Sonntag, 1. Dezember 2024

McKEE - Die Rückkehr meines Großvaters


Die Rückkehr meines Großvaters 

von Vonn McKee

(Orig.: „The Gunfighter's Gift“, 2014; übersetzt von Reinhard Windeler)


Vonn McKee ist das Pseudonym von Micki Milom (Jahrgang 1959), die im Tal des Red River in Louisiana aufwuchs und die Sommer in Minnesota verbrachte, woher ihr Vater stammte. Angeregt durch ihren Großvater besaß sie mit Achtzehn eine vollständige Sammlung der Romane von Zane Grey, von denen sie ebenso inspiriert wurde wie von den Geschichten ihrer Großmutter, die ihre Kindheit auf der Dakota-Prärie verbracht hatte. Mittlerweile lebt sie in Nashville, Tennessee.
 
Unter ihrem Geburtsnamen Micki Fuhrman war sie bereits seit mehr als dreißig Jahren als Country-&-Western-Sängerin und -Songschreiberin etabliert, als sie begann, sich mit Kurzgeschichten auch literarisch im Western-Genre zu betätigen. Ihr Debüt (The Songbird of Seville) war 2015 sofort ein Spur-Award-Finalist, die hier präsentierte Story kam im selben Jahr beim Peacemaker Award ebenfalls in die Endausscheidung. Beide Stories befinden sich zusammen mit sechs weiteren Kurzgeschichten in dem Sammelband „Comanche Winter and Other Stories of the West“, der 2020 erschien.

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Der Fremde ritt langsam, so, als ob er schon tausend Meilen geritten wäre. Für mich schien es, als sei er aus dem Nichts aufgetaucht, eine plötzliche Silhouette vor dem Nachmittagshimmel im Juli. Der alte Jumper erhob sich von seinem sandigen Platz am Ende der Veranda und ließ ein tiefes Knurren hören.

Es war mein sechzehnter Geburtstag. Wir waren gerade mit dem Pfundskuchen fertig, den es bei uns nur zu besonderen Anlässen gab. Ma stand da, mit drei Blechtassen in den Händen, die noch kühl von dem Apfelsaft waren, den wir getrunken hatten. Daddy setzte die Vorderbeine seines zurückgekippten Stuhls sachte auf die Verandabretter. Er hielt eine Hand über seine Augen und blinzelte in ihrem Schatten in die Richtung, in die Jumpers Schnauze wies.

Als der Besucher den Chugwater-Bach durchquerte, konnten wir sehen, dass er von schlanker Statur war und einen großen hellen Stetson trug, unter dem sein Gesicht im Schatten lag. Er ritt einen stämmigen Pinto. Daddy stand auf und verschränkte seine Arme.

„Wer ist es, Henry?“ fragte Ma und schaute dabei zunächst zu ihm, dann zu mir. „Kannst du das von hier aus erkennen? Willie?“ Daddy sagte nichts. Er stand nur da und runzelte die Stirn. Ich zuckte die Achseln.

Als der Reiter an der Reihe von Mas Malven am Rande des Hofs vorbeikam, bellte Jumper und wollte losrennen, aber Daddy rief ihn zurück. Der Mann war älter, als ich zuerst angenommen hatte. Er hatte ein dunkles wettergegerbtes Gesicht. Ich erinnere mich, dass ich dachte, dass er für sein Alter sehr gerade im Sattel saß.

Er stieg in einer Art und Weise von seinem Pinto ab, als bereitete ihm jedes Gelenk in seinem Körper Schmerzen. Dann ging er bis auf etwa drei Meter auf die Veranda zu und nahm seinen Hut ab. „Henry. Florence. Gut seht ihr aus“, sagte er.

Ich war völlig geplättet. Ich sah zu Daddy, und sein Gesicht war rot; seine Kiefer waren aufeinander gepresst und arbeiteten. Ma sah einfach nur besorgt aus. Die Haare auf Jumpers Rücken standen zu Berge, aber er blieb, wo er war, und beobachtete.

Der Mann kam an den Rand der Veranda, wo ich stand und meinen Arm um einen Pfosten gelegt hatte. Er schaute mir direkt ins Gesicht, griff in seine Hemdtasche und holte eine blaue Schachtel heraus. Sie war ziemlich lang und flach. Er reichte sie mir. Ich habe immer noch das Bild vor mir, wie er mit seinen grauen Augen in meine blickte. Augen, die aussahen, als könnten sie hart und mitleidlos sein, wenn es nötig war, aber an jenem Tag kräuselten sich kleine Falten an ihren Enden… die vielleicht sogar ein bisschen eingerissen waren. Ich nahm die Schachtel aus seinen Händen und las den Namen, der in silberner Schrift auf ihm stand… „Borsheim’s“, und darunter, kleiner geschrieben, „Omaha“.

„Alles Gute zum sechzehnten Geburtstag, Wilhelmina“, sagte er mit einer Stimme, die weich und rauh zugleich war.

Ohne mich auch nur mit einem Blick zu Ma zu vergewissern, dass es in Ordnung war, oder mich darüber zu wundern, wieso er meinen Namen kannte, nahm ich den Deckel von der Schachtel, und da war sie, die erste Perlenkette, die ich jemals zu Gesicht bekommen hatte. Die Perlen sahen wie wunderschöne kleine Vollmonde aus, cremefarben und mit rosafarbenen, gelben und blauen Sprenkeln, wo das Sonnenlicht mit ihnen spielte.

„Ich weiß, du erinnerst dich nicht mehr an mich, Skeeter“, sagte er. „Ich habe dich nicht mehr gesehen, seit… meine Güte, seit…“

„Seit sie drei Jahre alt war“, sagte Daddy. Er klang nicht sehr erfreut, den Mann zu sehen.

Der alte Mann wandte sich Daddy zu. „Drei Jahre alt. Richtig. Du hattest schon immer ein gutes Zahlengedächtnis, Henry.“

„Ich habe ein gutes Gedächtnis für viele Dinge. Viele, die nicht schön waren. Also, was führt dich hierher, Pap?“

Pap! Ich hätte es mir denken können. Über ihn wurde in unserem Haus nie gesprochen, aber ich hatte ein Foto von ihm auf der Kommode meiner Großmutter Ellen gesehen. Er sah aus wie mein Daddy, nur sehr jung … und mit einem Lächeln. Nach Grandmas Tod sah ich das Bild nie wieder. Hatte er mich immer Skeeter genannt?

„Tja, ich schätze, ich habe getan, wofür ich hergekommen bin“, sagte Pap. „War mir nicht sicher, dass ich es rechtzeitig schaffe. Sieht so aus, als hätte ich die Feier verpasst.“

Daddy schnaubte. „Oh, du würdest doch niemals eine Feier verpassen, oder?“ Ich zuckte zusammen, als er in diesem Ton sprach. Pap lächelte irgendwie und senkte seinen Blick auf den staubigen Boden. Er nickte leicht mit dem Kopf, als hätte er die harsche Antwort erwartet.

„Nein, Sohn. Es gab Zeiten … vor langer Zeit, genau genommen … da wär’s mir nicht passiert. Ich weiß, dass es für dich nichts bedeutet, aber ich habe mit alldem abgeschlossen.“ Er setzte seinen Hut wieder auf und hakte seine Daumen hinter die vorderen Gürtelschlaufen. Er sah aus, als hätte er eine Menge zu sagen, wusste aber nicht, wie er anfangen sollte. Schließlich sagte er: „Na dann. Ich werde dann ’mal gehen.“

„Du… Musst du noch woanders hin, Pap?“ Es war Ma. Sie hatte immer noch ihre Finger in den Henkeln der Tassen. Daddy warf ihr einen warnenden Blick zu, aber ihre Augen waren weiter auf den Mann gerichtet, der auf ihrem Hof stand.

„Eigentlich nicht, Florence. Nein. Aber das ist schon in Ordnung. Ich muss weiter. Trotzdem Danke. Das ist nett von dir.“

Wie Ma nahm auch ich meinen Mut zusammen. „Wir haben noch etwas Kuchen übrig. Ich würde mich freuen, wenn du ein Stück mit uns essen würdest“, sagte ich.

Daddy sah man an, wie es in ihm arbeitete, so wie er manchmal aussah, wenn Ma und ich ihn bei etwas überstimmten. „Pap, um Himmels willen, du kannst genauso gut über Nacht bleiben“, sagte Ma. „Bis Cheyenne sind es vierzig Meilen. Und du musst nicht auf dem Boden schlafen, wenn du hier Verwandtschaft hast.“

Pap biss sich auf die Lippe. Vermutlich wartete er darauf, dass Daddy etwas sagte. Daddy sah Pap nur an und winkte ab, als hätte er nichts mit der Entscheidung zu tun.

„Ich kann in der Scheune bleiben. Wie wäre das?“ sagte Pap. Und davon ließ er sich nicht abbringen, egal, wie sehr Ma sich auch aufregte.

Ich holte ihn ein, bevor er den Pinto in die Scheune brachte. Ich drückte die Schachtel von Borsheim an meine Brust. „Pap! Ich wollte nur … na ja, ich wollte mich bei dir für die Halskette bedanken. Sind die Perlen …“ Plötzlich war es mir peinlich. „Sind das wirklich echte Perlen?“

Pap grinste mich an, als ich rot wurde. „Ja, Ma’am. Jede einzelne von ihnen ist eine echte Perle, Skeeter. Genau wie du.“

***
Aus Paps Nacht in der Scheune wurden Wochen. Er bat nicht darum, bleiben zu dürfen. Ma bestand einfach darauf. Und er weigerte sich weiterhin, im Haus zu schlafen. Wir konnten sehen, dass Pap nicht bei bester Gesundheit war. Ohne den großen Stetson sah er irgendwie gebrechlich und gebeugt aus. Komisch, wie sich all das veränderte, wenn er auf einem Pferd saß.

Er und ich begannen, morgens gemeinsam auszureiten, nachdem ich die Hühner gefüttert und meine anderen Aufgaben erledigt hatte. Pap half mit, wenn er Lust dazu hatte, wahrscheinlich sogar dann, wenn er keine hatte. Ma verhielt sich so, als wäre er schon immer ein Teil des Haushalts gewesen, aber Daddy, nun ja, er war ganz anders gestrickt. Er sagte nie viel, wenn Pap dabei war, was für einige stille Mahlzeiten sorgte.

Eines Tages ging ich gleich nach dem Abendessen nach draußen, um Jumper mit den Essensresten zu füttern. Pap hatte sich ins Heu gelegt, könnte man wohl sagen. Ich hörte, wie Ma drinnen im Haus etwas mit ihrer Jetzt-hör-mal-zu-Stimme sagte, obwohl ich die Worte nicht verstehen konnte. Es dauerte nicht lange, bis Daddy sie fußstampfend unterbrach und sie eine nette Meinungsverschiedenheit hatten. Ich blieb draußen, wo es sicher war.

„Du warst nicht dabei, Florence. Du hast nie gesehen, wie er meine Mutter herumschubste, mir eine Ohrfeige verpasste oder das Schwein gegen eine Flasche Whiskey eintauschte. Du hast nicht gehört, wenn auf dem Schulhof geflüstert wurde, dass dein Pa sein Schießeisen für Geld vermietet …“

Bevor ich noch mehr hörte, machte ich mich auf den Weg zum Hühnerstall. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass der alte Pap etwas von diesen Dingen getan hatte. Na ja, vielleicht die Sache mit dem Schießeisen. Er hatte einen Colt Equalizer an einem Haken direkt neben seinem Bett im Heu und seinen Decken hängen. Es sah wirklich nicht wie ein Spielzeug aus. Aber gemein zu Grandma und Daddy sein … das hielt ich für ausgeschlossen.

Hühner haben mich immer beruhigt, wenn ich aufgeregt war. Sie hatten sich bereits auf die Stange gesetzt und fragten sich zweifellos, was ich dort machte. Ich streichelte ein paar von ihnen über den Rücken. Ihr weiches Gefieder und ihre halbgeschlossenen Augen taten ihr Übriges, und schließlich hörte ich so weit auf zu zittern, dass ich zum Haus zurück gehen konnte. Ma und Daddy waren auf der Veranda und riefen nach mir.

***



Weißt du, ich habe nie viel für gescheckte Pferde übrig gehabt.“

Pap und ich waren ausreiten. Das Gras reichte fast bis zu unseren Steigbügeln und war hoch genug für die Heuernte. Ich wusste, dass ich in höchstens ein paar Tagen hier draußen sein und Daddy helfen würde.

„Was hast du gegen gescheckte Pferde?“ sagte Pap.

Ich betrachtete seinen Pinto eingehend. „Nun… ich will niemanden beleidigen. Es scheint einfach so, als würden die Flecken die Linien des Pferdes stören. Das alles lenkt so sehr ab, dass man nicht viel über seinen Zuschnitt sagen kann. Sieht für mich so aus, als könnte man unter all diesen Flecken ein hübsches Pferd verstecken. Ich schätze, man kann auch ein hässliches darunter verstecken.“ An dieser Stelle hatte ich das Gefühl, etwas zu viel von dem gesagt zu haben, was mir durch den Kopf ging.

„Aber damit meine ich nicht dein Pferd“, fügte ich hinzu. „Er ist ein hübscher Kerl.“

Pap lachte. „Ich bin nicht beleidigt, Skeeter. Aber ich schätze, damit hat sich eine Sache erledigt.“

„Was für eine Sache?“

„Ich werde mein Pferd wohl nicht dir hinterlassen, wenn ich sterbe.“

Bevor ich antworten konnte, gab er dem Pinto die Sporen, und der schnellte davon wie ein Rennpferd. Ich stieß meinem Puck die Hacken in die Seite, und er machte einen Satz nach vorn und ging in einen raschen Galopp über, aber ich wusste, dass wir nie aufholen würden. Als wir die Anhöhe am äußersten Südende unserer Farm erreichten, sah ich Pap, wie er unter einem Cottonwoodbaum stand und den Bauchgurt des Pintos lockerte. Ich saß ab und tat dasselbe bei Puck.

Mir war bis dahin nicht aufgefallen, dass Pap seinen Waffengurt trug. Der Griff des Colt spiegelte sich in der Sonne. Das Holz war an manchen Stellen dunkel gefärbt und glänzte, als wäre es abgerieben worden … und das ziemlich häufig.

„Erwartest du Ärger, Pap? Außer Kojoten und Präriehunden gibt es hier nicht viel. Die Cheyenne waren in letzter Zeit ruhig.“

Pap berührte das Holster und lächelte. „Ich dachte, wir könnten ein paar Tannenzapfen oder so etwas durchlöchern. Schadet einem Mädchen nicht, wenn es schießen lernt.“

Mir wurde etwas flau im Magen. Daddy hatte eine Winchester an der Wand hängen – seinen „Stinktierkiller“, wie er sie nannte –, aber ich durfte sie nicht anrühren.

Pap band die Pferde an einem dicken, tief hängenden Ast des Cottonwood fest. Dann stemmte er die Hände in die Hüften und ließ seinen Blick über die umliegende Landschaft schweifen. Schließlich nickte er in Richtung einer Gruppe krummer Kiefern in dreißig Metern Entfernung.

„Linke Seite“, sagte er. „Drei davon.“ Ich entdeckte den Ast mit drei Zapfen, die am Ende wie ein Hahnenfuß auseinander gingen und im Wind wippten.

Ich sah nicht einmal, wie Pap die Waffe aus dem Holster zog. Ein lauter Knall erfüllte die Luft, gefolgt von einer scharf riechenden Rauchwolke. Puck bäumte sich ein wenig auf und warf den Kopf hin und her. Der Pinto zog mit seinem Maul ungerührt an Grasbüscheln, als wäre er an solche Vorkommnisse gewöhnt. Ich konnte sehen, dass der mittlere Kiefernzapfen am Ast nicht mehr da war, aber die rechts und links davon waren unversehrt.

Während ich noch hinschaute, gab es zwei weitere laute Knallgeräusche kurz hintereinander, und die Kiefernzapfen verschwanden einer nach dem anderen. Ich sah zu Pap hinüber und war überrascht, dass er sich ein wenig geduckt hatte. Der Colt rauchte noch immer in seiner rechten Hand, und er hielt seinen linken Arm zur Seite ausgestreckt und am Ellbogen angewinkelt. Seine Augen waren stark zusammengekniffen. Ich hatte noch nie in meinem Leben einen echten Revolvermann gesehen, aber ich hätte meine Perlenkette darauf verwettet, dass ich gerade einen vor mir sah.

„Pap! Du hast sie ganz schön durchlöchert.“

Im nächsten Moment lächelte er wieder, als wäre nichts geschehen. Er lud die leeren Kammern nach. „Warum probierst du’s nicht auch ’mal?“ Er hielt mir den Colt hin. Ich nahm ihn mit beiden Händen und dachte, dass er sich viel schwerer anfühlte, als er aussah.

„Aber Daddy erlaubt nicht, dass ich …“ Pap beachtete mich nicht und redete weiter. „Hier … halte ihn so, Skeeter. Du hast ja kein Huhn in der Hand.“ Er führte meine Finger um den Griff der Waffe und berührte meinen Zeigefinger. „Halte den für den Abzug frei. Jetzt zieh’ den Hammer mit deinem Daumen zurück.“ Ich musste feststellen, dass ich beide Daumen brauchte, um den Hammer zum Einrasten zu bringen.

Pap zeigte auf eine Kiefer, die etwa auf halbem Weg zwischen uns und derjenigen stand, auf die er geschossen hatte. „Da ist ein großer Haufen Zapfen, die oben herausragen. Sieh direkt am Lauf entlang und visiere sie etwas unterhalb an. Dann drück’ den Abzug.“

Ich versuchte, genau das zu tun, was er sagte. Als Nächstes klingelten mir die Ohren von dem Schuss, und mein Arm fühlte sich an, als wäre er gebrochen. Ich hatte keine Ahnung, was ich getroffen hatte, wenn überhaupt etwas. Höchstwahrscheinlich ein Stück Himmel über Wyoming.

Paps Stimme klang gedämpft. „Nicht allzu schlecht für den ersten Versuch. Wenigstens hast du die Pferde verfehlt. Versuch’s noch einmal. Vielleicht nimmst du auch deine andere Hand dazu.“

Ich hielt den Colt auf Armeslänge von mir weg und legte beide Hände um den Griff. Die Kiefernzapfen schwankten ein wenig im Wind, aber ich versuchte, das Visier unterhalb des Büschels auszurichten.

„Wenn du sie im Visier hast, halte die Luft an, unmittelbar bevor du abdrückst“, sagte Pap. „Komm schon, Skeeter. Nimm den Hurensohn ins Visier.“

Ich wurde glühend rot. Solche Ausdrücke war ich nicht gewohnt. Trotzdem holte ich tief Luft und konzentrierte mich mit aller Kraft auf die Spitze des Visiers. Für eine Sekunde schien es, als gäbe es keinen Laut und nichts anderes auf der Welt außer mir und diesen Kiefernzapfen. Ich drückte den Abzug, diesmal langsamer und gleichmäßiger. Der Schuss erschreckte mich nicht wie zuvor, weil ich nun darauf vorbereitet war.

„Wenn das nicht mein Mädel ist!“ brüllte Pap. Ich ließ den Colt sinken und schaute zur Spitze der Kiefer. Ich sah nur das abgesplitterte Ende eines Astes … keinen einzigen Kiefernzapfen.

Auf dem Heimweg machten wir wieder ein Wettrennen. Pap ließ mich gewinnen, das weiß ich. Als das Haus in Sicht kam, dachte ich, dass es im Chugwater-Tal kein glücklicheres Mädchen gab.

***

Was hatte dieses ganze Schießen zu bedeuten?“ Daddy war auf der Veranda. Er hatte, wie meine Grandma Ellen es immer nannte, „ein Stirnrunzeln im Gesicht wie eine Welle auf dem Ozean“. Ich hatte das Gefühl, ich sollte Pap irgendwie in Schutz nehmen.

„Das war ich, Daddy. Ich habe Pap gebeten, dass er mich auf ein paar Tannenzapfen schießen lässt. Ich habe sogar einen getroffen.“

„Dann nehme ich an, du hast völlig vergessen, dass es nicht erlaubt ist … eine Schusswaffe in die Hand zu nehmen.“

„Ich weiß, dass du gesagt hast, ich sei nicht alt genug. Ich dachte, da ich jetzt sechzehn bin, wäre es vielleicht in Ordnung. Es tut mir leid, Daddy. Ich hätte dich fragen sollen.“

Ich sah Pap an, dass er drauf und dran war auszuplaudern, dass es seine Idee gewesen war. „Vielleicht kannst du das nächste Mal mitkommen“, sagte ich in der Hoffnung, Pap zuvor zu kommen und vielleicht Daddys Mütchen abzukühlen.

Daddy schaute von mir zu Pap. „Ich habe kein Interesse am Schießen. Und ich habe das Gefühl, dass es nützlichere Dinge gibt, die du tun könntest. Warum gehst du nicht rein und hilfst Ma ein bisschen?“

Es beunruhigte mich, die beiden allein zu lassen. Aber ich fügte mich und ging ins Haus. Ma war dabei, Kartoffeln für das Abendessen zu schälen.

„Willie! Alles in Ordnung? Ich habe Schüsse gehört.“

„Pap hat mir gezeigt, wie man mit einer Pistole schießt.“ Über dem Feuer hing ein kleiner Kessel, der mit Wasser für die Kartoffeln gefüllt war. Ich rührte mit einem Schürhaken in dem brennenden Holz. „Hast du jemals geschossen, Ma?“ Aus irgendeinem Grund musste ich an Paps Redewendung Nimm den Hurensohn ins Visier denken, und das entlockte mir ein Lächeln.

„Oh nein. Natürlich nicht. Nicht sehr schicklich für junge Damen, meiner Meinung nach.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich schätze, hier im Indianerland wäre es vielleicht ganz gut, sich damit auszukennen.“ Es schien, als hätte sie die letzte Bemerkung eher zu sich selbst gesagt als zu mir.

In diesem Moment hörte ich draußen Paps Stimme, lauter als ich sie je zuvor gehört hatte. „… verbringe einfach nur Zeit mit meiner Enkelin“, sagte er.

„Na, ist das nicht hochanständig von dir? Eine verdammte Schande, dass du nie daran gedacht hast, dasselbe mit deinem eigenen Sohn zu tun.“

Ma und ich sahen uns an, dann senkte sie ihren Blick wieder auf ihr Kartoffelschälen, als wäre es ihr peinlich, den Streit mitanzuhören.

Daddy war in Fahrt. „Ich wäre dir dankbar, wenn du Willie nicht deine Schießkünste beibringen würdest. Ich glaube nicht, dass sie weiß, wie viel Geld du und dieser Colt mit dem Töten verdient habt. Zum Teufel, du weißt es wahrscheinlich nicht einmal selbst …“

„Es gibt eine Menge, was du darüber nicht weißt, Henry. Ich habe nie einen Mann erschossen, der es nicht verdient hatte. Ich habe es wegen der ausgesetzten Belohnung getan, nicht zum Spaß, und meistens gab es auch überhaupt keine Schießerei. Im Übrigen bin ich mit all dem fertig.“

Eine Minute lang schwiegen die Männer. Dann sprach Pap wieder, dieses Mal ruhiger. „Henry … ich weiß, dass ich dir ein schlechter Vater war. Ich war auch nicht gut zu deiner Mutter. Damit habe ich bei Tag und bei Nacht gelebt. Erst als ich alles, was ich auf dieser Welt liebte, durch das Whiskeytrinken verloren hatte, gab ich es auf … nur war es da schon zu spät. Ich dachte, ich verbringe meine letzten Tage mit dem, was mir von meiner Familie noch geblieben ist. Mir ist jetzt klar, dass das eine dumme Idee war. Ich werde morgen früh verschwinden, Henry. Es war nett von dir, mich so lange bleiben zu lassen.“

Pap musste wohl zur Scheune gegangen sein. Daddy blieb auf der Veranda und drehte sich eine Zigarette. Ich konnte den Rauch riechen. Wir hatten Kartoffeln und Maisbrot zum Abendessen, nur wir drei.

***

Kurz vor Tagesanbruch brach ein schwerer Sommersturm über die Farm herein. Ich wurde vom Donnergrollen und einem heftigen Wind geweckt, der um die Ecken des Hauses heulte. Staub wehte durch die Türritzen herein. Dann folgte ein laut prasselnder Regen, der nicht vor Mittag nachließ. Das Heufeld im Süden würde warten müssen.

Ich dachte mir, dass Pap bei diesem Wetter nirgendwo hingehen würde, aber ich konnte mir nicht sicher sein, bis der Regen aufhörte. Ich ging, ja, rannte fast, zur Scheune und sprang dabei über Pfützen. Die Sonne war mit aller Macht herausgekommen, und aus dem wassergetränkten Boden stieg Dampf auf. Pap war dabei, den Pinto zu striegeln. Seine prall gefüllten Satteltaschen lagen gleich hinter dem Scheunentor.

„Howdy, Skeeter“, sagte er. „Das war ein ordentlicher Regenschauer, was? Ein, zwei Mal dachte ich, das Dach würde abheben.“

„Irgendwie mag ich Stürme“, sagte ich, „aber Ma tut das nicht. Wenn es stark regnet, strickt sie richtig viel.“

„Hör’ mal, Skeeter …“ Pap hörte auf zu bürsten. „Ich habe beschlossen, nach … nach Cheyenne zu reiten, vielleicht auch ’rüber ins North-Platte-Gebiet, um ein paar Leute zu besuchen, die ich von früher kenne. Die meisten von ihnen sind jetzt alte Rancher. Ich würde sie gerne alle noch einmal sehen, bevor man sie mit den Stiefeln voran ’rausträgt.“

„Ich habe es mitgekriegt.“

Pap sah unbehaglich aus. „Du hast es mitgekriegt.“

„Pap, ich habe mitgekriegt, wie du und Daddy euch gestern gestritten habt. Ich … ich wollte sagen, dass es mir leid tut. Wenn du nicht versucht hättest, mir das Schießen beizubringen, wäre das alles nicht passiert.“

Pap hängte den Striegel an einen Nagel und drehte sich zu mir um. „O Gott, Skeeter. Nichts davon ist deine Schuld. Das geht weit zurück, bis in die Zeit, als dein Daddy noch ein Junge war. Er hat das Recht, wütend auf mich zu sein. Ich war nicht besonders gut zu ihm, auch nicht zu deiner Grandma.“

„Nun, ich denke, er sollte dir verzeihen“, sagte ich. „Das ist lange her und jetzt ist alles anders. Ich möchte nicht, dass du weggehst, Pap.“

Er hob den Stetson und kratzte sich am Kopf. „Wilhelmina, du bist eine Perle, genau wie ich schon gesagt hab’. Es war alles wert, um eine Zeit lang mit dir zusammen sein zu dürfen. Aber ich glaube nicht, dass ich bleiben sollte.“

„Warte wenigstens noch ein oder zwei Tage. Der Chugwater muss von dem ganzen Regen über die Ufer getreten sein.“

„Das ist wohl so, nehme ich an.“

„Ich werde mit Daddy reden“, sagte ich verwegen. Pap antwortete nicht, sondern nickte nur.

Aber ich musste nicht mit Daddy reden. Er kam gerade in die Scheune. „Der Bach hat Hochwasser“, sagte er. „Wäre dumm zu versuchen, ihn zu durchqueren. Ich würde ein paar Tage warten.“ Das war alles, was er sagte.

***

Am nächsten Tag war Sonntag. Ich hatte nur ein Kleid, aus dem ich noch nicht herausgewachsen war, und ich hatte es die letzten vier Male in der Kirche getragen. Im Herbst würden wir Schweine verkaufen können, und das Geld dafür würde Calico-Stoff für neue Kleider bedeuten, vielleicht sogar ein neues Paar Schnürschuhe. Als ich die schlaffen Rüschen an den Ärmeln aufplusterte, schien das noch in weiter Ferne zu liegen. Ich hatte Ma angefleht, mir zu erlauben, meine Perlenkette beim Kirchgang zu tragen, aber sie sagte, das sähe aus wie ein Zeichen von Eitelkeit.

„Bitte, Ma“, bettelte ich. „Wenn ich sie nicht in der Kirche trage, wo denn dann? Bis zum Ball in der Stadt sind es noch mehr als zwei Monate. Ich kann es kaum erwarten, sie Myra Lundberg zu zeigen.“

Sie warf ihre Hände in die Luft. „Oh, na gut, Willie. Tu’s und trag’ sie. Aber wundere dich nicht, wenn du ein paar herablassende Blicke erntest.“

Ich war so glücklich, dass ich ein Kriegsgeheul ausstieß, als wäre ich ein Cheyenne. Ma half mir mit dem Verschluss, und während ich mich in Daddys Rasierspiegel betrachtete, strich ich meinen Kragen unter der Halskette glatt. Echte Perlen. Myra würde so neidisch sein, aber in der Art einer besten Freundin.

Beim Blick in den kleinen Spiegel staunte ich, wie sehr ich mich in letzter Zeit verändert hatte. Mein krauses blondes Haar war ein paar Nuancen dunkler geworden und hatte sich in Wellen gelegt. Mein Gesicht war nicht mehr rund und kindlich. Ich legte meine Hand auf meine Wange und spürte, wie glatt und flach sie war. Als ich mich umdrehte, ertappte ich Ma, wie sie mich mit Augen anblickte, die sanft und ein wenig traurig waren.

„Du bist ein hübsches Mädchen, Wilhelmina.“ Ich wusste nicht, was ich sagen sollte.

Daddy lenkte den Farmwagen dicht an die Veranda heran, und Ma und ich kletterten hinauf. Wir quetschten uns auf unsere Plätze auf dem Sitz neben ihm. Der Wagen ruckelte und hüpfte den ganzen Weg zur Kirche, aber ich tat mein Bestes, um aufrecht und elegant wie eine Königin zu sitzen.

***
Ma hatte recht. Valeria Hobart verdrehte sich fast den Kopf, als sie während des Gottesdienstes nach hinten zu mir blickte. Ich sah ihr an, dass sie unbedingt wissen wollte, wie ich an eine Perlenkette gekommen war. Sie war recht hübsch, aber ihre Mundwinkel waren immer nach unten gezogen und ihre Nase war gerümpft, als würde sie etwas Saures riechen. Dann flüsterte sie ihrer Mutter etwas zu, und Mrs. Hobart blickte mit demselben Gesichtsausdruck hinter sich. Die Ähnlichkeit zwischen den Hobart-Frauen war sehr ausgeprägt.

Myra Lundberg liebte die Geschichte, wie Pap an meinem Geburtstag aus dem Nichts angeritten kam und mir ein Schmuckkästchen überreichte. Sie bestand darauf, dass ich sie ihr noch weitere drei Male erzählte, bevor ich mich auf den Heimweg machte.

Als wir an der Scheune ankamen, machte Pap sich über einer kleinen Feuerstelle zu schaffen, die er im Freien auf dem Hof aufgebaut hatte. Er drehte ein Kaninchen am Spieß, und dem Geruch nach war es fast fertig.

„Das Sonntagsessen geht heute auf mich, Leute.“ Er grinste, während er das Fleisch mit Butter bestrich.

Ma lächelte und gesellte sich zu ihm, wobei sie ihre Röcke von dem Rauch fern hielt. „Ich habe Apfelmus, der gut dazu passt … und Maisbrot von gestern Abend“, sagte sie. Ich war erleichtert, als Daddy keine Bemerkung über das Jagen an einem Sonntag machte.

Ich ging hinein, um Ma zu helfen, den Tisch zu decken. Durch die offene Tür behielt ich Daddy im Auge. Er spannte das Maultier aus und brachte es in den Pferch, damit es ein wenig Gras und Sonnenschein genießen konnte. Pap zog an einem Kaninchenbein, um zu prüfen, wie zart es war. Daddy leistete ihm am Feuer Gesellschaft.

Sie fingen an miteinander zu reden. Es schien kein Streit zu sein, es sah aus, als wären sich zwei Männer rein zufällig begegnet. Daddy hielt eine große Bratpfanne unter das Kaninchen, während Pap es vorsichtig vom Spieß nahm.

„Willie, stell’ die Teller auf den Tisch und dann geh’ und pflücke ein paar Malven für den Tisch“, sagte Ma. Sie strich eine zugeschnittene Leinendecke auf unserem rauen alten Kieferntisch glatt und glättete die gewellten Ecken. Es war ein Hochzeitsgeschenk gewesen, und ich hatte nur ein paar Mal gesehen, dass sie sie benutzte.

Ich richtete sorgfältig unsere Teller und das Besteck aus und eilte nach draußen, um die Blumen zu pflücken, wobei ich fast mit Pap zusammenstieß. Das gebratene Kaninchen brutzelte in der Pfanne, die er in der Hand hielt. „Brrrrrr, Mädel! Du hättest fast meine Pläne über den Haufen geworfen!“ Er war bester Laune.

Ich brach zwei Malvenstiele ab, die voller flauschiger Blüten waren, zartrosa und in der Mitte violett. Ma hielt sie hoch, um sie zu bewundern, bevor sie sie in einen kleinen Tonkrug stellte. „Grandma Ellen hat die Blumensaat den ganzen Weg aus Ost-Texas hergebracht“, sagte sie. Dann blickte sie rasch zu Pap. Ich sah, wie sie sich auf die Lippe biss.

„Dann stellen wir sie besser hier bei mir hin“, sagte Pap, der immer noch lächelte. Ich gestehe, dass mir die Tränen kamen, als er das sagte. Ich wünschte so sehr, Grandma Ellen hätte an unserem Tisch sitzen können. Diese wunderschönen Malven mussten an ihre Stelle treten.

Daddy sprach das Tischgebet. Pap verteilte Portionen des gebräunten Fleisches. Er erzählte uns ein paar Geschichten aus der Zeit, als Daddy ein Kind war … als er einmal auf einen Baum kletterte und nicht mehr herunterkam. Er musste die Nacht dort oben verbringen, und alle Nachbarn kamen, um nach ihm zu suchen. Und ein anderes Mal, als Daddy und sein Cousin Pete beschlossen, die Flecken von der Milchkuh abzuwaschen. Ma und ich lachten und lachten. Sogar Daddy lächelte, und nicht nur einmal. Ich konnte mich an kein Essen erinnern, das besser gewesen wäre.

***

Als das Geschirr abgewaschen und die Tischdecke zusammengefaltet und weggeräumt war, beschlossen Ma und ich, uns auf der Veranda auszuruhen, bevor wir die Sonntagskleider auszogen, die wir noch trugen. Pap erschien am Scheunentor. Er führte den Pinto, gesattelt und beladen, als ob er eine lange Wegstrecke vor sich hatte. Ich spürte, wie sich mein Magen zusammenzog. Als er bei der Veranda ankam, band er das Pferd an den Pfosten.

„Der Bach ist seit gestern ein gutes Stück zurückgegangen“, sagte er. Ich wusste, dass es so war. Wir waren auf dem Weg zur Kirche am Chugwater-Bach entlang gefahren. „Ich schätze, mit etwas Glück werde ich heute Nacht in Nebraska schlafen. Sind nur dreißig Meilen.“

„Das kommt ungefähr hin“, sagte Daddy. Ich erschrak ein wenig. Ich wusste nicht, wie lange er schon in der Tür gestanden hatte. „Um diese Jahreszeit ist es noch lange hin bis zum Sonnenuntergang. So weit solltest du es schaffen.“ Ich wollte Pap anflehen zu bleiben, aber ich wagte es nicht, Daddy in die Quere zu kommen. Er schien nicht dafür zu sein.

„Tja, ich gehe noch auf den Hügel, um eine Lady zu besuchen, bevor ich gehe“, sagte Pap. Er nickte in Richtung unseres Familienfriedhofs zwischen dem Haus und dem Bach. „Möchtest du mitkommen, Skeeter?“ Ich schaute zu Daddy, um zu sehen, ob er etwas dagegen hatte, aber er sagte nichts.

Ma sagte: „Warte, Pap. Nimm die Malven mit. Ich hatte ohnehin vor, Blumen hin zu bringen.“

Pap trat auf die Veranda, und zu ihrer großen Überraschung küsste er Ma auf die Wange. „Du bist eine wirklich gute Frau, Florence.“ Sie sah verwirrt aus und wrang ihre Hände in ihrer Schürze. Pap und ich machten uns auf den Weg zur Grabstätte. Ich trug den Tonkrug mit den Blumen. Mir fiel auf, dass Pap seinen Colt umgeschnallt hatte.

Der kleine Friedhof war von einer Reihe dicker Zedern umgeben, die Daddy gepflanzt hatte, als meine Zwillingsbrüder gestorben waren. Ich war erst sechs Jahre alt gewesen. Die Jungs, Matthew und Mark, waren von Geburt an winzig, und beide bekamen eine Lungenentzündung, als sie etwa ein Jahr alt waren. Sie starben im Abstand von zehn Tagen. Grandma Ellen folgte ihnen zu ihrer ewigen Ruhe, als ich zwölf war. Ich stellte die Blumen an ihren Grabstein.

Pap beugte sich vor und strich mit den Fingern über ihren Namen auf dem aus Holz geschnitzten Grabstein. „Du hättest nicht jemanden wie mich heiraten sollen, Ellen Denby. Aber ich bin meinem Gott im Himmel dankbar, dass du es getan hast. Ich wusste, dass ich nicht gut genug für dich war. Ist einer der Gründe dafür, dass ich so gegangen bin, wie ich es getan habe. Ich war damals ein erbärmlicher Säufer.“

Er richtete sich auf und wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht. „Als ich beschloss, mich wie ein Mann zu benehmen, war es schon zu spät.“ Ich wusste nicht, ob er mit mir oder mit Grandma Ellen sprach.

„Skeeter …“ Pap drehte sich zu mir um und nahm meine Hände zwischen seine. „Ich möchte, dass du nicht vergisst, was ich dir jetzt sage. Ich war in vielerlei Hinsicht ein Tunichtgut. Aber hör’ mir zu. Ich habe meinen Lebensunterhalt als Kopfgeldjäger verdient und im Laufe der Jahre einige ziemlich miese Gestalten geschnappt. Die meisten von ihnen habe ich lebend gefasst. Man hat mir für das, was ich getan habe, anständige Belohnungen gezahlt.“

„Ich glaube dir, Pap“, sagte ich. „Ich weiß einfach, dass du niemanden aus Bosheit getötet hättest.“

„Nun, einige wären da anderer Meinung. Hör zu …“ Er zog ein Stück Papier aus seiner Hemdtasche, derselben, aus der er auch meine Perlenschachtel geholt hatte. War das erst vor einem Monat gewesen? Er drückte mir den Zettel in die Hand und schloss meine Finger um ihn.

„Das ist der Name einer Bank in Denver, bei der ich mein Konto habe. Sie haben Anweisung von mir, Henry einen Scheck zu schicken. Sollte noch in diesem Monat ankommen. Skeeter, es ist sauberes Geld, und ich möchte, dass du dafür sorgst, dass dein Daddy es bekommt. Wenn er es nicht haben will, dann sag’ ihm, er soll es auf deinen Namen bei einer Bank einzahlen. Es … es sind fast zwölftausend Dollar.“

„Aber Pap ...“, sagte ich, „du kannst doch nicht dein ganzes Geld verschenken.“

Pap lachte. „Ich habe nie gesagt, dass ich alles verschenke. Für Bohnen und Zigarren habe ich genug.“

Hinter uns gab es plötzlich ein gewaltiges Krachen von Ästen, und als wir uns umdrehten, sahen wir, wie nur knapp fünf Meter entfernt ein großes rotbraunes Pferd durch die Zedern preschte. Der Reiter war ein schwerer Mann mit einem struppigen Bart. Das Pferd stürmte zwischen Pap und mir hindurch, und bevor ich reagieren konnte, griff der Mann nach unten, packte meinen Arm… und schleuderte mich vor sich in den Sattel. Er zog das Pferd mit einem kräftigen Ruck herum, und als es sich aufbäumte, stand Pap unmittelbar vor ihm, mit gespreizten Beinen und den Equalizer genau auf uns gerichtet.

„Na sowas, Dub Denby! Schätze, du bist überrascht, mich wiederzusehen“, rief der große Mann hinter meinem Kopf. Sein fleischiger Arm war um mich geschlungen und klemmte meine Ellbogen ein. „Wusste nicht, dass du hier oben Gesellschaft hast. Macht die Sache interessanter, findest du nicht?“ Er lachte, und ich roch Tabak und sauren Alkohol und einen fauligen Gestank, von dem mir übel wurde.

„Du bist wegen mir hier, Sid. Lass sie gehen“, sagte Pap. Seine grauen Augen waren wie aus Stein.

„Ha! Da hätte ich doch ein weiches Herz, oder? Zu meinem Bruder Rolf warst du nicht so mitfühlend. Du hast ihm eine verpasst … ungefähr hier.“ Mit seiner freien Hand drückte der Mann, der auf den Namen Sid hörte, mir die Mündung einer Pistole knapp unterhalb meines Schlüsselbeins und der Perlenkette, die ich vergessen hatte abzunehmen, in die Haut.

„Dein Bruder hatte schon eine Waffe auf mich gerichtet, als ich zog“, antwortete Pap. „Sie ist unbewaffnet und hat nichts mit dieser Sache zu tun. Du und Rolf habt euch euren Weg ausgesucht. Ihr habt gewusst, dass er mit einer Kugel oder dem Schlüssel eines Gefängniswärters enden würde.“

„Schätze, du hast einen ganz schönen Batzen Geld dafür bekommen, dass du die Gothard-Brüder geschnappt hast. Verdammt schade, dass einer von uns nur den halben Preis gebracht hat, da er ja tot war und so. Was mich betrifft, gibt es nicht viele Gefängnisse, die mich lange festhalten können. Ich bin jetzt seit sechs Monaten auf der Jagd nach dir. Und dieses Mal bin ich mit dem Töten an der Reihe, Dub.“

Sid Gothard schob den Lauf seiner Pistole hinauf an meine Schläfe. „Vielleicht erschieße ich auch dieses kleine Mädchen. Wäre vielleicht eine gute Idee, wenn du den Colt jetzt fallen lässt.“ Ich wollte Pap ein Zeichen geben, dass er seine Pistole nicht aus der Hand geben sollte, aber ich wagte nicht, mich zu bewegen. Ich formte mit dem Mund ein „Nein“. Ich dachte, vielleicht fiele mir ein Weg ein, wie ich ihm freie Schussbahn auf diesen stinkenden Mann hinter mir verschaffen könnte.

Pap ließ seine Waffe sinken und bückte sich, um sie behutsam vor sich auf den Boden zu legen. Dann trat er einen Schritt zurück. „Jetzt… lass sie los, Sid.“

Die nächste Minute verging langsam, wie in einem Traum. Sid streckte plötzlich seinen Waffenarm aus und zielte auf Pap. Ich warf mich mit meinem ganzen Gewicht zur Seite, kam frei und stürzte vom Pferd. Ich hörte einen Schuss, kam auf meine Hände und Knie und sah Pap, genauso geduckt wie an jenem Tag unter dem Cottonwood. Aber er hatte keine Waffe in der Hand. Er schaute mich ganz ruhig an, dann kippte er um.

Ich krabbelte auf den Colt zu… er lag immer noch zwischen uns auf dem Boden. Ich musste das Pferd erschreckt haben, denn es warf den Kopf hoch und tänzelte ein paar Schritte zurück … gerade lange genug, damit ich mit den Händen an den Griff kam. Ich wusste, dass Sid das nächste Mal auf mich zielen würde. Als ich die Pistole herumschwenkte, sah ich, dass es genau so war.

Die Luft anhalten… abdrücken! Ich hörte den Schuss, aber irgendwie wusste ich, dass er schon einen Sekundenbruchteil, bevor ich den Abzug drückte, gefallen war. War ich getroffen?

Sid Gothards Gesicht zeigte einen kurzen Ausdruck von Überraschung, dann kippte er zur Seite, rutschte hinunter und fiel schwer zu Boden.

Ich hörte Fußschritte. Pap? Ich wirbelte herum, den Colt immer noch in beiden Händen. In der Lücke zwischen den Zedern, durch die Sid geritten war, stand Daddy … und hielt sein Winchester-Gewehr, aus dessen Lauf eine Rauchfahne aufstieg.

Wir rannten beide zu Pap. Er blutete aus der Brust, ziemlich weit oben, ganz dicht neben der Stelle, wo Sid gedroht hatte, auf mich zu schießen. „Daddy, tu ’was für ihn!“ Ich war den Tränen nahe. Er beugte sich vor und lauschte auf Paps Oberkörper. Dann zog er sein eigenes Hemd aus, rollte es zu einem Knäuel zusammen und drückte es auf die Wunde.

Ich sah, wie Pap leicht zusammenzuckte. „Er lebt!“

„Heben wir seinen Kopf an. Hier … kannst du hier ‘rüber kommen und ihn auf deinen Schoß legen?“ Ma kam auf den Friedhof gelaufen. Ihre Wangen waren knallrot, und Spangen lösten sich aus ihrem Haar.

„Oh, mein Gott!“ rief sie. „Henry, Willie … seid ihr verletzt? Pap? Oh, du lieber Himmel, er ist getroffen!“

„Uns beiden geht’s gut, Florence. Pap hat eine Kugel abbekommen … und der Kerl da drüben wahrscheinlich zwei.“

Pap fuhr sich mit einer Hand über seine Brust und öffnete dann die Augen. Er schien furchtbare Schmerzen zu haben.

„Henry … Florence. Er …“ flüsterte Pap.

„Versuch’ nicht zu sprechen, Pap“, sagte ich. Er legte seine Hand auf meinen Arm und hinterließ einen blutigen Fleck.

„Ich … wollte nicht, dass mir mein Ärger … bis hierher folgt“, sagte er. "Verzeiht mir …"

„Mach’ dir deswegen keine Sorgen“, sagte Ma. „Er sagte, er sei ein alter Geschäftspartner von dir. Ich habe ihm gesagt, dass du hier oben bist. Es tut mir so unendlich leid, Pap. Ich hätte …“ Ihre Stimme zitterte, als sie seine Wange streichelte.

„Irgendetwas an ihm hat mich misstrauisch gemacht“, sagte Daddy. Ich empfand eine Woge von Dankbarkeit für ihn. Was wäre passiert, wenn er nicht genau zur rechten Zeit gekommen wäre?

„Henry … ich kann vielleicht nicht …“ Pap hatte Mühe zu sprechen. „Ich muss… dir sagen …“

„Ganz ruhig …“, flüsterte Ma. „Können wir versuchen, ihn ins Haus zu bringen?“
Daddy untersuchte die Eintrittswunde, schob seine Hand unter die Schulter und tastete mit den Fingern nach etwas. Er nickte. Ich war erleichtert, dass, falls Pap sterben sollte, es nicht dort auf dem Friedhof geschehen würde.

Der alte Mann wollte nicht aufhören zu sprechen. „Henry … alles für dich … die ganzen Jahre … gespart. Da ist Geld. Skeeter weiß, wo …“ Der Zettel! Ich musste ihn fallen gelassen haben, als Sid mich packte. Ohne aufzustehen, schaute ich mich rasch um und entdeckte schließlich das zerknitterte Stück Papier in der Nähe von Grandma Ellens Grab liegen.

„Halte durch, Pap“, sagte Daddy. „Du must dich nicht beeilen, um deine Chips einzulösen. Du gehst nirgendwo hin … jedenfalls nicht heute. Sieht so aus, als ob du mit einer kaputten Schulter davon gekommen bist.“ Daddy hob ihn behutsam hoch, und mir wurde bewusst, wie schmächtig der alte Mann war.

„Greif’ dir das Pferd, Willie“, rief er mir zu. „Wir werden uns später überlegen, was wir mit dem Drecksack machen.“ Ich nahm an, dass er Sid Gothard meinte.

Als wir den Hügel hinunter gingen – Daddy, der Pap trug, auf dessen Bauch der Colt lag, ich, die den Rotfuchs hinter sich herzog, und Ma mit der Winchester –, schaute Pap zu Daddy hoch und sagte: „Das war ein feiner Schuss, Henry.“

Daddy grinste, so unbeschwert, wie ich ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. „Tja, ich habe einfach nur den Hurensohn ins Visier genommen … genau wie du es mir gesagt hast, Pap.“

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2024