hast du recht, oder diese Ratten mit Ohren sind heute Nacht richtig laut.“

Durango neigte seinen Kopf zur Seite und hielt eine Hand ans Ohr, um anzuzeigen, dass er lauschte. Dann rollte er von seiner Pritsche hinunter und kroch unter sie. Er kauerte sich zu einer Kugel zusammen und zog seine Decke über sich.

„Was zum …?“ sagte Tucker.

Dann hörte er die Geräusche, die Durango gehört hatte. Draußen bewegte sich jemand. Dann gab es ein Klopfen, gefolgt vom Ratschen eines angezündeten Streichholzes. Tucker brauchte keine weiteren Warnungen. Er stieß sich von seiner Pritsche ab, schnappte seine Decke und tauchte mit ihr unter die Pritsche.

Er hatte sich gerade die Decke über den Kopf gezogen, als die Explosion die Zelle erschütterte. Steine ​​prasselten auf seinen Körper, die Wucht warf ihn gegen die Zellengitter, wo er mit klingelnden Ohren liegen blieb. Staub wirbelte herum, aber durch ihn hindurch schien helles Mondlicht, und er erkannte, dass Dynamit ein Loch in die Außenwand gerissen hatte.

„Durango, komm ’raus!“ drängte eine Stimme von draußen.

„Harlow?“ fragte Tucker.

„Yeah, wer denn sonst? Und hör’ jetzt auf, Zeit zu verplempern.“

Orientierungslos und hustend kroch Tucker über den Boden und tastete mit seinen Händen vor sich her, bis er auf Durango stieß. Die Explosion hatte auch ihn gegen die Gitterstäbe geworfen, und sein Kopf war fest gegen einen davon gedrückt.

Er atmete, aber er rührte sich nicht, als Tucker ihn schüttelte. Draußen drängte Harlow nochmals darauf, dass Durango in die Gänge kam. Dann begriff Tuckers Verstand, wie sich die Umstände plötzlich geändert hatten.

Die maßgeblichen Fakten schwirrten ihm durch den Kopf: Zehn Jahre in Denver, fünftausend Dollar, die unter dem Galgenbaum versteckt waren, ein Retter, der den Mann, den er im Begriff war zu retten, niemals gesehen hatte …

„Ich komme“, sagte Tucker. Er klopfte Durango auf die Schulter, bevor er ging. „Du redest wirklich zu viel, Freund.“

Dann eilte er zum Loch in der Wand. Harlow hinterfragte seine Identität nicht, sondern scheuchte ihn lediglich eilends zu einem Pferd. Dann galoppierten sie aus der Stadt, als wäre ihnen der Teufel persönlich auf den Fersen oder zumindest ein entschlossener Gesetzeshüter.

Harlow hatte nur einen Mann bei sich, aber er nutzte eine Variante des Plans, den Durango erwähnt hatte. Als ihre Pferde müde wurden, ritten sie in eine ausgetrockneten Bachrinne, wo zwei Männer warteten. Sie versteckten sich, während diese Männer hinausritten und den Gesetzeshüter ausgeruhtes Wild jagen ließen. 

Trotzdem ging Harlow kein Risiko ein, und die Morgendämmerung erhellte bereits den Horizont im Osten, als Tucker ihn zum Galgenbaum führte. Wie Durango war auch Tucker schon in Pattsituationen wie der gewesen, mit der er jetzt konfrontiert war.

Foto © 2023:  Karl Jürgen Roth 


Die zahlreichen betrogenen und häufig namenlosen Toten in seiner Vergangenheit waren sämtlich Zeugen dafür, dass er wusste, wie er bekam, was er wollte. Daher brachte er sein Pferd in zuversichtlicher Stimmung vor dem Galgenbaum zum Stehen und stellte sich seinen Rettern.

„Ich bin dankbar für das, was ihr getan habt, aber jetzt ist es an der Zeit, dass wir uns trennen“, sagte er.

„Das ist mir recht“, sagte Harlow. „Zeig’ mir die fünftausend Dollar, und ich zeige dir, wo du Mance Ryker findest.“

„Es gibt eine Planänderung. Ich interessiere mich nicht mehr für ihn. Ich behalte die Hälfte des Geldes, und Mance kann zur Hölle fahren.“ 

„Du bist ein Mann, der drei Jahre lang hinter Mance hergewesen ist, weil er deinen Bruder getötet hat.“ Harlow kniff die Augen zusammen. „Was hast du wirklich vor?“

Durango hatte nicht erwähnt, dass Harlow wusste, warum er hinter Mance her war, aber andererseits war Tucker dankbar, dass er ihm nicht jedes Detail seiner langen Geschichte erzählt hatte.

„Ihr könnt glauben, was ihr wollt, aber denkt daran: Ihr werdet das Geld nie finden, also habt ihr keine Wahl.“ Tucker beugte sich im Sattel vor, um den Teil seines Plans auszuführen, von dem der weitere Verlauf dieser Pattsituation abhängen würde. „Jetzt gib mir eine Knarre. Dann gehen wir zusammen zum Geld und teilen es irgendwo auf, wo wir uns alle gegenseitig beobachten können.“

Harlow musterte ihn und brummte dann dem anderen Mann einen leisen Befehl zu. Dieser Mann ließ sein Pferd ein paar Schritte machen, bis es neben Tucker stand. Tucker schaute Harlow an und streckte eine Hand nach einem Revolver aus, bekam aber stattdessen einen heftigen Schlag auf den Hinterkopf, der ihn nach vorne warf, und einen Stoß in die Seite, der ihn von seinem Pferd stürzen ließ.

Tucker lag benommen da. Dann versuchte er aufzustehen, aber die Männer waren schon zur Stelle. Sie drückten ihn zu Boden, fesselten ihm die Hände auf den Rücken und zerrten ihn dann auf die Füße, um ihn mit den Fäusten zu bearbeiten.

Stetige heftige Schläge ließen ihn zwischen den Männern hin und her taumeln. Ohne eine Möglichkeit, sich zu wehren, blieb Tucker nichts anderes übrig, als es zu ertragen und sich mit dem Gedanken zu trösten, dass er wusste, wo das Geld war, und dass sie diese Information nicht aus ihm herausprügeln würden. Aber sie stellten keine Fragen. 

Ein Schlag auf den Kopf musste ihn kurzzeitig bewusstlos gemacht haben, denn als er wieder zu sich kam, saß er auf seinem Pferd. Seine Hände waren immer noch auf seinem Rücken gefesselt, und Harlow saß, ebenfalls hoch zu Ross, ihm gegenüber. Der andere Mann befand sich seitlich von ihm und schwenkte einen langen Stock.

„Wenn ihr mich damit schlagen wollt, werde ich trotzdem nicht reden“, sagte Tucker mit Blick auf den Stock.

„Er wird nicht dich schlagen. Nur dein Pferd“, sagte Harlow.

Tucker wollte gerade eine Erklärung fordern, als sein Pferd erschrak, einen Schritt nach vorne machte und ein Seil sich um seinen Hals festzog. Er schluckte und spürte, wie das Seil brennend an seinem Hals scheuerte. Es war so, wie er befürchtet hatte.

Sie hatten ihm eine Schlinge um den Hals gelegt, um ihm Angst einzujagen, damit er redete. Ein Schlag und das Pferd würde losstürmen und ihn an dem alten Galgenbaum baumeln lassen. Trotz seiner misslichen Lage war Tucker von Harlows Finte beeindruckt. Mit einem Seufzen erkannte er an, dass Harlow das Spiel gewonnen hatte. Aber gleichzeitig war er froh, seine Freiheit zurück zu erhalten, auch wenn er sie nicht mit einem Anteil des Geldes genießen konnte.

„Na gut, vielleicht bin ich bereit, ein besseres Angebot zu machen. Lasst mich gehen und ihr könnt die ganzen fünftausend behalten.“

„Aber es gibt keine fünftausend Dollar“, sagte Harlow langsam.

„Doch. Gleich hier in der Nähe. Durango … ich weiß, wo sie sind.“ Tucker wusste, dass er stammelte, aber sein Herz wurde von eisiger Angst gepackt. „Ich gebe sie dir, Harlow.“

„Ich bin nicht Harlow.“

Tucker zuckte zusammen, sodass sich sein Hals an dem Seil rieb.

„Wer bist du dann?“

Harlow brauchte mehrere Sekunden, bis er antwortete. Er saugte Tuckers Angst, die ihn jetzt verzehrte, in sich auf.

„Mein Name ist Durango Jones“, verkündete er, als hätte er diese Worte schon viele Male gesagt. „Vor drei Jahren hat Mance Ryker meinen Bruder getötet.“

„Aber das kann nicht sein. Ich bin … Dieser andere Mann ist …“ Tucker verstummte, als er ein Kopfschütteln erntete.

„Ist er nicht. Ich bin der echte Durango Jones. Der Mann neben dir ist Lorne Wright. Walker Beck und Tex Cody sind die anderen Männer, die dir geholfen haben zu entkommen.“

„Ich … ich weiß nicht, was hier vor sich geht. Lorne Wright war der Hilfssheriff, der bei dieser Hütte abgeknallt wurde, und Walker ist da auch gestorben. Tex ist der Anführer einer Bande von Räubern, und Harlow gehört zu ihnen. Ich verstehe das nicht!“

„Es gab keine Hilfssheriffs, keine Banditen, keinen Banküberfall, kein gar nichts. Das war nur eine Geschichte, die ein Mann erzählt hat, den ich angeheuert habe, weil er gut Geschichten erzählen kann. Hat sie dir gefallen?“

Tucker schluckte, wobei seine Kehle gegen das Seil drückte. „Ja, ich glaube schon.“

„Dann hat sie ihren Zweck erfüllt.“

„Heißt das, dass es auch keinen Mance Ryker gab?“ fragte Tucker, der immer noch nicht willens war zu akzeptieren, dass die Geschichte, die ihm erzählt worden war, nie stattgefunden hatte.

„Es gibt ihn tatsächlich, und er hat meinen Bruder erschossen, aber er ist unter einem anderen Namen bekannt.“

Tucker erschrak, als in seinem Kopf ein plötzliches Begreifen einsetzte. In den letzten zehn Jahren hatte er auf seiner Jagd nach dem schnellen Geld viele Männer getötet und nicht immer nach ihren Namen gefragt, aber dieses Mal stellte er die offensichtliche Frage.

„Welchem Namen?“ 

„Du weißt schon.“

Durango gab ein Handzeichen, und Lorne schlug mit dem Stock. Das Pferd stürmte los.

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024


I. J. Parnham