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Freitag, 20. Juni 2025

STORY: Das Geisterpferd (Michael R. Ritt)


Das Geisterpferd

von Michael R. Ritt

(Orig. „The Demon Horse“, 2018; Übers.: Reinhard Windeler)


Dieses Mal müssen wir aufpassen, dass die Einleitung nicht länger wird als die Geschichte selbst. 
Zwischen April 2018 und April 2019 gab der Western-Autor Scott Harris insgesamt vier Sammlungen von Kurzgeschichten heraus, zu denen er jeweils einundfünfzig Schriftstellerkollegen einlud, die zwei Dinge zu beachten hatten: Erstens mussten alle zweiundfünfzig Stories mit demselben Satz beginnen (natürlich in jedem Band mit einem anderen), und zweitens mussten sie alle jeweils aus exakt fünfhundert Wörtern bestehen. 
Die vorliegende Geschichte steuerte Michael R. Ritt, den wir schon bei anderer Gelegenheit vorgestellt haben, zu der Sammlung mit dem Titel „A Dark & Stormy Night“ bei, der sich daraus erklärt, dass der vorgegebene Anfangssatz im Original „It was a dark and stormy night“ lautete, was eine kleine Erläuterung verdient hat.
Der englische Schriftsteller Edward Bulwer-Lytton (1803 – 1873) eröffnete damit im Jahre 1830 seinen Roman „Paul Clifford“. Seither sind diese Worte zu einem Klischee für den übertrieben melodramatischen Anfang einer Geschichte geworden. Sogar ein Hund kann diesen Satz zu Papier bringen, wie man an Snoopy sehen kann, den der Peanuts-Erfinder Charles M. Schulz (1922 – 2000) seit 1965 immer wieder ein Buch zu schreiben beginnen ließ, und zwar jedes Mal mit den Worten „Es war eine dunkle und stürmische Nacht“ (natürlich ohne dass jemals ein Werk vollendet worden wäre). Seit 1982 richtet die kalifornische San José State University sogar den Bulwer-Lytton Fiction Contest aus, bei dem es darum geht, den schlechtesten Anfangssatz eines (fiktiven) Romans zu verfassen.
Und wie lang ist die deutsche Übersetzung von „The Demon Horse“? Richtig, genau fünfhundert Wörter. Ehrensache.

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Es war eine dunkle und stürmische Nacht.“

Slim Taggert schüttete seinen Kaffeesatz ins Feuer und sagte gereizt: „Was ist denn das für eine blöde Art, eine Geschichte anzufangen? Du musst vorne anfangen, mit den Indianern.“

Cookie wischte eine Bratpfanne aus und hängte sie an ihren Platz im Küchenwagen. „Wer erzählt die Geschichte, du oder ich?“

Alle Cowboys um das Feuer herum waren sich einig, dass Cookie die Geschichte erzählen sollte. Daher streckte sich Slim auf seinem Bettzeug aus und zog seinen Hut über seine Augen, als ob er nicht mehr interessiert war.

Cookie fuhr fort: „Ich steckte in diesem kleinen Arroyo, wo mich die Apachen hingejagt hatten. Ich hatte ziemlich gute Deckung und hatte es geschafft, sie mir den ganzen Tag über vom Leib zu halten. Aber jetzt war es dunkel, und ich hatte nur noch drei Kugeln. Das hieß, dass ich nur noch zwei Schüsse hatte. Ich kenne die Apachen, also habe ich die letzte Kugel für mich selbst aufgehoben.

Es war so dunkel wie in einer Gruft, abgesehen von den Blitzen, die ab und zu von Osten nach Westen am Himmel aufblitzten. Mir war klar, dass die Dämonen der Hölle in dieser Nacht auf die Wüste losgelassen worden waren. Ich konnte den Schwefel in der Luft riechen.“

Als Cookie fortfuhr, starrte Pete, der jüngste der Cowboys, ihn voller Spannung mit großen Augen an.

„Plötzlich hörte ich einen Schrei, der mir die Haare zu Berge stehen ließ. Ich wusste, jetzt wollten sie mich holen. Ich steckte meinen Kopf über den Rand des Arroyos. Es blitzte gerade, und ich sah einen Indianer, der rechts von mir entlanglief. Ich wartete auf den nächsten Blitz und feuerte dann. Er purzelte in den Arroyo, mit einem großen Loch in der Brust. Gleich darauf sprang ein anderer Indianer in den Arroyo und brüllte wie ein Verrückter. Nur, dass es kein Kriegsgeheul war. Es war der Schrei eines Menschen, der zu Tode erschreckt war. Er guckte mich direkt an, mit großen Augen, und schrie: ‚Chelee-gode‘.“

Pete schien es die Sprache verschlagen zu haben, dann fragte er: „Was bedeutet das?“

Cookie ging zu ihm hinüber, hockte sich vor ihn und flüsterte: „Geisterpferd.“

Alle Cowboys waren jetzt still – einige hielten die Luft an – und warteten, dass Cookie fortfuhr.

„Was hast du dann gemacht?“ flüsterte Pete.

„Der Indianer machte kehrt und lief den Arroyo rauf. Ich steckte meinen Kopf wieder über den Rand, konnte aber nur dann etwas sehen, wenn es blitzte. Aber ich hörte eine Menge. Ich hörte, wie Männer schrien, und ich hörte ein teuflisches Grunzen, ein Knurren. Bei den Indianern war die Hölle los. Ich machte mich auf dem Boden vom Arroyo so klein, wie ich nur konnte, und betete wie ein Baptistenpastor.
Es war so schnell vorbei, wie es angefangen hatte, aber ich bin erst aus dem Arroyo ’raus, als es hell wurde. Die Indianer waren weg, abgesehen von den vier toten. Und gar nicht weit weg stand das Chelee-gode.“

„Wie sah das aus?“ fragte Pete.

Cookie stand auf und grinste: „Wie ein Kamel.“




***Published with permission from Michael R. Ritt and Literary Agent Cherry Weiner  - cwliteraryagency@gmail.com***
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken dem Autor sowie der Cherry Weiner Literary Agency für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.


Anmerkungen des Übersetzers:
1) Was es mit Kamelen im Wilden Westen auf sich hat, wissen Leser des AKWA Journal spätestens seit Vonn McKees Kurzgeschichte „… für einen anderen ein Meer“, die wir im April 2025 veröffentlicht haben.
2) Für Freunde des Skurrilen: Die Gewinner des in der Einleitung erwähnten Wettbewerbs (in verschiedenen Kategorien) gibt es zumindest für die Jahre ab 1996 online unter folgendem Link: https://www.bulwer-lytton.com/winners