Asse und Achten
Michael R. Ritt
Diese Geschichte benötigte einen etwas längeren Anlauf. Sie war bereits für die Anthologie „Showdown“ (2016) vorgesehen, ehe der Herausgeber Brett Cogburn sie durch eine andere Kurzgeschichte des Autors ersetzte, nämlich „Three Days to Pine River“ (im AKWA Journal als „Drei Tage bis Pine River“ auf Deutsch erschienen). Im Jahre 2018 sollte die verschmähte Geschichte in die von Hazel Rumney herausgegebene Sammlung “The Trading Post and Other Frontier Stories” aufgenommen werden und erlitt ein ähnliches Schicksal, denn auch dort erhielt eine andere Story des Autors („An Hour Before the Hangman“) den Vorzug. Dass diese zweimalige Zurückweisung kein Hinweis auf mangelnde Qualität ist, davon kann sich jeder Leser hier selbst überzeugen. Zudem nutzte Michael R. Ritt die zusätzliche Zeit, um weiter an der Geschichte zu feilen. In der Form, in der sie letztlich ein Jahr später in der ebenfalls von Hazel Rumney herausgegebenen Anthologie „Contention and Other Frontier Stories“ veröffentlicht wurde, gelangte sie bei den Peacemaker Awards 2020 in die Endausscheidung und erhielt somit ihre verdiente Anerkennung.
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In Nuggettown hatte es schon lange niemand mehr zu Reichtum gebracht. Ich hatte immer gedacht, dass sich mit dem Namen wohl jemand einen Scherz erlauben wollte. Nuggets hüpften nicht gerade aus dem Boden, und jede Ähnlichkeit zwischen diesem Ort und etwas so Zivilisiertem wie einer richtigen Stadt war rein zufällig.
Die Lady-Belle-Mine war die einzige in der Stadt, die nennenswerte Mengen Gold gefördert hatte. Die übrigen Unternehmungen waren kleine Schürfstellen, wie die von Pete und mir, auf denen Pfannen und Waschrinnen zum Einsatz kamen, die kaum genug Ertrag zeitigten, um dem Betreiber zu ermöglichen, seinen täglichen Bedarf an Lebensmitteln und Alkohol zu bezahlen.
Ich muss aber auch sagen, dass die Stadt eigentlich gar nicht so übel war. Sie war jung und rau, aber sie hatte Zukunft. Es war die Rede davon, dass die Colorado Central Railroad eine Nebenstrecke den Berg hinauf bauen wollte, um das Erz aus der Lady Belle abzutransportieren. Wir hatten vier Saloons, eine Schmiede, das Prüfamt, einen Gemischtwarenladen und drei Gaststätten. Außerdem befand sich gerade ein Hotel im Bau, das nach seiner Fertigstellung das größte Gebäude in Nuggettown sein würde. Einmal im Monat kam sogar ein Methodisten-Wanderprediger vorbei, um den Bergarbeitern die Leviten zu lesen und Kirchenlieder mit ihnen zu singen.
Die Straße, die durch das Stadtzentrum verlief, war nichts weiter als ein schlammiger, gefurchter Pfad, den die Frachtwagen benutzten, um Erz den Berg hinunter nach Denver zu befördern und Vorräte den Berg wieder hinauf. Ein nächtlicher Regenschauer hatte etwa fünfzehn Zentimeter Schlamm hinterlassen, der an meinen Stiefeln klebte, als ich von einer Straßenseite zur anderen watete. Ich hatte die meisten seiner üblichen Aufenthaltsorte abgeklappert, aber meinen Kumpel Pete nirgends gefunden.
Durch den Schlamm patschend überquerte ich die Straße zu „Otto’s Saloon“. Aus grob behauenem Holz erbaut war der Saloon eines von einem Dutzend Gebäuden in Nuggettown, die diese Bezeichnung verdienten. Die übrigen Behausungen in der Stadt waren alte Armeezelte, die nach dem Krieg aus Restbeständen an Goldsucher verkauft wurden. „Otto’s Saloon“ war derzeit das größte Gebäude der Stadt und verfügte über ein Obergeschoss mit Zimmern, die meist stundenweise vermietet wurden. Es war ein herrlicher Tag Anfang Juni, und jemand hatte eine alte hölzerne Bierkiste, die an der Seite die Aufschrift „Schueler & Coors“ trug, in die Tür gestellt, damit sie offen blieb.
Es gibt einen besonderen Geruch, der für jeden Ort charakteristisch ist, an dem Männer sich zum geselligen Beisammensein treffen. Eine seltsam einladende Mischung aus Bier, Rauch, ungewaschenen Körpern und Pferden hing in der Luft. Ein Saloon war ein verdammt schöner Ort, und ich holte tief Luft, während ich ein paar Sekunden in der Tür stand, um meine Augen an das schwache Licht im Inneren zu gewöhnen.
Ich hörte ihn, bevor ich ihn sah. Das heißt, ich hörte den Tumult, und wo Tumult herrscht, ist Pete Canfield normalerweise mittendrin.
„Du hast gehört, was ich gesagt habe, du verdammter Betrüger. Ich will mein Geld zurück.“ Der Bursche, der Pete am Kartentisch gegenübersaß, schob plötzlich seinen Stuhl zurück und erhob sich. Die beiden anderen Herren am Tisch strichen hastig ihre Gewinne ein und traten zur Seite. Pete blieb sitzen, den Stuhl nach hinten geneigt, und sah seinen Ankläger ruhig an, der einen Smith & Wesson Russian Kaliber .44 in seinem Gürtel stecken hatte.
Pete ließ seinen Stuhl nach vorne kippen. Er legte seine Hände auf die Tischkante und begann zu lachen. „Du glaubst, ich muss betrügen, um dich beim Kartenspielen zu schlagen, du armseliger Wicht? Wir wussten alle, dass du nur ein Paar Sechsen hattest! Du bist derjenige, der sehen wollte. Betrachte deinen Verlust als den Preis für eine Pokerlektion.“
Ich hatte diesen Burschen schon ein paar Mal gesehen. Sein Name war Kenny Bassett, aber er wurde Bass genannt. Er war vielleicht zwei Jahre älter als Pete, der fünfundzwanzig war, womit Bass ungefähr in meinem Alter gewesen wäre. Soweit ich wusste, arbeitete er auf keinem Claim. Er trieb sich einfach nur in der Stadt herum, spielte Karten, trank und pflegte seine große Klappe. Er hielt sich für einen harten Kerl und protzte gerne mit seinem Revolver, aber ehrlich gesagt habe ich nie gesehen, dass er ihn für etwas anderes als zur Dekoration benutzte.
Manchmal reichten schon ein paar scharfe Worte und ein Revolvergriff, der aus dem Gürtel ragte, um Leute zum Nachgeben zu bewegen. Zu diesen Leuten gehörte Pete nicht.
Ich hörte Bass sagen: „Ich zähle bis drei.“
Wo kam dieser Bursche her? Er musste zu viele von diesen Groschenromanen gelesen haben.
Bass stand da, seine Arme hingen locker an seinen Seiten, von sich selbst eingenommen, als ob er im Begriff wäre, etwas Dummes zu tun. Dann tat er tatsächlich genau das.
„Eins…“
Pete stieß seine Arme nach vorne, sodass der Tisch gegen Bass’ Beine krachte. Durch den plötzlichen Anprall verlor Bass das Gleichgewicht, und er landete mit dem Gesicht nach unten auf dem Tisch. Karten, Chips und Biergläser waren überall verstreut. Pete, der immer noch auf seinem Stuhl saß, stand auf, packte Bass am Kragen und zerrte ihn vom Tisch.
Bass landete auf dem Fußboden und rollte sich auf den Rücken. Da sah ich seinen Blick. Es war derselbe Blick, den ich schon einmal gesehen hatte, als ein Bekannter von mir in Texas das freundliche Wesen eines Pferdes, auf das er gerade gestiegen war, falsch eingeschätzt hatte. Das Pferd machte einen Satz, bog seinen Rücken durch und fing dann an auszuschlagen und zu hüpfen wie eine Heuschrecke in einer heißen Bratpfanne. Der Kerl landete mit dem Hintern voran in einem Wassertrog und hatte einen Ausdruck im Gesicht, der sagte: „Was zum Teufel ist gerade passiert?“ So war jetzt Bass’ Blick. Die Dinge waren nicht so gelaufen, wie er es erwartet hatte.
Pete beugte sich vor und packte Bass vorne am Hemd. Er drückte ein Knie in seinen Bauch, sodass Bass kaum noch Luft bekam.
„Und noch eine Lektion für dich: Sowas wie faire Kämpfe gibt es nicht, du verdammter Idiot.“ Nach diesen Worten holte Pete mit seinem rechten Arm aus und schlug Bass schnell hintereinander dreimal ins Gesicht, dann stand er auf und wartete darauf, dass Bass wieder auf die Beine kam. Aber Bass machte nicht mehr mit. Er lag benommen und stöhnend da, Blut floss aus seiner Nase und einem Riss in seiner Lippe.
„Bist du hier bald fertig?“ fragte ich, als ich hinter Pete trat.
Er drehte sich um und ließ ein Lächeln aufblitzen, das Lilly oder jedes andere Mädchen in „Otto’s Saloon“ hätte dahinschmelzen lassen. Ich hatte das schon oft gesehen. Pete war jung und schlank, mit wettergegerbten Gesichtszügen, die ihn ein wenig älter aussehen ließen, als er tatsächlich war. Er hatte dunkles Haar und braune Augen, die er, wie er sagte, von seiner Mutter geerbt hatte. Sie war Halb-Mexikanerin. Bei den Damen kam er ziemlich gut an.
„Oh, ich glaube, die Schule ist aus für heute.“ Er langte nach unten und zog den Revolver aus Bass’ Gürtel. Bass zuckte ein bisschen, rührte sich aber sonst nicht. Pete ging zur Theke und ließ die Waffe in einen Spucknapf aus Messing fallen, der dringend gereinigt werden musste. Dann gingen wir beide nach draußen.
***
Wir standen auf dem hölzernen Gehsteig vor dem Saloon, während Pete sich eine Zigarette drehte und sie mit einem Streichholz anzündete.
„Weißt du“, sagte ich, „du könntest dir wenigstens etwas Mühe geben, einmal vierundzwanzig Stunden lang nicht in irgendwelche Scherereien zu geraten. Er hätte dich erschießen können, und du trägst nicht einmal eine Kanone.“
„Nein, aber du schon“, sagte Pete grinsend. „Ich habe gesehen, wie du in die Bar gekommen bist.“
„Du hast also wieder ’mal darauf gezählt, dass ich dir deinen Arsch rette.“
„Ach was, der war nun wirklich nicht ernsthaft in Gefahr“, sagte er mit einem Achselzucken. „Eines Tages wird Bass sich selbst oder jemand anderen umbringen. Er sollte mir dankbar sein, dass ich ihn in der altehrwürdigen Kunst des Faustkampfes unterrichtet habe.“
„Und jetzt hast du vor, eine Schule aufzumachen? Du als Lehrerin, das hätte schon ’was.“
Pete lächelte und schlug mir im Spaß mit einer kurzen Geraden den Hut vom Kopf. Ich erwiderte mit ein paar Boxschlägen, die ihn beinahe vom Gehsteig auf die schlammige Straße hätten stolpern lassen.
Ich hob meinen Hut auf, wir fanden eine nicht so tiefe Stelle im Schlamm und machten uns daran, die Straße zu überqueren. Wir waren fast auf der anderen Seite, als Pete, der voranging, sich plötzlich umdrehte und mich am Arm packte, als wäre ihm gerade etwas eingefallen, das nicht warten konnte.
„Weißt du, Ben, vor ein paar Monaten haben sie McCall gehängt.“
„Du meinst Jack McCall, den Feigling, der letztes Jahr in Deadwood Hickok erschossen hat? Ja, davon habe ich gehört. Was ist damit?“
„Weißt du noch, welche Karten der alte Wild Bill in der Hand hielt, als McCall ihm in den Hinterkopf schoss?“
„Es heißt, es waren zwei Paare… Asse und Achten. Alle schwarz.“
Pete sah sich um, um sich zu vergewissern, dass niemand mithören konnte. Sein Gesicht nahm einen ernsten Ausdruck an, was bei ihm selten vorkam. Hätte ich Pete nicht besser gekannt, hätte ich angenommen, dass ihn etwas erschreckt hatte. Er senkte seine Stimme zu einem Flüstern. „Das sind dieselben Karten, die ich in meinem letzten Blatt hatte. Was glaubst du, was das bedeutet?“
Ich muss ein wenig verängstigt ausgesehen haben, denn er lachte, zwinkerte mir zu und klopfte mir auf die Schulter. „Ich mache nur Spaß, Ben. Du weißt doch, dass ich nicht an so einen Unsinn glaube.“
„Dann hattest du also keine Asse und Achten?“
„Doch, die hatte ich schon. Ich glaube einfach nur nicht an diesen Mumpitz von dem ‚Blatt des toten Mannes‘.“ Er drehte sich um, machte einen großen Schritt über die letzte Furche und stellte sich auf der anderen Straßenseite hin.
Die Leute bezeichneten Asse und Achten inzwischen als das „Blatt des toten Mannes“, weil Wild Bill Hickok diese Karten in der Hand hielt, als er getötet wurde (1). Ich gebe ohne Weiteres zu, dass ich wegen der ganzen Sache ein wenig erschrocken war. Als ich ein Kind war, hat mir meine Mutter immer aus einem Buch von Shakespeare vorgelesen. In einem Stück gab es diese Stelle, an der ein Kerl namens Hamlet zu seinem Freund sagt: „Es gibt mehr Dinge im Himmel und auf Erden, Horatio, als Eure Schulweisheit sich träumen lässt.“
Dieser Satz ist mir immer im Gedächtnis geblieben. Es gibt ein paar Dinge, von denen wir einfach nichts wissen. Es gibt Verbindungen zwischen Menschen und Ereignissen, Ursachen und Wirkungen, die uns verborgen bleiben. Pete hingegen hielt nichts von diesem „Mumpitz“, wie er es nannte.
Ich stieß einen tiefen Seufzer aus und stellte mich neben Pete vor das Prüfamt. „Ich wünschte, du hättest mir das nicht erzählt. Das macht es umso schwieriger, dir zu sagen, was ich weiß.“
„Wovon redest du?“
„Der Grund, weshalb ich dich gesucht habe. Ich habe Neuigkeiten, die du unbedingt hören musst.“
„Was für Neuigkeiten?“
Ich trat mit einer Stiefelspitze gegen die Kante des Plankengangs, um etwas von dem Schlamm loszuwerden; dann wiederholte ich den Vorgang mit dem anderen Stiefel. „Ich bin gerade mit einer Ladung Bauholz für die Lady Belle aus Denver zurückgekommen. Ich habe Parker gesehen. Er ist auf dem Weg hierher.“
Pete sah aus, als hätte ich ihm eine Ohrfeige verpasst. „Parker kommt nach Nuggettown? Heute?“
„So isses. War nicht weit hinter mir. Sollte jeden Moment hier sein.“
„Warum zum Teufel kommt er jetzt hierher? Er sollte erst in einer Woche kommen!“ Pete klang bestürzt, so als ob Parker sich nicht an einen Zeitplan gehalten und ihn irgendwie hintergangen hätte. Ich war mir nicht sicher, ob seine Frage rhetorisch war oder nicht, also beachtete ich sie nicht weiter.
Plötzlich wich Pete die Farbe aus seinem Gesicht; ihm war ein anderer Gedanke gekommen. „Du glaubst doch nicht, dass Sam weiß, dass Parker auf dem Weg ist, oder?“
„Das ist es, was ich dir beibringen will. Sam begleitet Parker. Sie sind beide auf dem Weg hierher. Sie haben gesagt, dass sie dir viel Zeit gegeben hätten, und da du nicht nach Denver gekommen bist, würden sie zu dir kommen. Sie haben gesagt, ich soll dir ausrichten, dass deine Zeit abgelaufen ist.“
Pete begann zu zittern. Er setzte sich auf die Bank, die dort vor dem Gebäude stand. Er stützte beide Ellbogen auf seine Knie, ließ den Kopf hängen und seufzte. Ein langer Moment der Stille folgte, während er die Nachricht auf sich wirken ließ.
Nach einer Weile setzte er sich aufrecht hin und holte tief Luft. Er drehte sich zur Seite und sah mich mit großen Augen und einem sarkastischen Grinsen im Gesicht an. „Verdammt nochmal, Ben. Du bist heute ja eine wahre Quelle guter Nachrichten, oder nicht? Gibt es sonst noch etwas, was ich wissen muss? Wurde mein Pferd von einer Schlange gebissen? Sterbe ich an Schwindsucht? Du kannst genauso gut alles preisgeben.“
Ich war nie gerne derjenige, der jemandem schlechte Nachrichten zu überbringen hatte, insbesondere, wenn es keine Möglichkeit gab, einen Teil der Last abzunehmen. „Mach’ nicht den Überbringer der Nachricht verantwortlich, Pete. Du hast gewusst, dass dieser Tag kommen würde. Die beiden denken schon die ganze Zeit daran, seit du Sam gegenüber deine große Klappe nicht halten konntest.“
Pete sprang auf, als hätte er sich auf einen spitzen Gegenstand gesetzt. „Was hätte ich denn tun sollen? Sam hat mich in die Enge getrieben und mich einen Feigling genannt. Ich musste etwas sagen.“
Pete begann, auf dem Plankengang auf und ab zu gehen. Dann warf er in einer für ihn allzu typischen theatralischen Geste und mit einem irritierten Gesichtsausdruck seine Arme in die Luft. Aber so war Pete nun einmal. Bei ihm war alles eine Theateraufführung. Er zog sich einen Kratzer an einem Stacheldraht zu und war überzeugt, dass er zum Arzt musste, um ihn nähen zu lassen. Wenn er sich beim Kartenspielen mit einem Kerl angelegt hatte, waren es am nächsten Tag drei Kerle, die er „fertiggemacht“ hatte, und zwar gründlich. Wenn es um Pete ging, hatte er immer das schnellste Pferd in der Gegend, konnte besser Karten spielen, mehr trinken und genauer schießen als jeder andere.
„Was hätte ich denn tun sollen?“ wiederholte er.
„Tja, es gibt jetzt keine Möglichkeit mehr, aus der Sache herauszukommen. Man sagt sowas nicht zu Sam, wenn man sich nicht beim Wort nehmen lassen will.“
Pete wirkte, als hätten ihn meine Worte verletzt. „Ich habe durchaus vor, mich beim Wort nehmen zu lassen. Ich dachte nur, dass ich etwas mehr Zeit hätte. Du weißt schon… noch ein bisschen Spaß.“
Das war das Problem mit Pete. Er nahm nie etwas wirklich ernst. Ich war immer der, der verantwortungsbewusst und besonnen war. Das war so ziemlich das Muster unserer Freundschaft. Pete tat irgendetwas Unüberlegtes und brachte sich damit in Schwierigkeiten. Dann kam ich hinter ihm her und räumte auf, was er angerichtet hatte. Noch bevor sich der Staub überhaupt gelegt hatte, geriet Pete woanders in Schwierigkeiten, und ich half ihm erneut aus der Patsche. Aber er war mein Freund.
***
Meine Familie kam aus Tennessee, zog aber nach Texas, als einer ihrer Nachbarn, Davy Crockett, meinem Vater erzählte, dass es viel aufregender sei, gegen Mexikaner zu kämpfen, als Steine umzupflügen. Crockett hatte gerade seine sechsjährige Amtszeit als Kongressabgeordneter der Vereinigten Staaten beendet, also dachte er wahrscheinlich, dass es an der Zeit wäre, irgendwo hinzugehen, wo die Aussicht bestand, dass er tatsächlich etwas bewegen konnte.
Pa hatte mehr von einem Farmer als von einem Kämpfer in sich, aber ihm gefiel die Idee, nach Texas zu ziehen. Im Frühjahr 1836 ließen sich meine Mutter und mein Vater auf einer kleinen Farm in der Nähe von Nacogdoches im Hügelland im Osten nieder. Ich wurde 1850 geboren, als jüngstes Kind von vier Jungen und zwei Mädchen, alles lupenreine Texaner.
Mit fünfzehn Jahren verließ ich mein Zuhause und zog nach Westen und nach Süden. Ich arbeitete auf einigen der größten Rinderranches in Texas, darunter denjenigen von Allen und King.
Pete lernte ich vor drei Jahren auf einem Viehtrieb von Waco nach Abilene kennen. Wir verstanden uns auf Anhieb gut. Alle mochten Pete. Arbeiten war nicht so seine Sache. Er hatte kein Verantwortungsbewusstsein und neigte zur Angeberei, aber er hatte immer einen Witz oder eine Geschichte auf Lager. In seiner Gesellschaft war es nie langweilig, und er war überaus großzügig. Er hätte sein letztes Geld ausgegeben, um einem einen Drink zu spendieren.
Wir landeten in Colorado, weil Pete der Meinung war, dass er mit der Suche nach Gold reich werden könnte. Den Leuten erzählten wir, dass wir unseren Claim gemeinsam bearbeiteten, aber in Wirklichkeit war ich die ganze Zeit derjenige, der Steine zertrümmerte oder die Pfanne schwenkte oder Kies in die Waschrinne schaufelte. Pete lag derweil auf dem Erdboden und kaute auf einem Grashalm, den Hut weit über die Augen gezogen, um sie vor der Sonne zu schützen. Er lag da, ohne sich um die von mir verrichtete Arbeit zu kümmern, und unterhielt mich mit Geschichten über seine Eroberungen bei den Frauen, die er gekannt hatte, oder über die Schwierigkeiten, in die er geraten war.
Schließlich gab ich den Claim auf und fing an, als Frachtwagenkutscher für die Lady Belle zu arbeiten. Pete schaffte es, mit Kartenspielen und Pferderennen über die Runden zu kommen – oder mit sonstigen Vergnügungen, die er sich einfallen ließ, um die Bergleute und Goldsucher von Nuggettown um die Erträge ihrer Arbeit zu erleichtern.
***
Pete stand da, die Hände in die Hüften gestemmt, und blickte Richtung Osten aus der Stadt hinaus auf die schlammige Straße, die sich durch Espen und Kiefern den Berghang hinunter auf die Ebenen im Osten schlängelte. Er sah aus wie ein Mann, der drauf und dran war, von etwas eingeholt zu werden, vor dem er davongelaufen war. Es war keine Angst. Ich hatte Pete schon einmal gesehen, als er Angst gehabt hatte. Das war es nicht. Es war eher Resignation.
Nach einer Minute wandte er sich wieder mir zu. „Wenn Sam und Parker heute hierher kommen, dann denke ich, dass der Tag heute genauso gut wie jeder andere ist, um es hinter mich zu bringen.“
Wir waren etwa drei Schritte gegangen, waren um die Ecke des Prüfamtes gebogen, und da war er. Ezra Parker stand vor uns, lässig an die Ecke des Gebäudes gelehnt, als wäre er schon eine Weile dort gewesen. In der einen Hand hielt er eine Zigarre und in der anderen ein brennendes Streichholz. Anstatt jedoch die Zigarre anzuzünden, ließ er das Streichholz fallen und trat dann mit einer Stiefelspitze darauf, um die Flamme auszulöschen.
Er sprach im Plauderton, als stünden wir drei in „Otto’s Saloon“ an der Theke, tränken gemeinsam Bier und unterhielten uns über das Wetter. „Hallo Jungs.“
Parker war eine imposante Erscheinung Mitte fünfzig mit aufmerksamen, kalten grauen Augen, die einen scharfen Kontrast zu seiner komplett in Schwarz gehaltenen Kleidung bildeten; von seinem Boss Stetson mit niedriger Krone und flacher Krempe bis hin zu einem Paar kniehoher Kavalleriestiefel. Seine fast einen Meter neunzig große Gestalt war von einem schwarzen Gehrock umhüllt, und unter dem Mantel trug er einen Colt .45 Peacemaker, der zu seinem vertrauten Begleiter geworden war, als er vor Jahren für General Crook gekundschaftet hatte. Er war mit Colonel Reynolds bei dessen Feldzug gegen die Nördlichen Cheyenne am Powder River gewesen, und ein Sioux hatte ihm während der Schlacht am Rosebud einen Pfeil ins Bein geschossen. Davon war ihm ein leichtes Hinken zurückgeblieben, das jeden anderen hätte angeschlagen erscheinen lassen. Aber bei Parker war es so, dass er dadurch gestählt wirkte, als wäre es eine schwer erkämpfte Narbe.
Er hielt seine Zigarre hoch, damit wir sie sehen konnten. „Ich weiß, dass es eine schlechte Angewohnheit ist. Ich versuche, davon loszukommen.“ Er steckte die Zigarre in eine Innentasche seines Mantels. „Aber ich gebe zu, manchmal vermisse ich ihren Geruch.“
Pete hatte sich keinen Zentimeter bewegt.
Parker trat einen Schritt näher und richtete seine Worte direkt an ihn. „Du hast auch eine schlechte Angewohnheit, Sohn. Die Angewohnheit, keine Verantwortung für deine Taten und Worte zu übernehmen. Das ist ein Verhaltensmuster, das jetzt aufhören muss… und zwar heute. Ich habe vor, dir dabei zu helfen.“
Er kam noch einen Schritt näher, sodass er nur noch eine Armlänge von Pete entfernt war. Der Blick seiner grauen Augen hatte es an sich, sich wie Eis auf der Haut an einem heißen Augusttag in einen einzubrennen. „Sam und ich erwarten dich im Pfirsichhain außerhalb der Stadt. Du hast eine Stunde Zeit, dich vorzubereiten. Es ist Sams Privatsache, aber wenn du nicht auftauchst, werde ich dich suchen kommen.“
Sollte jemand denken, dass dies vielleicht ein guter Zeitpunkt für Pete gewesen wäre, sich aus der Stadt zu verdrücken und für ein paar Tage in den Bergen zu verstecken, dann kannte derjenige Parker nicht. Er war einer der besten Kundschafter der Armee gewesen, und die Leute sagten, er könnte einen Schmetterling durch dichten Nebel verfolgen. Wegzulaufen stand nicht zur Debatte.
Pete stand aufrecht da und sprach ruhig. Es lag keine Bosheit in seinen Worten. Keine Angst. Keine Prahlerei. Kein Hochmut. Stattdessen zeugten sie von einer Reife und einer Akzeptanz der Dinge, wie sie nun einmal waren, die der Art und Weise, wie Pete sich normalerweise verhielt, fremd waren. Er sah Parker direkt in die Augen. „Ich werde da sein, aber ich brauche zwei Stunden, um ein paar Dinge zu regeln.“
Parker zog seine Uhr aus der Westentasche, um nach der Uhrzeit zu sehen. „Na gut. Um Eins im Pfirsichhain. Ich verlasse mich auf dein Wort, Sohn. Enttäusche mich nicht.“
Wir beide standen wie angewurzelt da und sahen zu, wie Parker sich umdrehte und davonging. Das Geräusch seiner Stiefel auf dem hölzernen Gehsteig wurde durch den Nachklapp unterstrichen, wenn er sein lädiertes Bein nachzog.
Ich musste an die Asse und Achten denken. „Was hast du vor, Pete? Bist du sicher, dass du das durchziehen willst? Du weißt, was das bedeutet, oder nicht?“ Ich glaube, zu diesem Zeitpunkt machte ich mir mehr Sorgen als Pete, und ich war nicht derjenige, der damit rechnen musste, dass Parker ihn ins Visier nehmen würde. Mehr als ein Mann hatte auf die harte Tour erfahren müssen, dass Parkers Revolver kein modisches Accessoire war.
„Ich weiß, was das bedeutet, Ben. Es bedeutet, dass ich Sam gegenübertreten muss, oder ich muss Parker gegenübertreten. So oder so, nach heute wird es nicht mehr so sein wie bisher.“
„Ich werde dich unterstützen, egal was du machst, aber du musst dir sicher sein, dass es das ist, was du willst.“ Ich ließ Pete noch etwas länger Zeit, um seine Entscheidung zu treffen. Wenn man gezwungen ist, eine Entscheidung zu treffen, die man nicht treffen möchte, ist es manchmal am Besten, sich von seinem Instinkt leiten zu lassen und nicht zu viel darüber nachzudenken. Sich den Kopf bis zum Äußersten zu zerbrechen, kann einen Menschen verrückt machen, insbesondere einen Mann wie Pete Canfield, der in der Regel zuerst handelte und erst später über die Konsequenzen nachdachte – wenn überhaupt.
Drüben bei der Lady Belle ertönte der Pfiff, der für die Minenarbeiter das Zeichen für den Schichtwechsel war. Irgendwo auf der Straße begann ein Hund aus Protest gegen den schrillen Pfeifton zu heulen, was zu einer unheimlichen Symphonie führte, die vom Berg widerhallte und unten im Tal verklang.
Pete sah mich an, und ich konnte in seinen Augen sehen, dass er sich entschieden hatte. „Ich hätte die Sache mit Sam schon vor Monaten klären sollen. Ich hätte es nie so weit kommen lassen dürfen. Es ist Zeit, dass ich das Richtige tue.“
Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern über die Stirn und durch die Haare. Dann wischte er mit seinem Hut etwas von dem Staub weg, der sich auf seiner Hose angesammelt hatte. „Ich muss mich noch von Otto, Lilly und einigen der Mädchen verabschieden. Dann ziehe ich mir ein paar saubere Klamotten an, damit ich vorzeigbar aussehe. Warum treffen wir uns nicht in zwei Stunden draußen auf dem Claim?“
Er legte mir seine Hand auf die Schulter und lächelte. „Mach dir keine Sorgen. Es wird schon gutgehen. Tut es doch immer bei mir, oder?“
Pete und ich verabredeten uns für Viertel vor Eins am Claim, um zusammen zum Pfirsichhain zu reiten. Dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging zurück zu „Otto’s Saloon“.
***
Als die Zeit gekommen war, traf ich Pete wie vereinbart dort, wo wir unseren Claim am Fluss am Stadtrand abgesteckt hatten. Ich saß auf meinem Pferd und beobachtete, wie er frisch gebadet, glattrasiert und in einem neuen Anzug aus dem Zelt kam. Wo in aller Welt er einen Anzug aufgetrieben hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, aber es war ihm gelungen. Um seine Taille trug er einen schicken Revolvergürtel im Cheyenne-Stil mit einem in das Leder eingearbeiteten Blumenmuster. Aus dem Mexican-Loop-Holster ragte ein Colt mit Perlmuttgriff.
Er kam heraus und klopfte den Staub von seinem Hut. Er strich sich das Haar zurück, setzte den Hut auf und fragte: „Wie sehe ich aus?“
„Wie der Ehrengast auf einer Beerdigung“, scherzte ich.
In seiner gewohnt dramatischen Manier griff Pete sich an die Brust, als spürte er einen Schmerz. „Na, vielen Dank für diese aufmunternden Worte. Ich glaube, ich bin gar nicht darauf angewiesen, dass Parker mir Übles will, wenn ich einen Freund wie dich um mich habe.“
Er band sein Pferd von dem Espenast los, an dem es angebunden war, packte den Sattelknauf, schwang sein Bein nach oben und hinüber und landete im Sattel, ohne die Steigbügel berührt zu haben.
„Ich bin dein bester Freund, Pete, und ich reite mit dir hinunter zum Pfirsichhain oder hinauf in die Berge, wenn es das ist, was du willst. Aber um ehrlich zu sein… ich bin stolz auf dich. Du tust das Richtige.“
Wir beide ritten Seite an Seite zum Pfirsichhain, der am südlichen Ende der Stadt lag. Keiner von uns sagte etwas, aber wir bemerkten beide, wie leer und still die Straßen wirkten. Inzwischen hatten alle gehört, was anlag, und die Leute machten sich auf den Weg zum Obstgarten, um sich das Spektakel anzusehen. Ich fragte mich, was es mit einer Sache wie dieser auf sich hatte, dass sie die perverse Neugier der Menschen weckte. Dasselbe passierte bei einer öffentlichen Hinrichtung. Die Leute waren stundenlang unterwegs und machten sich einen Feiertag daraus, um dabei zuzusehen, wie einem Mann der Hals langgezogen wurde. Auf unserem Weg kamen wir an mehreren Menschen vorbei, die aus irgendeinem Grund beschlossen hatten, in der Stadt zu bleiben. Jeder winkte und rief „Viel Glück, Pete“, als wir vorbeiritten. Einige lachten nur.
Als wir uns dem Mietstall am Stadtrand näherten, sahen wir einen Mann, der sein Halstuch in einen Pferdetrog tauchte und sich das Gesicht wusch. Er sah in unsere Richtung, als wir vorbeiritten. Es war Bass. Er hatte ein hässliches blaues Auge, das fast zugeschwollen war, und eine aufgeplatzte Unterlippe. Er warf Pete einen bösen Blick zu. „Ich hoffe, du kriegst, was du verdienst, du Hurensohn.“ Pete ritt vorbei, ohne auf seine Bemerkung zu reagieren oder auch nur seine Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen.
Schon von Weitem konnten wir den ganze Trubel sehen und hören. Einige von Lillys Mädchen schmückten den kleinen Obstgarten mit Blumen und hängten Luftschlangen an die Ästen der Pfirsichbäume, die in voller Blüte standen. Auf einem Wagen hatten die Saloons der Stadt einige ihrer Stühle herangeschafft, und sie wurden gerade abgeladen und für die Menschen aufgestellt, die gekommen waren, um dem Ereignis beizuwohnen. Es standen Tische mit Essen bereit, und Silas Gant stimmte seine Fiedel für den Tanz, der anschließend stattfinden sollte.
Parker stand da und wartete. Sein Mantel war aufgeknöpft und an den Seiten zurückgeschlagen. Das Sonnenlicht funkelte auf der Trommel des Peacemaker-Colts, der im Holster an seiner Seite steckte.
Pete und ich brachten unsere Pferde zum Stehen und saßen ab. Ich sah, wie Petes Beine ein wenig nachgaben, als er aus den Steigbügeln stieg. Ich erwog kurz, einen Arm auszustrecken, um ihm Halt zu geben, wollte ihn aber nicht in Verlegenheit bringen. Ich musste ihm Anerkennung zollen. Er fasste sich, streckte sich, holte tief Luft und ging mit geschwellter Brust direkt auf Parker zu.
Parker musterte Pete von oben bis unten, und ihm fiel auf, dass das Holster an Petes Waffengurt so angebracht war, dass er den Revolver über Kreuz ziehen konnte. „Bist du bereit für das hier?“
„Ich bin bereit“, antwortete Pete. „Ich hätte das schon vor Monaten mit Sam klären sollen.“
Ein Lächeln erhellte das Gesicht von Reverend Ezra Parker, als er ihm die Hand entgegenstreckte. „Das ist, was ich hören wollte, Sohn. Genau das wollte ich hören.“
***
Samantha Ann Murphy stand unter einem kleinen improvisierten Torbogen, den jemand gezimmert, weiß gestrichen und mit Wildblumen geschmückt hatte. Sie trug ein weißes Chiffonkleid, das sie in einem Geschäft in Denver gekauft haben musste. Ihr rotes Haar fiel ihr locker über die Schultern und erinnerte mich an Lava, die die Hänge eines schneebedeckten Berges hinunterfließt. Sie war bereits im fünften Monat, aber das war ihr kaum anzusehen.
Sams Vater, Thomas Murphy, war Eigentümer der Lady Belle sowie zweier anderer Minen zwischen Denver und Colorado Springs. Er war ihm nicht recht gewesen, dass Pete seinem kleinen Mädchen den Hof machte, aber als er erfuhr, dass sie ein Kind erwartete, änderte er seine Meinung und drängte auf eine Hochzeit, damit sein Enkel nicht als Bastard geboren würde. Er bot Pete sogar an, ihn als Vorarbeiter in der Lady Belle anzustellen, um zu gewährleisten, dass er für Sam und das Baby sorgen konnte. In den letzten drei Monaten hatte er versucht, Pete dazu zu bringen, nach Denver in sein Herrenhaus zu kommen, damit er und Sam den Bund fürs Leben schließen konnten, doch alles ohne Erfolg.
Tatsächlich war es der Methodistenprediger Ezra Parker, der vorschlug, die Hochzeit nach Nuggettown zu verlegen.
„Ist sie nicht eine Augenweide?“ Pete war wie gebannt.
„Allerdings“, stimmte ich zu.
„Ich weiß nicht, warum ich soviel Angst davor gehabt habe – auch wenn sie mich nur dadurch, dass sie mich einen Feigling genannt hat, dazu gebracht hat, ihr einen Heiratsantrag zu machen. Ich musste mich bisher immer nur um mich selbst kümmern. Eine Ehefrau und eine Familie sind eine große Verantwortung.“
Pete und ich stellten uns neben Parker und Sam unter den kleinen Torbogen. Pete nahm Sam bei der Hand. „Du bist wirklich wunderschön. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe, um zur Vernunft zu kommen. Von diesem Tag an werde ich dich nie wieder enttäuschen. Das ist mein Versprechen.“
Sam hatte Mühe, die Tränen zurückzuhalten, die sich in ihren Augenwinkeln sammelten. Lächelnd legte sie ihre Hand sanft auf Petes Wange. „Ich liebe dich, Pete, aber ich möchte nicht, dass du etwas bereust. Wenn du nicht bereit bist, dich voll und ganz darauf einzulassen, dann geh’ jetzt. Niemand wird dich daran hindern.“
Pete beugte sich vor und küsste sie. „Ich bereue nur, dass ich dich nicht schon früher geheiratet habe.“
Reverend Parker schlug seine Bibel auf. „Seid ihr beide bereit?“
Pete legte seine Hand auf Sams Bauch und antwortete: „Wir drei sind bereit.“
„Dann lasst uns anfangen. Liebe Gemeinde…“
***
Der Empfang im Anschluss an die Trauung war ein wahres Fest. Das Paar war in der Gemeinde sehr beliebt, und die ganze Stadt freute sich, dass Pete sich endlich zu Sam bekannt hatte. Alle tanzten oder schlenderten herum, unterhielten sich und genossen die Bergluft, den klaren Himmel und die Junisonne.
Ich lehnte mit einem Becher Apfelwein in der Hand an einem der Wagen, als Parker auf mich zukam. „Das war wirklich ein schöner Gottesdienst, Reverend.“
Parker zuckte bei der Anrede leicht zusammen und lachte dann leise in sich hinein.
„Ich habe mich noch nicht ganz daran gewöhnt. Ich wurde so lange ‚Captain‘ genannt; dieses ‚Reverend‘-Ding ist noch ziemlich neu für mich.“
„Darüber habe ich nie wirklich viel nachgedacht“, sagte ich, „aber ich vermute, dass viele Prediger etwas anderes waren, bevor sie mit dem Predigen angefangen haben.“
„Das stimmt. Predigen ist eine Berufung, aber nicht jeder erhält diese Berufung zur gleichen Zeit in seinem Leben. Bei mir entwickelte sich das erst ziemlich spät… und unerwartet. Es mag ein Klischee sein, aber es stimmt, dass die Wege des Herrn unergründlich sind. Das war das erste Mal, dass ich eine Trauung vollzogen habe.“
„Na, ich finde, Sie haben das sehr gut hingekriegt.“
„Danke, Ben. Das weiß ich zu schätzen.“
„Ich bin allerdings neugierig, wenn es Ihnen nichts ausmacht, dass ich frage. Was hätten Sie getan, wenn Pete sich nicht dazu entschieden hätte, das Richtige zu tun? Angenommen, er wäre in die Berge abgehauen?“
Reverend Parker wurde für einen Moment nachdenklich. „Die Bibel spricht davon, dass der gläubige Mensch tatsächlich aus zwei Menschen besteht. Da ist der alte Mensch mit den alten Gewohnheiten und der alten Art, Dinge zu tun. Und dann ist da der neue Mensch, der nach dem Bild Christi neu geschaffen wird. Ich bin mir nicht sicher, welcher Mensch Pete verfolgt hätte, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass es für ihn so oder so nicht besonders gut ausgegangen wäre.“
Die Frischvermählten waren mit dem Begrüßen ihrer anderen Gäste fertig und kamen zu dem Platz, an dem Parker und ich uns unterhielten. Ich schüttelte Pete die Hand und gab der Braut einen Kuss auf die Wange.
„Wie geht’s dem alten Ehepaar?“ fragte ich.
„Verdammt“, bemerkte Pete, „wenn ich gewusst hätte, dass da getrunken und getanzt wird, hätte ich schon vor Monaten geheiratet.“
Sam schnappte nach Luft und kniff Pete mit gespielter Empörung in den Arm.
„Aua! Wofür war das denn?“
„Genießen Sie das Trinken und Tanzen, solange Sie können, Mr. Canfield“, schalt Sam, „denn morgen treten Sie Ihren neuen Arbeitsplatz als Vorarbeiter in der Lady Belle an. Sie tragen jetzt Verantwortung.“
Pete antwortete mit übertriebener Ernsthaftigkeit. „Ich versichere Ihnen, Mrs. Canfield, dass ich meine Aufgaben mit größtem Ernst und Fleiß erfüllen werde.“
Das löste bei uns allen schallendes Gelächter aus, das plötzlich von einem Schuss unterbrochen wurde. Ich sah, wie Pete sich um die eigene Achse drehte und zu Boden fiel, gefolgt von Sams Schrei. Zwei weitere Schüsse fielen, die fast gleichzeitig abgefeuert wurden. Der erste Schuss wurde von Parker abgefeuert, dessen Waffe wie aus dem Nichts aufgetaucht zu sein schien. Der zweite Schuss kam von mir.
Das alles geschah innerhalb weniger Sekunden, wie so viele Ereignisse, die das Leben verändern. Kenny Bassett war zur Hochzeitsfeier gekommen und hatte sich unbemerkt unter die anderen Gäste gemischt. Nachdem er sich mit starkem Apfelwein Mut angetrunken hatte, wartete er auf seine Chance, es Pete heimzuzahlen. Nun lag Bass tot auf dem Boden, und auf seiner Brust breiteten sich zwei purpurrote runde Flecken aus.
Ich eilte zu Pete hinüber, um zu sehen, wie sein Zustand war. Die Kugel hatte ihn herumgerissen, sodass er mit dem Gesicht nach unten gelandet war. Sam weinte und versuchte, ihn umzudrehen.
Parker zog sie sanft weg. „Komm’ schon, Sam. Lass’ Ben ’mal nachsehen.“
Ich drehte Pete auf den Rücken. In seiner Jacke konnte ich ein Loch auf der linken Seite seiner Brust sehen, gerade oberhalb seines Herzens. Ich begann, die Jacke aufzuknöpfen.
Plötzlich öffnete Pete seine Augen und packte mein Handgelenk. „Vorsichtig, Partner. Dieser Anzug ist noch nicht ganz bezahlt.“
Ich machte einen Satz zurück, erschrocken und mehr als nur ein bisschen verwirrt. Sam kam angestürzt und schlang ihre Arme um Petes Hals, als er sich aufsetzte.
„Vorsichtig, Pete“, warnte ich. „Du hast eine Kugel abgekriegt.“
Pete kam auf die Beine, wenn auch langsam, und klopfte den Staub von seinem neuen Anzug. „Mir geht’s gut.“
„Wie ist das möglich?“ rief ich aus. „Du hast ein Einschussloch in deiner Brust.“
Pete griff nach oben an seine Anzugsjacke, die er trug, und tastete in Brusthöhe mit den Fingern nach dem Einschussloch. Dann griff er in die Brusttasche und zog ein Kartenspiel heraus, das er dort hineingesteckt hatte. In ihm befand sich, ohne dass es den Satz Karten durchschlagen hätte, ein Geschoss vom Kaliber .44.
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, was ich von dem halten soll, dessen Zeuge ich an jenem Nachmittag in dem Pfirsichhain am Stadtrand von Nuggettown wurde. Vielleicht war etwas dran an dem Fluch der Asse und Achten – dem Blatt des toten Mannes –, vielleicht war es auch einfach nur Mumpitz, wie Pete sagte. Oder vielleicht war es so, wie die Indianer sagen würden: dass Petes Medizin stärker war als der Fluch. Reverend Parker sah das anders. Er sagte, es sei Gottes Vorsehung gewesen, die es nicht zugelassen habe, dass Pete vor der Zeit aus dem Leben gerissen wurde.
Eines weiß ich ganz sicher. Ich könnte auf tausend verschiedene Hochzeiten gehen, bei denen alles reibungslos verläuft. Aber wenn nur einziges Mal mein Kumpel Pete heiratet, dann gibt es einen Tumult. Und wo Tumult herrscht, ist Pete Canfield normalerweise mittendrin.
***Published with permission from Michael R. Ritt and Literary Agent Cherry Weiner - cwliteraryagency@gmail.com***
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025
Wir danken dem Autor sowie der Cherry Weiner Literary Agency für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.
Fußnote
(1) Dass Hickok diese Karten in der Hand hielt, ist eine hartnäckige Legende. Nachweislich erstmals aufgestellt wurde diese Behauptung im Jahre 1926, als Frank Jenners Wilstach (1865 – 1933) sie in seinem Buch „Wild Bill Hickok: The Prince of the Pistoleers“ veröffentlichte (übrigens der Vorlage für den Film „The Plainsman“ [dt.: Der Held der Prärie] von Cecil B. DeMille, 1936). Dabei berief er sich auf einen Brief, den er von Ellis Taylor „Doc“ Peirce (1846 – 1926) erhalten habe, der 1876 als Frisör und Bestatter in Deadwood tätig war und einen Ruf als Fabulierer hatte. Bisher wurde kein Beleg aus den fünfzig Jahren zwischen 1876 und 1926 gefunden, in dem erwähnt worden wäre, wie Hickoks Blatt aussah, und daher erscheint es sehr zweifelhaft, dass sich seinerzeit jemand darum gekümmert haben und es anschließend tatsächlich Tagesgespräch im Wilden Westen gewesen sein soll. Der Begriff „Dead Man’s Hand“ existierte dort in jener Zeit zwar tatsächlich, bezog sich aber auf andere Pokerpartien und andere Blätter. – Den Unterhaltungswert der hier präsentierten Story schmälert dieses Wissen jedoch in keiner Weise.
Anmerkung des Übersetzers
Zur Zeit (Stand November 2025) ist „The Sons of Philo Gaines“ aus dem Jahre 2020 Michael R. Ritts einziger veröffentlichter Roman. Zwei weitere Romane über die Familie Gaines sind jedoch bereits fertig: „Trouble on the Brazos“ und „The King of Nugget Town“. Wie man einem Facebook-Beitrag des Autors entnehmen kann, nimmt es in dem dritten Roman, der im Jahre 1882 spielt, mit Pete Canfield aus der obigen Kurzgeschichte kein gutes Ende, denn die Hauptfigur, David Gaines, findet Pete, der zu dieser Zeit bereits Eigentümer der Lady-Belle-Mine ist, ermordet auf und versucht anschließend, gemeinsam mit dessen Witwe Samantha das Verbrechen aufzuklären. Welche Rolle Petes Freund Ben, der inzwischen Gaines’ Schwester geheiratet und Karriere in der Lady-Belle-Mine gemacht hat, dabei spielt, ist dem Beitrag nicht zu entnehmen.
Erscheinungstermine für die beiden genannten Fortsetzungen sind noch nicht bekannt.


