*** Nichts verpassen! Der NEWSLETTER (Kontaktformular, rechts unten) informiert zuverlässig über das, was hier neu ist.***

Freitag, 19. September 2025

STORY: Angst (Bill Pronzini)


Angst

von Bill Pronzini

(Orig. „Fear“, 1995; Übers.: Reinhard Windeler)


Rache und Hass sind in Western häufig auftauchende Motive, um eine Handlung in Gang zu bringen und mit reichlich Action voranzutreiben. Wenn sich Bill Pronzini, für den dies der dritte Auftritt im AKWA Journal ist, dieser Themen annimmt, geht es deutlich gediegener zu und steht die psychologische Seite im Vordergrund. Was hat der Mann vor, den eine Falschaussage für acht Jahre hinter Gitter brachte? Und wovor fürchtet sich der Mann, der dafür verantwortlich war?
 
Die tiefgründige Story erschien erstmals 1995 in der März-Ausgabe des „Louis L’Amour Western Magazine“ und wurde im Jahre 2000 in der von John Jakes herausgegebenen Anthologie „A Century of Great Western Stories“ nachgedruckt.
Ein Jahr später nahm Pronzini sie in seine eigene Zusammenstellung von Western-Geschichten mit dem Titel „All the Long Years“ auf, und auch in seiner jüngsten Sammlung („The Hanging Man and Other Western Stories“, 2024) ist sie enthalten.

______________________________


Er saß mit dem Rücken zur Wand und wartete.

Der große Raum war voller Schatten, gemildert durch das frühe Tageslicht, das durch das Fenster zur Straße hereinfiel. Durch die Scheibe aus Flachglas konnte er die leere Hauptstraße von Boxelder sehen, wo der Regen auf die Pfützen voller Schlamm prasselte, der durch Wagenräder und Pferdehufe zu einen Morast geworden war. Der Wind rüttelte an dem an Ketten hängenden Schild an der Außenwand: R.J. CABLE, SATTELMACHER.

Vertraute Umrisse umgaben ihn im Halbdunkel. Werkbänke, übersät mit Lederresten, Hämmern, Werkzeugen zum Schneiden und Stanzen. Ein paar Sättel, fertige und noch in Arbeit befindliche — nicht halb so viele wie früher. Wandregale voller Zaumzeug und Trensen, Satteltaschen und anderem Zubehör. Einst hatten ihm die Werkzeuge und die Ergebnisse seines Handwerks Freude, Trost und ein gewisses Maß an Frieden beschert. Aber das war vorbei. Sogar die angenehmen Gerüche von neuem Leder, Bienenwachs und Geschirröl hatten in seiner Nase einen säuerlichen Beigeschmack bekommen.

Es war kalt im Laden; er hatte sich nicht die Mühe gemacht, ein Feuer zu machen, als er im Morgengrauen hergekommen war — wieder einmal nach einer schlaflosen Nacht. Aber er nahm die Kälte kaum wahr. Ihm war schon seit einer ganzen Weile kalt, die Art von Kälte, die einem in die Knochen kriecht und die kein Feuer jemals vertreiben kann.

Seine Hände, die er in seinem Schoß verschränkt hielt, waren schweißnass.

Er warf einen Blick auf die geschlossene Tür zum Lagerraum. Ein Kalender einer Saatgutfirma war daran befestigt — nicht, dass er einen Kalender gebraucht hätte, um zu wissen, welcher Tag heute war. Der 26. Oktober 1892. Der Tag nach dem Tag, für den die Entlassung von Lee Tarbeaux aus dem Gefängnis in Deer Lodge angesetzt war. Der Tag, an dem Tarbeaux nach acht langen Jahren nach Boxelder zurückkehren würde.

Der Tag, an dem Tarbeaux — so hatte er geschworen — dem Leben von Reed Cable ein Ende setzen würde.

Sein Blick blieb noch ein paar Sekunden länger an der Tür zum Lagerraum hängen. Die Schrotflinte befand sich dort hinten — die alte doppelläufige Remington seines Vaters, die er gestern von zuhause mitgebracht hatte — in einer Ecke an die Wand gelehnt und wartete, so wie er wartete. Er überlegte, sie zu holen und neben seinen Hocker zu stellen. Aber das war noch nicht nötig. Es war noch früh.

Er rieb seine feuchten Handflächen auf seiner Jeanshose und kramte dann in einer Westentasche nach seiner Taschenuhr. Er ließ den Sprungdeckel aufklappen und hielt das Zifferblatt dicht vor seine Augen. Zehn nach sieben.

Wie lange noch, bis Tarbeaux kam?

Frühestens am Mittag; es waren viele Meilen von Deer Lodge bis hierher. Wenn er arbeiten könnte, würde die Zeit schneller vergehen… aber er konnte nicht. Seine Hände waren für die Arbeit mit Leder nicht ruhig genug. Es würde schon schwierig werden, sie ruhig genug zu halten, um die Schrotflinte in Anschlag zu bringen, wenn es soweit war.

Noch ein paar Stunden, sagte er sich. Nur noch ein paar Stunden. Dann ist es endlich vorbei.

Er saß da und beobachtete die Straße, auf die der Regen fiel. Und wartete.


***


Es war Viertel nach zwölf, als Lee Tarbeaux den Stadtrand von Boxelder erreichte. Die Stadt war in der Zeit seiner Abwesenheit erheblich gewachsen — sogar stärker, als er erwartet hatte. Es gab auch mehr Farmen und kleine Ranches in der Gegend — Parzellen, die an Heimstättensiedler vergeben worden waren, wo früher nur das hügelige Grasland von Montana gewesen war. Alles ändert sich, früher oder später, dachte er, während er ritt. Das Land, die Städte und auch die Menschen. Manche Menschen.

Er kam an den Rinderpferchen in der Nähe des Eisenbahndepots vorbei, wo jetzt im Nieselregen nichts los war.

Er hatte viele Tage dort verbracht, als er für den alten Kendall gearbeitet hatte — und ganz besonders einen Tag, den er nie vergessen würde, denn jener Tag war der Anfang vom Ende seiner Freiheit für acht lange Jahre gewesen. Kendall war inzwischen tot; ’89 im Schlaf gestorben. 

Tarbeaux hatte es bedauert, als er es erfuhr, Wochen, nachdem es passiert war, als die Nachricht im Gefängnis die Runde machte. Er hatte weder dem alten Rindermann noch seinem Sohn Bob etwas nachgetragen. Die Kendalls waren nicht anders als die übrigen Leute hier; sie hatten Cables Lügen geglaubt und daran, dass in Tarbeauxs jugendlichem Ungestüm ein Hang zum Diebstahl steckte. Man konnte es ihnen nicht vorwerfen, dass sie sich hintergangen fühlten. Nur ein Mann war schuld, und das war Reed Cable.

Tarbeaux ritt langsam und genoss die kühle Oktoberluft mit ihren Vorboten auf den Schnee des Winters. Das Wetter machte ihm nichts aus, und es schien auch dem spatkranken Rotschimmel, den er einem Stallknecht in der Stadt Deer Lodge billig abgekauft hatte, nichts auszumachen — was angesichts des Alters und des Zustands des Tieres etwas überraschend war. Das zeigte nur, dass man sich nie ganz sicher sein konnte, weder bei Menschen noch bei Dingen, weder im Guten noch im Schlechten. Außer bei Reed Cable. Tarbeaux war sich sicher, dass Cable derselbe Mann war wie vor acht Jahren. Bruchstücke von Informationen, die durch die Gefängnismauern gedrungen waren, bestärkten ihn in seiner Gewissheit. 

Einige der Gebäude, die die Montana Street flankierten, waren ihm vertraut: Das Boxelder-Hotel, das ausgedehnte Areal der Steinmetz-Brauerei. Viele andere hingegen nicht. Es gab ihm ein seltsames, unbehagliches Gefühl, diese Stadt zu kennen und sie doch nicht zu kennen — zuhause zu sein und doch zu erkennen, dass es nie wieder sein Zuhause werden konnte. Er würde nicht lange bleiben. Nicht einmal über Nacht. Und sobald er wieder gegangen war, würde er nie wieder zurückkommen. Boxelder, ebenso wie Deer Lodge und all die närrischen Pläne aus seiner Kindheit, gehörte einer Vergangenheit an, die er vollständig begraben musste, wenn er überhaupt irgendeine Art von Zukunft haben wollte.

Ein an Ketten aufgehängtes Schild, das im Wind tanzte, tauchte vor ihm im grauen Nebel auf: R.J. CABLE, SATTELMACHER. Das Flachglasfenster unter dem Schild zeigte ein Rechteck aus Lampenlicht, obwohl in einer Ecke auf einem Schild „Geschlossen“ stand. Tarbeaux würdigte das Fenster kaum eines Blickes, als er vorbeiritt, und gab sich erst recht keine Mühe, durch das wasserfleckige Glas zu blicken. Es blieb ihm noch viel Zeit. Geduld war nur eines der Dinge, die ihn sein Gefängnisaufenthalt gelehrt hatten. Außerdem hatte er Hunger. Seit seinem kargen Frühstück unterwegs waren Stunden vergangen.

Er band den Rotschimmel an einen Haltebalken vor einem Restaurant namens Elite Cafe. Es war einer der neuen Lokale; niemand dort kannte oder erkannte ihn. Er bestellte heißen Kaffee und eine Schüssel Chili. Und während er aß, dachte er über die Dinge nach, die einen Menschen antreiben, die ihn zum Guten oder zum Schlechten prägen und verändern. Gier war eines davon; Hass ein anderes. Er kannte sich mit Hass aus; er hatte lange Zeit damit gelebt. Aber von den Dingen, die einen Mann innerlich zerfraßen, war er nicht das Schlimmste.

Das Schlimmste war Angst.


***


Als Cable die einsame, in einen Regenmantel gehüllte Gestalt draußen vorbeireiten sah, wusste er, dass es Lee Tarbeaux war. Auch ohne einen klaren Blick auf das Gesicht des Mannes, das durch einen geneigten Regenhut abgeschirmt war, wusste er es. Er spürte eine große Erleichterung. Es würde nicht mehr lange dauern.

Er streckte eine Hand nach der Schrotflinte aus, die neben seinen Hocker lehnte. Er hatte sie vor zwei Stunden aus dem Lagerraum geholt und griffbereit platziert.

Das Gefühl von Übelkeit in ihm wuchs und breitete sich aus, als er die Waffe quer auf seine Knie legte. Wegen seiner feuchten Handflächen fühlte sich das Metall schmierig an. Trotzdem nahm er seine Hände nicht weg von ihr.

Seine Gedanken schweiften ab, während er dort saß, und gingen, wie so oft in diesen Tagen,  wieder zurück zum Frühjahr ’84. Zwanzig Jahre alt waren sie beide in jenem Frühling, er und Lee Tarbeaux. Sie kannten sich gut, weil sie als Kinder zusammen in der Stadt aufgewachsen waren, aber sie waren nicht eng miteinander befreundet. Zu wenig Gemeinsamkeiten. Tarbeaux mit zu viel Temperament, er mit zu wenig. Lee voller Unternehmungslust, und er zu schüchtern, um mitzumachen.

Als Tarbeaux achtzehn wurde, fing er auf der K-Bar Ranch des alten Kendall an zu arbeiten. Er hatte schon immer eine draufgängerische Ader gehabt, und die hatte sich in den folgenden zwei Jahren dank einer ähnlichen Veranlagung bei Old Man Kendalls Sohn Bob noch verstärkt. Saufen, Huren, ein paar Saloonschlägereien. Keine ernsthaften Konflikte mit dem Gesetz, aber genug Ärger, um die Vertreter des Gesetzes auf Lee Tarbeaux aufmerksam zu machen.

Zur gleichen Zeit keinerlei Anzeichen von Wildheit bei Reed Cable. Ruhig und zuverlässig — das sagte jedermann über ihn. Ruhig, zuverlässig und ehrlich. Er nahm eine Stelle als Nachtportier im Boxelder-Hotel an. Nicht, weil er es auf diesen Job abgesehen hatte; Sattlerei und Lederarbeiten waren das, wonach er sich für sein Leben sehnte. Aber es gab bereits zwei Sattelmacher in der Stadt, und beide waren nicht daran interessiert, einen Lehrling einzustellen. Er wäre in eine andere Stadt gezogen, aber seine Mutter, die seit dem Tod seines Vaters für ihren Lebensunterhalt gesorgt hatte, war krank geworden und konnte nicht mehr als Näherin arbeiten. Woraufhin er die ganze Last tragen musste. Und der einzige anständige Job, den er finden konnte, war der des Nachtportiers.

Seine Mutter war im März jenes Jahres gestorben. Einen Monat, nachdem Tarbeauxs Tante — seine letzte Verwandte — verstorben war. Und an einem Tag Ende April, nach dem Roundup, trieben Bob Kendall, Lee Tarbeaux und der Rest der K-Bar-Mannschaft ihre Rinder in die Verladepferche der Eisenbahn. Der alte Kendall war nicht dabei; er litt an Gicht und lag im Bett. Bob Kendall hatte die Verantwortung, aber er war sowohl ein Dickschädel wie auch zur Hälfte ungezähmt: Alkohol, Frauen und Pokerspielen waren alles, was ihm wichtig war. Tarbeaux begleitete ihn, als der Viehaufkäufer aus Billings seine Berechnung abgeschlossen und den Kaufpreis in bar bezahlt hatte. Siebentausendvierhundert Dollar, alles in Scheinen.

Als der Handel abgewickelt war, hatte die Bank bereits geschlossen. Bob Kendall hatte keine Lust gehabt, den Bankier Weems zu suchen, damit dieser das Geld hätte in Empfang nehmen können. Er wollte sich lieber gleich ins nächtliche Vergnügen stürzen, also überließ er Lee die lästige Aufgabe. Tarbeaux unternahm einen halbherzigen Versuch, den Bankier ausfindig zu machen, und dann gewann sein eigenes Verlangen nach Spaß die Oberhand. Er ging zum Hotel, wo sein alter Freund Reed gerade seine Schicht angetreten hatte und wo die Lobby ansonsten menschenleer war, und legte die Satteltaschen voller Geld auf den Tresen. 

„Reed“, sagte er ohne weitere Erklärung, „tu’ mir einen Gefallen und leg’ diese Taschen für über Nacht in den Hotelsafe. Ich oder Bob Kendall werden sie gleich morgen früh abholen.“

Aus Neugier öffnete Reed die Taschen, nachdem Tarbeaux gegangen war. Der Anblick von all dem Bargeld ließ seine Knie weich und seinen Mund trocken werden. Er verstaute die Satteltaschen im Safe, aber er konnte nicht aufhören, an das Geld zu denken. So viele Dinge, die er damit machen könnte, so viele Wünsche, die er wahr werden lassen könnte. Zum ersten Mal entwickelte sich in ihm eine Kühnheit und eine Risikobereitschaft. Mit jeder Stunde, die verging, wurde das Geld mehr und mehr von einer Verlockung zu einer alles verzehrenden Besessenheit. Vielleicht hätte er sie verdrängen können, wenn seine Mutter noch am Leben gewesen wäre, aber er war ganz allein — ohne Zukunftsperspektiven und ohne jemanden, dem er Rechenschaft schuldig war, außer sich selbst.

Eine Stunde nach Mitternacht holte er die Satteltaschen aus dem Safe. Er brachte sie hinter die Stallungen des Hotels und versteckte sie in einem Gebüsch. Anschließend konnte er sich kaum daran erinnern; es war, als hätte sich alles in einem Traum ereignet.

Bob Kendall kam am nächsten Morgen um acht Uhr alleine herein, verkatert und schlecht gelaunt, gerade als der Tagesportier eintraf, der daher alles bezeugen konnte. Innerlich tobte ein Sturm in Reed Cable, aber nach außen hin war er die Ruhe selbst. Satteltaschen? Er wusste nichts von Satteltaschen voller Geld. Tarbeaux war am vorigen Abend nicht dagewesen, egal, was er behauptete. Er hatte Lee seit über zwei Wochen nicht mehr gesehen.

Zornbebend lief Bob Kendall direkt zum Sheriff, und der Sheriff verhaftete Tarbeaux. Der schwierigste Teil des Ganzen war, Lee gegenüberzutreten, die Lügen zu wiederholen und zuzusehen, wie sich die empörte Ungläubigkeit in Tarbeauxs Augen in blinden Hass verwandelte.

Aber das Geld war alles, woran er denken konnte. Das Geld, das Geld, das Geld…

Sein Wort stand gegen das von Tarbeaux, sein Ruf gegen den von Tarbeaux. Der Sheriff glaubte ihm, die Kendalls glaubten ihm, die Bewohner der Stadt glaubten ihm — und der Richter und die Geschworenen glaubten ihm. Das Urteil lautete auf „Schuldig“, die Strafe auf mindestens acht Jahre Zwangsarbeit.

Tarbeaux hatte Rache geschworen, als er aus dem Gerichtssaal geführt wurde. „Damit kommst du nicht durch, Reed!“ schrie er. „Du wirst dafür bezahlen und zwar teuer. Sobald ich ’rauskomme, komme ich zurück und sorge dafür, dass du bezahlst!“

Die Drohung hatte Cable damals erschüttert. Aber weder sie noch sein Gewissen hatten ihn lange geplagt. Tarbeauxs Entlassung aus Deer Lodge lag noch in ferner Zukunft; warum sich darüber Sorgen machen? Er hatte das Geld, er hatte seine Pläne — und als einer der beiden Sattelmacher der Stadt plötzlich an einem Schlaganfall starb, verwirklichte er bald das erste seiner Ziele.


***


Cable setzte sich auf dem harten Hocker anders hin. Das war damals und jetzt ist jetzt, dachte er bitter. Die ferne Zukunft war zur Gegenwart geworden. Schmerzen durchfuhren seinen Bauch und seine Brust; ein trockener Husten quälte ihn. Er wischte sich Schweiß aus den Augen und spähte wieder durch das Vorderfenster. Ein paar Fußgänger eilten auf dem Bürgersteig auf der Westseite vorbei; keiner von ihnen war Lee Tarbeaux.

„Komm’ schon“, sagte er laut. „Komm’ schon, verdammt noch ’mal, und bring’s hinter dich!“


***


Tarbeaux beendete sein Essen, holte seine Rauchutensilien hervor und drehte sich eine Zigarette, um sie bei einer letzten Tasse Kaffee zu genießen. Essen, Kaffee, Tabak — alles schmeckte wieder gut, jetzt, wo er frei war. Durch die ersten zwanzig Jahre seines Lebens war er im Eiltempo gerannt, hatte alles für selbstverständlich gehalten. Und durch die letzten acht hatte er sich gekämpft und gequält und nichts für selbstverständlich gehalten. Er hatte sich geschworen, dass er nach seiner Entlassung die ihm verbleibenden Jahre so langsam wie möglich verstreichen lassen würde, dass er sich die Zeit nehmen würde, um zu schauen, zu fühlen und zu lernen, und dass er jede Minute eines jeden neuen Tages wertschätzen würde.

Er bezahlte die Rechnung, ging über die Straße zu Adams Mercantile — einem weiteren neuen Geschäft, das von einem Fremden geführt wurde — und füllte seine Vorräte an Lebensmitteln und Tabak auf. Damit blieben ihm von seinen Ersparnissen aus dem Gefängnis nur noch drei Dollar übrig. Er musste sich bald irgendwo eine Bleibe suchen, zumindest für so lange, bis er einen Job erhielt und sich etwas aufbauen konnte. Danach… keine Eile, wo auch immer er hinging und was auch immer er tat. Überhaupt keine Eile.

Doch das Wichtigste zuerst. Es war an der Zeit, Reed Cable gegenüberzutreten.

Er empfand nichts, als er die Straße entlangging bis zu der Stelle, wo das an Ketten hängende Schild klapperte und tanzte. Er hatte sich schon vor langer Zeit in Gedanken darauf vorbereitet. Es fehlte nur noch der Schlussstrich.

Hinter dem Fenster der Sattlerei brannte immer noch das Licht einer Lampe. Ohne durch das Glas zu schauen, ohne zu zögern, öffnete Tarbeaux die Tür und trat unter dem Klingeln eines Glöckchens ein.

Cable saß auf einem Hocker an der rückwärtigen Wand, mit einer alten doppelläufigen Schrotflinte auf den Knien. Er rührte sich nicht, als Tarbeaux die Tür hinter sich schloss. Im fahlen Schein der Lampe wirkte Cable klein und geschrumpft. Seine schweißbefleckte Haut war fahl und eingefallen, und seine Hände zitterten. Er war in den letzten acht Jahren um zwanzig Jahre gealtert — vor seinem dreißigsten Geburtstag bereits ein alter Mann.

Die Schrotflinte überraschte Tarbeaux ein wenig. Er hatte nicht damit gerechnet, dass in Cable eine Bereitschaft steckte, es auf einen Kampf ankommen zu lassen. Er sagte, während er seinen Regenhut abnahm: „Du hast mich erwartet, wie ich sehe.“

„Ich wusste, dass du kommen würdest. Du hast dich nicht sehr verändert, Lee.“

„Doch, habe ich. Innerlich. Bei dir ist es genau umgekehrt.“

„Ach ja?“

„Ich weiß es. Willst du mich mit der Schrotflinte da erschießen?“

„Wenn du irgendwas versuchst, werde ich’s tun.“

„Ich bin nicht bewaffnet.“

„Und das soll ich dir glauben?“

Tarbeaux zuckte mit den Achseln und blickte sich langsam in dem Raum voller Schatten um. „Ziemlich gute Lederarbeit“, sagte er. „Du scheinst wirklich wie geschaffen zu sein für den Beruf des Sattelmachers, wie du immer behauptet hast.“

„Der Mensch muss ’was tun.“

„Das stimmt. Allerdings sollte er es mit ehrlich verdientem Geld tun.“

„Ist wohl so“, sagte Cable.

„Gibst du zu, dass du das K-Bar-Geld gestohlen hast, Reed? Keine Lügen mehr?“

„Bringt nichts, dich anzulügen.“

„Und den Sheriff und Bob Kendall? Bist du bereit, denen auch die Wahrheit zu sagen — dir alles von der Seele zu reden?“

Cable schüttelte den Kopf. „Dafür ist es zu spät.“

„Warum?“

„Ich könnte das Gefängnis nicht ertragen, deshalb. Ich würde es nicht aushalten.“

„Ich habe es acht Jahre lang ausgehalten“, sagte Tarbeaux. „Ist gar nicht so schlimm, wenn man sich erstmal dran gewöhnt hat.“

„Nein. Ich könnte es nicht, nicht einmal ein Jahr lang.“

„Ein Mensch kann auch dann im Gefängnis sitzen, wenn keine Gitterstäbe vor seinen Fenstern sind.“

Cable gab keine Antwort.

„Was ich meine, ist, es waren auch für dich acht harte Jahre. Härter, da bin ich mir sicher, als die, die ich durchlebt habe. Ist es nicht so?“

Immer noch keine Antwort.

„Es ist so“, sagte Tarbeaux. „Du hast dir diesen Laden zugelegt, und du bist zu einem Sattelmacher geworden. Aber von da an ging alles bergab. Angefangen mit Clara Weems. Du hast immer davon gesprochen, sie eines Tages zu heiraten, drei oder vier Kinder zu haben — dein anderes großes Ziel. Aber sie hat dich abgewiesen, als du um ihre Hand angehalten hast.  Hat stattdessen diesen Ladenbesitzer in Billings geheiratet.“

Bei diesen Worten zuckten Cables Hände an der Schrotflinte. „Woher weißt du das?“

„Ich weiß eine Menge über dich, Reed. Du hast zwei anderen Frauen einen Heiratsantrag gemacht; die wollten dich auch nicht. Dann hast du viertausend Dollar mit wertlos gewordenen Bergbauaktien verloren. Dann hat eines deiner Pferde eine Laterne umgestoßen und deine Scheune und dein halbes Haus niedergebrannt. Dann hast du dir eine Lungenentzündung zugezogen und warst im Winter ’90/’91 sechs Monate lang außer Gefecht —“

„Das reicht“, sagte Cable, aber seine Stimme klang nicht aufgebracht. Nur eine Art verzweifelte Müdigkeit lag darin.

„Nein, das reicht nicht. Seitdem geht es dir gesundheitlich schlecht, es wird immer schlechter, und die Quacksalber können nicht viel gegen die Schwindsucht tun. Wie viel Zeit geben sie dir noch — vier Jahre? Fünf?“

„Wer auch immer dir das gesagt hat, hat sie nicht mehr alle. Mir geht’s gut. Ich habe noch ein langes Leben vor mir.“

„Vier Jahre — höchstens fünf. Ich bin derjenige, der ein langes Leben vor sich hat. Und ich habe vor, es zu einem guten Leben zu machen. Weißt du noch, dass ich kaum lesen und schreiben konnte? Tja, ich hab’s im Gefängnis gelernt, und jetzt kann ich beides besser als die meisten anderen. Ich habe auch einen Beruf gelernt. Hufschmied. Eines Tages werde ich mein eigenes Geschäft haben, so wie du, mit meinem Namen auf einem Schild vor der Tür, das größer ist als deins.“

„Aber als Erstes musstet du hierherkommen und mit mir reinen Tisch machen.“

„Stimmt. Als Erstes muss ich mit dir reinen Tisch machen.“

„Mich umbringen, wie du es vor Gericht geschworen hast. Mich erschießen.“

„Das habe ich nie geschworen.“

„So gut wie.“

„Glaubst du, dass ich dich immer noch so sehr hasse?“

„Etwa nicht?“

„Nein“, sagte Tarbeaux. „Nicht mehr.“

„Das glaube ich dir nicht. Du lügst.“

„Du bist der, der lügt, Reed, nicht ich.“

„Du willst mich tot sehen. Gib’s zu — du willst mich tot sehen.“

„In vier oder fünf Jahren bist du tot.“

„So lange kannst nicht darauf warten. Du willst mich hier und jetzt tot sehen.“

„Nein. Ich wollte nur sicher sein, dass du für das bezahlst, was du mir angetan hast. Und ich sehe, dass du dafür bezahlst und zwar teuer. Ich bin nur hergekommen, um dir ins Gesicht zu sagen, dass ich das weiß. Das ist der einzige Grund, warum ich gekommen bin, der einzige Schlussstrich, um den es mir geht.“

„Du Mistkerl, du kannst mich nicht hinters Licht führen. Zieh’ deine Knarre und bring’s hinter dich.“

„Ich habe dir doch gesagt, dass ich nicht bewaffnet bin.“

Mit einem Ruck riss Cable die Schrotflinte von seinen Knien, eine Bewegung, die als Provokation gedacht war. Aber auf halber Strecke zwischen ihnen stockten die Läufe und wanderten nicht weiter nach oben. „Jetzt mach’ schon!“

Da verstand Tarbeaux. In Cable steckte kein Kampfgeist; hatte nie in ihm gesteckt. In ihm war nur Angst. Tarbeaux sagte: „Du versuchst, mich dazu zu bringen, dich umzubringen. Das ist es doch, oder? Du willst, dass ich dich aus deinem Elend erlöse.“

Es war, als hätte er Cable eine Ohrfeige verpasst. Cables Kopf zuckte; taumelnd kam er auf die Beine und schwenkte die Remington, bis ihre beiden Mündungen wie Augen auf Tarbeauxs Gesicht gerichtet waren.

Tarbeaux stand regungslos da. „Du kannst den Gedanken nicht ertragen, noch weitere fünf Jahre krank und mit Schmerzen zu leben, aber du hast nicht den Mumm, dich selbst umzubringen. Du hast gedacht, du könntest mich dazu bringen, es für dich zu tun.“

„Nein. Mach’ jetzt ’was oder ich blase dir deinen verdammten Schädel weg!“

„Nicht mit der Schrotflinte da. Die ist nicht geladen, Reed. Das wissen wir jetzt beide.“

Cable versuchte ein Wettstarren mit Tarbeaux. Er hielt nur ein paar Sekunden durch; sein Blick glitt hinunter zu der nutzlosen Schrotflinte. Dann, als überforderte das Gewicht der Waffe seine zitternden Hände, ließ er sie auf den Boden fallen. Er versetzte ihr einen Fußtritt, der sie scheppernd unter eine der Werkbänke beförderte. 

„Warum?“ flüsterte er mit dünner, tonloser Stimme. „Warum konntest du nicht das tun, was du geschworen hast zu tun? Warum konntest du es nicht zu Ende bringen?“

„Es ist zu Ende“, sagte Tarbeaux.

Und das war es tatsächlich, in jeder Hinsicht. Jetzt war er wirklich frei — frei von Cable und frei von dem letzten Rest seines Hasses, frei von der Vergangenheit. Jetzt konnte er anfangen, wieder zu leben.

Er drehte sich um und ging hinaus in den kalten, erfrischenden Regen.


***


Cable ließ sich wieder auf seinen Hocker fallen. Tarbeauxs letzte Worte schienen wie ein zu Eis gewordenes Echo in dem tristen Raum zu hängen. Es ist zu Ende.

Für Tarbeaux vielleicht schon. Aber nicht für Reed Cable. Für ihn würde es noch lange, lange nicht zu Ende sein.

„Du sollst verdammt sein“, sagte er. Und dann schrie er die Worte. „Du sollst verdammt sein!“

Aber diesmal waren sie nicht für Lee Tarbeaux bestimmt. Sie waren für ihn selbst bestimmt.

Er blieb mit dem Rücken zur Wand dort sitzen.

Und wartete.



© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.