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Freitag, 9. Mai 2025

STORY: Ungewollte Hilfe (Bill Pronzini)


Ungewollte Hilfe

von Bill Pronzini


(Orig. „›I’ll See to Your Horse‹“, 1972, bzw. „Decision“, 1989; Übers.: Reinhard Windeler)


Seit 1969 war Bill Pronzini, den wir bereits bei anderer Gelegenheit vorgestellt haben, als professioneller Schriftsteller tätig. Eine seiner frühen Short Stories im Western-Genre handelt von einem Mann, der nach einem persönlichen Schicksalsschlag eine Entscheidung treffen muss, als er einer jungen Frau begegnet, die sich in einer schwierigen Lebenslage befindet.
Die ursprüngliche Fassung dieser nur scheinbar simplen Kurzgeschichte erschien 1972 unter dem Titel „›I’ll See to Your Horse‹“ in der Februar-Ausgabe des „Zane Grey Western Magazine“.
Gut zehn Jahre später nahm Pronzini sie zur Grundlage für das erste Kapitel seines Romans „The Gallows Land“, der 1983 veröffentlicht wurde.
Für die von ihm gemeinsam mit Martin H. Greenberg im Rahmen der Reihe „The Best of the West“ herausgegebene Anthologie „The Arizonans“ erstellte Pronzini 1989 eine dritte Version mit dem Titel „Decision“, die auf der Fassung aus dem Roman beruht und hier erstmals in deutscher Sprache erscheint.

_________________________

Der Tag neigte sich der Abenddämmerung zu, der Himmel war von Flammen durchzogen, und die drückende Wüstenhitze ließ etwas nach, als ich auf die kleine, armselige Ranch stieß.

Sie lag eingebettet in einem weiten Ring aus steilen Felsklippen und mit Kakteen bewachsenen Anhöhen. Neben einem Einschnitt, der sich zwischen zwei Felswänden öffnete, kauerten eine Kate aus Holzbalken und Adobeziegeln und zwei verwitterte Nebengebäude. Selbst von dort oben, wo ich auf meinem Stahlgrauen saß, konnte ich sehen, dass, wer auch immer dort lebte, es nicht leicht hatte. Die Hitze hatte den Mais und das Gemüse auf der kultivierten Fläche auf einer Seite ausgetrocknet und verdorren lassen, und die schlichten Gebäude sahen aus, als wären sie am Zerbröckeln, wie die Knochen von Tieren, die vor langer Zeit verendet waren und zu Staub zerfielen.

In dem offenen Corral in der Nähe der Kate gab es weder Pferde noch andere Nutztiere, nirgendwo ein Lebenszeichen. Abgesehen von den Rauchschwaden aus dem Schornstein, die blass und gleichmäßig aufstiegen, wirkte der Ort, als wäre er aufgegeben worden. Es war der Rauch, der mich vor einigen Minuten vom Camino Real del Diablo weggelockt hatte; der Rauch und die Tatsache, dass meine beiden Wasserschläuche nahezu leer waren.

An den meisten Tagen schien es auf dem „Königsweg des Teufels“ eine Menge Verkehr zu geben; er war die einzige gute Straße zwischen Tucson und Yuma und gehörte zum Gila Trail, der Kalifornien mit Zielen im Osten Richtung Texas verband. Im Laufe der vergangenen Woche war ich Pionieren, Frachtführern, Herumtreibern, einer Butterfield-Postkutsche, einer Kompanie Soldaten auf dem Weg nach Port Yuma und Gruppen von Männern begegnet, die auf der Suche nach Arbeit an der Eisenbahnlinie waren, mit deren Bau die Southern Pacific im vorigen Jahr, 1878, vom Colorado River aus ostwärts begonnen hatte. Aber heute, als ich Wasser brauchte und ordentlich dafür bezahlt hätte, war die Straße menschenleer.

Es war meine eigene Schuld, dass ich kaum noch Wasser hatte. Ich hätte die Schläuche auffüllen können, als ich gestern Abend die Stadt Maricopa Wells passiert hatte, aber ich hatte mich entschieden weiterzureiten ohne anzuhalten; es war schon so spät gewesen, dass sogar die Saloons geschlossen waren, und ich dachte, es wäre nicht nötig, zu jener Stunde noch an jemandes Tür zu klopfen. Ich hatte die Absicht, Wasser an der nächsten Kutschenstation der Butterfield-Linie zu kaufen, aber als ich kurz vor Mittag dort ankam, hatte mich der Stationsvorsteher abgewiesen. Seine Hauptquelle wäre versiegt, sagte er, und sie hätten kaum genug für ihren eigenen Bedarf. Er erlaubte mir, fast den ganzen Nachmittag dort zu bleiben und am Corral im Schatten zu warten; als ich um fünf Uhr wieder weiterritt, war noch keine Menschenseele vorbeigekommen. Und auch seitdem hatte ich niemanden gesehen.

Ich hoffte, dass die Leute, die dort unten lebten, genug Wasser hatten, um etwas abzugeben. Wenn nicht, müsste ich zurück zum Devil’s Highway und noch etwas länger warten; weder der Stahlgraue noch ich waren in der Verfassung, um den Weg ohne Wasser fortzusetzen. Ich konnte den Brunnen der Ranch unter einem Bretterdach im staubigen Hof sehen, und ich leckte über meine ausgedörrten Lippen. Nun, ich hatte nichts zu verlieren, wenn ich hinunterritt und fragte.

Mit einem Fersendruck ließ ich das Pferd vorwärtsgehen. Ich saß schlapp im Sattel. Selbst wenn er überwiegend nachts unterwegs ist und obwohl es noch nicht einmal Mitte Mai war, trocknet ein Mann in der Wüste aus und wird müde und ausgelaugt.

Aber die Wüste hatte auch die Eigenschaft, den Verstand abstumpfen zu lassen, und genau deshalb hatte ich mich entschieden, alleine zu reiten, anstatt mit der Kutsche durch diese unwirtliche Gegend von Arizona zu reisen. Mir war nicht nach Gesellschaft oder Gesprächen zumute, denn das hätte nur zu Fragen geführt und Erinnerungen geweckt, mit denen ich mich nicht befassen wollte. Erinnerungen, die begraben werden mussten, so wie ich Emma vor vier Monaten und sechs Tagen in der von der Sonne verbrannten Erde außerhalb von Lordsburg begraben hatte.

Leute, die ich dort kannte, Freunde, sagten, der Schmerz würde nach einer Weile vergehen. Alles, was man tun müsste, war, so gut es ging weiterzuleben, und die Zeit würde einem helfen zu vergessen — vergessen, wie sie eines Abends nach einem Dutzend Stunden harter Arbeit auf unserem eigenen unergiebigen Land zusammengebrochen war, und wie ich gedacht hatte, es sei nur Schüttelfrost, weil sie über Schmerzen in der Brust geklagt hatte, und dieses schreckliche Erlebnis, als ich mit dem Arzt aus der Stadt zurückkam und sie in unserem Bett lag, so still und so schmal, ohne zu atmen, und sie einfach gegangen war. Herzversagen, sagte der Arzt. Achtundzwanzig Jahre alt, in der Blüte ihres Lebens, und ihr gutes Herz hatte sie im Stich gelassen …

Vielleicht hatten sie recht, die Freunde, die mir ihre Ratschläge gegeben hatten. Aber vier Monate und sechs Tage, in denen ich so gut es ging gelebt hatte, hatten die Trauer in mir nicht gelindert. Alles und jeder in Lordsburg hatte mich an Emma erinnert. Also hatte ich vor einer Woche die Farm verkauft, ein paar Kleidungsstücke zum Wechseln, ein paar persönliche Sachen und einen Reserve-Sechsschüsser in meine Satteltaschen gepackt und war nach Westen ins Arizona-Territorium aufgebrochen. Ich hatte keine Vorstellung, wohin ich gehen oder was ich tun würde, wenn die dreihundertachtzig Dollar, die ich in meinem Stiefel trug, aufgebraucht wären. Ich hatte nichts, und ich wollte nichts, außer mich durch die langen Tage und die noch längeren Nächte treiben zu lassen, bis das Leben wieder einen Sinn bekam, falls es das jemals tun würde.

***

Der Pfad, der zur Ranch hinunterführte, war steil und wand sich einige Male hierhin und dorthin, und ich brauchte fast zwanzig Minuten, um zu den Gebäuden zu gelangen. Das grelle Tageslicht hatte sich bis dahin abgeschwächt, und die oberen Enden der Steilwände schienen eine rötlich-violette Farbe angenommen zu haben; der Himmel strahlte jetzt in einem Rotton und nicht mehr messingfarben wie zur Mittagszeit.

Ich ritt langsam auf die Kate zu, meine Hände hielt ich erhoben und gut sichtbar. Siedler, die so abgeschieden in der Wüste lebten, waren wahrscheinlich misstrauisch gegenüber vornübergebeugten, staubbedeckten Fremden. Als ich den Hof vor der Kate erreichte, zog ich die Zügel an. Es war still dort, und ich konnte immer noch an keinem der Gebäude Geräusche oder Bewegungen ausmachen. Hinter dem Gemüsebeet stand ein windschiefer Geräteschuppen mit einem Vorhängeschloss an der Tür; das einzige andere Bauwerk war ein langer Unterstand aus Baumstämmen an der Rückseite des leeren Corrals. Hinter dem Schuppen waren Pulque-Kakteen wie Wachposten in dem heißen, trockenen Erdboden aufgereiht.

Ich schaute zu dem Brunnen und fuhr mir mit der Zunge durch meinen Mund und die Trockenheit in ihm. Dann ließ ich den Stahlgrauen einen halben Schritt näher auf die Kate zugehen und rief: „Hallo, da drinnen!“

Stille.

„Hallo! Jemand zuhause?“

Ein paar Sekunden lang herrschte weiterhin Stille, und ich überlegte abzusteigen. Aber dann sagte eine Frauenstimme von drinnen: „Was wollen Sie hier?“ Es war eine junge Stimme, heiser, aber gedämpft durch etwas, das ich nicht identifizieren konnte. Die Tür war geschlossen, und vor dem Fenster hing eine Gardine aus Mönchstoff, aber ich spürte, dass die Frau an diesem Fenster stand und mich durch die Gardinenfalten beobachtete.

„Kein Grund zur Sorge, Ma’am“, sagte ich. „Ich wollte nur fragen, ob Sie ein wenig Wasser übrig hätten. Ich habe fast keins mehr.“

Sie antwortete nicht. Wieder wurde es still, und ich bekam ein vages Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Es ließ mich unbehaglich im Sattel hin und her rutschen.

„Ma’am?“

„Ich kann Ihnen nicht viel abgeben“, sagte sie schließlich.

„Wieviel Sie auch immer entbehren können, ich werde dafür bezahlen.“

„Sie brauchen nichts zu bezahlen.“

„Das ist sehr freundlich von Ihnen.“

„Sie können absteigen, wenn Sie wollen.“

Ich setzte ein Lächeln auf, saß ab und klopfte mir den feinen pudrigen Staub von meinem Hemd und meinen Jeans. Die Tür öffnete sich einen Spalt breit, aber sie kam nicht heraus.

„Mein Name ist Jennifer Todd“, sagte sie von drinnen. „Meinem Ehemann und mir gehört diese Ranch.“ Sie sprach das Wort „Ehemann“ aus, als wäre es Blasphemie.

„Ich heiße Roy Boone“, sagte ich.

„Mr. Boone.“ Und sie öffnete die Tür und trat in das schwindende Licht hinaus.

Mein Lächeln verschwand; ich starrte sie an, und mein Mund öffnete sich. Sie war nicht älter als zwanzig, Haare von der Farbe von fast reifem Mais, zu lockeren Zöpfen geflochten und auf ihrem Kopf aufgetürmt, die Augen braun, sanft und groß — schöne Augen. Aber nichts davon war der Grund, dass ich so anstarrte, wie ich sie anstarrte. Es waren die blauschwarzen Blutergüsse auf beiden Seiten ihres Gesichts, die tiefe Schnittwunde über ihrer rechten Augenbraue, die gesprenkelten Schwellungen auf ihrer Oberlippe und an ihrer rechten Schläfe.

„Mein Gott!“ sagte ich. „Wer hat Ihnen das angetan, Missus Todd?“

„Mein Ehemann. Heute morgen, kurz bevor er nach Maricopa Wells ist.“

„Aber warum?“

„Er hatte einen Kater“, sagte sie. „Vom Pulque. Mace ist gemein, wenn er nüchtern ist, und noch gemeiner, wenn er betrunken ist; aber wenn er einen schlimmen Kater hat, ist er der Teufel persönlich.“

„Hat er Ihnen sowas schon ’mal angetan?“

„So oft, dass ich es nicht mehr zählen kann.“

„Vielleicht habe ich nicht das Recht, das zu sagen, aber warum verlassen Sie ihn nicht? Missus Todd, ein Mann, der einer Frau so etwas antut, würde nicht zögern, sie umzubringen, wenn er nur wütend genug ist.“

„Ich habe versucht, ihn zu verlassen“, sagte sie. „Dreimal habe ich es versucht. Jedes Mal ist er hinter mir hergekommen und hat mich hierher zurückgebracht und mich halbtot geschlagen. Ein Arbeitstier hat Verstand genug, um zu gehorchen, wenn es oft genug die Peitsche bekommt.“

Ich konnte Wut in mir spüren. Ich dachte wieder an Emma, an unsere Liebe, an die Zärtlichkeit. Manche Männer kannten oder verstanden solche Gefühle nie; manche Männer hatten nur eine Art von Schmerz empfunden und fühlten nie die andere Art, tief in ihrem Inneren. Sie erkannten nie, was sie an einer guten Frau hatten. Oder es kümmerte sie nicht. Solche Männer — aus einem Impuls heraus sprach ich den Rest des Gedankens aus. „So einen Mann sollte man für das erschießen, was er Ihnen angetan hat.“

Etwas flackerte in ihren Augen, und sie sagte: „Wenn ich eine Waffe hätte, Mr. Boone, würde ich genau das tun, glaube ich — ich würde ihn ohne Bedauern erschießen. Aber wir haben nur ein Gewehr und eine Pistole, und Mace trägt sie tagsüber bei sich. Nachts schließt er sie in dem Schuppen da drüben ein.“

Es bereitete mir Unbehagen, eine Frau so beiläufig davon reden zu hören, jemanden zu töten. Ich wandte meinen Blick von ihr ab und fragte mich, ob es Liebe oder ein anderer Grund gewesen war, der sie dazu gebracht hatte, diesen Mace Todd zu heiraten, jemanden, der sie in einem abgelegenen Tal wie eine Gefangene hielt, der sie verprügelte und versuchte, ihren Willen zu brechen. 

Als ich wieder auf Mrs. Todd blickte, lächelte sie auf eine flüchtige, humorlose Art. „Ich weiß nicht, was mit mir los ist, dass ich Ihnen all meine Sorgen erzähle. Jemand, der alleine durch die Wüste reitet, hat seine eigenen Probleme. Kommen Sie ’rein. Ich habe Eintopf auf dem Feuer. Es ist zwar noch früh, aber Sie können mit mir zu Abend essen, wenn Sie möchten.“

„Ma’am, ich —“

„Mace wird erst spät am Abend oder morgen früh nach Hause kommen — falls Sie an ihn denken.“

„Das tue ich nicht, nein. Er macht mir keine Sorgen.“

„Sie sehen müde und hungrig aus“, sagte sie, „und wir bekommen hier draußen nicht oft Besuch. Meistens habe ich niemanden, mit dem ich reden kann. Sie würden mir einen Gefallen tun, wenn Sie das Angebot annehmen würden.“

***

Mir fiel nichts ein, um ihr Angebot abzulehnen. Ich nickte nur und ließ mich von ihr in die Kate bitten.

Sie war voller Schatten und roch nach gewürztem Kanincheneintopf und kochendem Kaffee. Die wenigen Möbelstücke waren von Hand gemacht, aber wer auch immer sie gefertigt hatte — wahrscheinlich ihr Ehemann —, hatte schlechte Arbeit ohne viel Nachdenken geleistet; keines der Stücke sah aus, als würde es noch lange halten. Aber die beiden Räume, die ich sah, waren sauber und aufgeräumt, und man konnte sehen, dass sie mit dem, was ihr zur Verfügung stand, ihr Bestmögliches getan hatte — dass sie versucht hatte, ein Zuhause daraus zu machen.

Um einige der Schatten zu vertreiben, zündete sie eine Petroleumlampe auf dem Tisch an. Dann sagte sie: „In dem Waschbecken neben dem Herd ist Wasser, wenn Sie sich waschen möchten. Ich hole etwas Trinkwasser aus dem Brunnen, und ich versorge Ihr Pferd.“ 

„Die Mühe müssen Sie sich nicht machen …“

„Das ist keine Mühe.“

Sie drehte sich um und ging zur Tür. Ihr Gang war steif und langsam, aber sie hielt sich gerade; ihr Wille war noch nicht gebrochen. Ich sah zu, wie sie hinausging und die Tür hinter sich schloss, und ich dachte: Was für eine Frau! Die meisten Frauen wären inzwischen nur noch halbtote Schatten ihrer selbst, wenn sie das durchgemacht hätten, was sie durchgemacht hatte. 

Ich ging hinüber zum Waschbecken und wusch mich mit einem Stück kräftiger gelber Seife. Mrs. Todd kam zurück, als ich mich abtrocknete. Sie reichte mir eine Kürbisflasche mit Wasser, und während ich daraus trank, nahm sie einen schweren Eisenkessel von dem Spieß, an dem er über der Feuerstelle hing. Sie löffelte Eintopf auf Blechteller, schenkte Kaffee ein und stellte eine Pfanne mit frischem Maisbrot hin.

Wir aßen größtenteils schweigend. Obwohl sie gesagt hatte, dass sie niemanden zum Reden hätte, schien sie keine Unterhaltung führen zu wollen. Aber es gab etwas, was ich sagen musste, und als ich mit dem Essen fertig war, sprach ich es aus.

„Missus Todd, es war mehr als gastfreundlich von Ihnen, Ihre Mahlzeit und Ihr Wasser mit mir zu teilen. Ich kann nicht anders, ich habe das Gefühl, dass es etwas geben muss, was ich für Sie tun kann.“

„Nein, Mr. Boone. Es gibt nichts, was Sie tun können.“

„Na ja, angenommen, ich bleibe einfach hier, bis Ihr Ehemann nach Hause kommt, und unterhalte mich ein wenig mit ihm —“

„Das wäre nicht sehr klug“, sagte sie. „Wenn Mace nach Hause kommt und einen fremden Mann vorfinden würde, würde er sich nicht die Zeit nehmen zu fragen, wer Sie sind oder warum Sie hier sind. Er würde auf Sie losgehen, und danach würde er erst recht auf mich losgehen.“

Was konnte ich tun? Es war ihr Besitz, ihr Leben; es war eine Sache zwischen ihr und ihrem Ehemann. Wenn sie um Hilfe gebeten hätte, wäre es etwas anderes gewesen. Aber sie hatte ihren Standpunkt klar zum Ausdruck gebracht. Ich hatte kein Recht, mich ihr aufzudrängen.

Draußen, im seidigen, mondhellen Purpur des frühen Abends, bedankte ich nochmals bei ihr und versuchte, ihr Geld für das Essen und das Wasser anzubieten. Aber davon wollte sie nichts hören. Sie war zu stolz, um sich für ihre Gastfreundschaft bezahlen zu lassen. Sie bestand darauf, dass ich meine Wasserschläuche aus dem Brunnen auffüllte, bevor ich fortritt, also ließ ich den Holzeimer an der Winde hinunter und tat es.

Als ich langsam vom Hof ​​ritt, drehte ich mich im Sattel um und blickte zurück. Sie stand immer noch dort am Brunnen, schaute mir hinterher und ließ ihre Arme hängen. Im silbrigen Mondlicht wirkte sie einsam und regungslos — als hätte sie im Wüstenboden irgendwie Wurzeln geschlagen.

Eine Stunde später war ich wieder auf dem Camino Real del Diablo, Richtung Westen. Und ein wachsendes Gefühl des Unbehagens hatte sich eingestellt und begleitete mich. Zum ersten Mal seit vier Monaten und sechs Tagen war es ein anderer Mensch als Emma, ​​der meine Gedanken beherrschte; es war Jennifer Todd.

Wie ein Echo in meinem Kopf hörte ich einige der Worte, die sie zu mir gesagt hatte: Wenn ich eine Waffe hätte, Mr. Boone, würde ich genau das tun, glaube ich — ich würde ihn ohne Bedauern erschießen. Aber wir haben nur ein Gewehr und eine Pistole, und Mace trägt sie tagsüber bei sich.

Ich lauschte dem Echo dieser Worte und dachte darüber nach, wie sie mich in der Kate beobachtet hatte, als ich angeritten kam, wie sie plötzlich die Tür geöffnet hatte und nach draußen gekommen war. Warum war sie überhaupt herausgekommen? So übel zugerichtet, wären die meisten Frauen lieber im Schutz der Kate geblieben, als einem Fremden zu erlauben, sie in diesem Zustand zu sehen. Und warum hatte sie so freimütig über ihren Ehemann gesprochen, darüber, was für eine Art von Mann er war?

Dann hörte ich andere Worte, die sie gesagt hatte — Ich hole etwas Trinkwasser aus dem Brunnen, und ich versorge Ihr Pferd —, und ich zog die Zügel scharf an und schwang mich rasch aus dem Sattel. Meine Finger fummelten an den Riemen auf den Satteltaschen, zogen sie auf und tasteten in ihrem Inneren.

Mein Reserverevolver fehlte.

Und dazu noch drei oder vier Patronen.

Ich stand dort im Mondlicht, an die Flanke des Stahlgrauen gelehnt, und wusste genau, welchen Plan sie gefasst hatte, als sie mich heranreiten sah, und was sie plante, wenn ihr Ehemann aus Maricopa Wells nach Hause kam und wieder versuchte, Hand an sie zu legen. Und doch konnte ich über das, was sie getan hatte, keinen Zorn empfinden. Sie war dazu getrieben worden. Sie hatte jedes Recht, sich zu schützen.

Aber wäre es wirklich Selbstverteidigung? Oder wäre es kaltblütiger Mord?

Als ich wieder im Sattel saß, dachte ich: Ich muss sie aufhalten. Doch dann drängte sich Emma wieder in meine Gedanken. Gegangen — zu jung gestorben. So viele Jahre, die nie gelebt wurden, so viele Dinge, die nie getan wurden; das Kind, das wir uns so sehr gewünscht hatten und nie geboren wurde. Es gab nichts, was ich hätte tun können, um sie zu retten. Aber es gab etwas, was ich für eine andere leidgeprüfte junge Frau auf einer anderen armseligen Ranch tun konnte.

Ich traf meine Entscheidung.

Ich ritt weiter nach Westen.


© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025


Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.


Anmerkung des Übersetzers:
In dem in der Einführung erwähnten Roman „The Gallows Land“ entscheidet sich Roy Boone anders: Er reitet zurück, trifft aber Jennifer Todd nicht mehr an, sondern findet stattdessen einen toten Mann vor. Als er sich an die Fersen der Frau heftet, beginnt eine Odyssee, die ihn selbst in Lebensgefahr bringt.