Izzy Cuthberts Trauma
von Sharon Frame Gay
(Orig. „The Corn Crib“, 2018; Übers.: Reinhard Windeler)
Die Autorin, die wir schon in der Einleitung zu ihrer Kurzgeschichte „Bis zum Hals“ vorgestellt haben, nimmt hier den Blickwinkel von Izzy Cuthbert ein, um deren traumatische Erlebnisse zwischen Hoffen und Bangen zu schildern, als das friedliche Leben des vierzehnjährigen Mädchens im Nebraska-Territorium des Jahres 1864 eine schreckliche Wendung nimmt.Die düstere Geschichte von Misstrauen, Wut und Gewalt wurde in Online-Magazinen erstmals veröffentlicht, nämlich im März 2018 in „Fiction on the Web“ und im November desselben Jahres in „Frontier Tales“, später dann auch noch in „Rope and Wire“.In Buchform erschien sie 2023 in der Sammlung „The Wrong End of a Bullet“.
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An dem Tag, an dem die Sioux über unsere Farm herfielen, war ich mit meiner Mutter im Schweinestall und warf den Schweinen die Reste vom Abendessen des Vortags zu. Mama packte mich am Arm und zog mich zu dem kleinen Maisspeicher in der Ecke des Stalls. Sie schob mich hinein und bedeckte meinen Körper mit Maiskolben.
„Da kommen Indianer. Rühr’ dich nicht vom Fleck, Izzy. Bleib’ still liegen und komm’ nicht ’raus, egal, was du hörst, bis ich oder Papa deinen Namen rufen.“
Bevor ich wusste, was geschah, machte sie die Klappe zu und rannte weg. Ihr Rock raschelte an ihren Beinen wie die Maisblätter auf dem Feld hinter uns. Durch einen kleinen Spalt in den Latten sah ich, wie ihre Stiefel auf die Scheune zuflogen.
Sie rief nach meinem Vater und meinem älteren Bruder. „Jake! Isaac!“
Unsere Pferde rannten im Corral wild umher, wirbelten Staub auf und galoppierten im Kreis. Sie wieherten den Indianerponys zu, die auf die Farm zudonnerten.
Sofort waren Schüsse zu hören. Am Knall konnte ich erkennen, dass es Papas Gewehr war, und gleich danach der blecherne Klang von Isaacs altem Repetiergewehr. Es folgte ein Orkan von Schüssen. Dann plötzlich und endgültig – Stille. Ich nahm an, dass Papa und Isaac bereits tot waren, denn sie würden niemals so schnell aufgeben.
Dann kamen von überall Geräusche – die Sioux sprachen miteinander, Pferde schnaubten und stampften. Das Geräusch von Füßen, die von einem Gebäude zum nächsten marschierten. Das plötzliche Geheul, als sie Mama fanden, die sich in der Scheune versteckt hatte.
Ich kauerte mich tiefer in den Mais. Die Schweine gerieten in Panik und drängten gegen den kleinen Verschlag, als sie versuchten wegzulaufen. Unten an meinem Bein spürte ich eine Bewegung, als eine Schlange über mein Knie glitt, sich zwischen den Maiskolben hindurchschlängelte und ihren Kopf in einen Strahl von Sonnenlicht reckte.
Ich weiß nicht, wie viele Indianer es waren. Dem Lärm nach zu urteilen, den sie machten, stellten sie das Haus auf den Kopf und durchwühlten sie die Scheune auf der Suche nach Alkohol, Lebensmitteln und allem, was sie sonst noch finden mochten. Vor Kurzem hatte es einen Aufstand der Sioux gegeben. Renegaten griffen hier in Nebraska Bauernhöfe und Ranches an, außerdem Leute, die nach Oregon unterwegs waren. Ich hoffte, dass sie sich das nehmen würden, was sie brauchten, und Mama und mich dann in Ruhe lassen würden.
Die Schweine quiekten und schnaubten, und sie drängten sich wieder gegen den Verschlag. Jemand außer ihnen befand sich hier im Stall. Ich machte meine Augen fest zu und biss mir auf die Lippe, um nicht zu weinen. Ich blieb so ruhig, wie ich konnte. Zählte die Sekunden und betete, dass er weggehen würde.
Ein Schwein kreischte gequält. Ich hörte, wie ein Messer in Fleisch schnitt, der kupferartige Geruch von Blut stieg in die Luft, bis mir vor Angst schwindelig wurde. Mir kamen die Tränen, und sie tropften mir vom Kinn.
Dann öffnete sich die Klappe des Verschlags, kühle Luft strömte herein. Eine Hand packte mein Bein. Fingernägel kratzten an mir, als die Maiskolben nach draußen gefegt wurden. Ich sah ihm direkt ins Gesicht, das letzte Licht des Tages drang durch eine weiße Feder, die in sein schwarzes Haar geflochten war, und ich öffnete meinen Mund, um zu schreien. Er legte seine Hand auf meine Lippen und schüttelte den Kopf.
Er schob mich ziemlich grob zurück, und ich zuckte zusammen. Dann bedeckte er mich wieder mit Maiskolben, verriegelte die Klappe und ging weg.
***
Später an diesem Abend, nachdem die Sonne untergegangen war, hörte ich Mama schreien. Ihr Schreien hörte und hörte nicht auf, bis ich am Liebsten meine Ohren zugehalten hätte, aus dem Maisspeicher gesprungen und so weit wie möglich weggelaufen wäre, aber ich wagte nicht, mich zu bewegen. Die Schlange war hier irgendwo in meiner Nähe, und ich hoffte, dass es keine Klapperschlange war. Ich wollte es nicht herausfinden, also verhielt ich mich so ruhig wie möglich. Der Indianer hatte die Klappe von außen verriegelt, sodass ich gefangen war. Was, wenn er mich hier im Maisspeicher zurückließ und einfach davonritt? Niemand würde mich jemals finden.
Meine Mutter schrie nicht mehr. Ich betete, dass sie ohnmächtig geworden war, aber ich befürchtete das Schlimmste.
Ich war vierzehn, fast eine Frau, und alt genug, um zu begreifen, was die Sioux Mama wahrscheinlich angetan hatten. Ich wusste, dass sie wahrscheinlich dasselbe mit mir machen würden. Der Indianer, der mich entdeckt hatte, wollte mich vielleicht für sich selbst aufheben oder mich später zum Haus bringen, nachdem sie mit meiner armen Mutter fertig waren. Ich zwang mich, nur einmal Luft zu holen, dann noch einmal, meine Brust fühlte sich eng an, und mein Herz raste wie ein Bach voller Tauwasser im Frühling.
Die Indianer feierten ausgelassen im Haus. Ab und zu fiel ein Schuss, danach Gelächter. Die Luft war erfüllt vom Geruch gebratenen Schweinefleisches.
Im Laufe der Nacht wurden sogar die Sioux ruhig. Ich hörte nur noch das Stampfen der Pferde und das Grunzen der verängstigten Schweine. Ich überlegte, eine Planke des Verschlags einzutreten und zu versuchen, mich hinauszuzwängen und wegzurennen. Ich hatte Angst, dass jedes Geräusch, das ich machte, die Indianer wecken und die Schlange aufscheuchen würde. Vielleicht war es am Besten, bis zum Morgen zu warten. Vielleicht würden sie abziehen, wenn die Sonne aufging, und ich könnte dann entkommen.
Es war jetzt tiefe Nacht, Stunden waren vergangen, mein Körper war kalt und schmerzte. Ich glaubte, ich hätte etwas außerhalb des Maisspeichers gehört. Schritte. Die Schweine grunzten und bewegten sich im Stall. Ich lauschte angestrengt, aber mein Herz schlug so laut, dass ich nichts anderes hören konnte.
Die Klappe öffnete sich, die Maiskolben rutschten zur Seite, und ein Arm zerrte mich so schnell hoch und heraus, dass ich nicht einmal dazu kam zu schreien. Es war derselbe Indianer. Er drückte mir wieder seine Hand auf den Mund und schleppte mich aus dem Schweinestall hinüber zur Rückseite der Scheune. Er legte einen Finger auf seine Lippen und schüttelte den Kopf, als wollte er mir sagen, dass ich still sein sollte.
Ich nickte. Mein ganzer Körper zitterte wie die armen Sünder vor dem Jüngsten Gericht.
Er warf mich vor sich auf seinen Pinto, und wir trabten davon, so langsam und leise wie auf einem Ritt zur Kirche, nur dass seine Muskeln sich anfühlten, als wären sie wie das Fell einer Kriegstrommel gespannt, und das Pferd am ganzen Leib bebte. Ich sah mich um, konnte aber nicht sehen, dass einer der anderen Sioux uns begleitete.
Sobald wir die Anhöhe hinter uns gelassen hatten, trieb er das Pony zu einer schnelleren Gangart an, und wir durchquerten die Prärie in großen Sätzen, mit dem Schlagen der Hufe als den einzigen Geräuschen unter dem nächtlichen Himmel. Ich beugte mich nach vorne, aus Angst, ihn zu berühren, und klammerte mich an die Mähne des Ponys. Der Dreiviertelmond am Himmel sorgte gerade für genug Licht, um Bäume und Felsvorsprünge erkennen zu können. Meine Schultern taten mir weh, als ich auf dem unebenen Boden auf und nieder geworfen wurde. Der Kopf des Pinto wippte auf und ab, und der Arm des Indianers lag um meine Taille.
Er verlangsamte das Tempo, als sich am Himmel die Morgenröte zeigte, und bog dann in einen Wald ein, der an die Ausläufer der Hügel grenzte. Das Pony suchte sich seinen Weg über Gestrüpp und Wurzeln. Zwischen den Bäumen war es totenstill. Ein paar Vögel riefen einander zu, dass Fremde in der Nähe wären, und verstummten, als wir vorbeihuschten. Mir kam es vor wie ein Traum, und ich betete, dass die Sonne mich wecken und ich wieder mit meiner Familie auf der Farm sein würde.
Der Indianer hielt auf einer kleinen Lichtung an und sprang vom Pony. Er zerrte mich herunter und setzte mich unsanft auf den Boden. Er schlang ein Seil um mein Handgelenk und band das andere Ende an den Gürtel um seine Taille.
Dabei konnte ich ihn mir genau ansehen. Er hatte eine breite Narbe, die von der Stirn bis zum Kinn verlief und so tief war, dass sie ihm einen Mundwinkel nach unten zog und ein wenig Speichel heraustropfte. Er wischte mit einer Hand darüber und warf mir einen wütenden Blick zu. Sein Hirschlederhemd war über und über mit Blut bespritzt. Ich fragte mich, vom wem es stammte, und betete, dass es das Schwein und nicht Mama war. Um seinen Hals hing eine kleine Holzfigur an einem Stück Rohleder. Es sah aus wie ein Kinderspielzeug. Am Gürtel trug er ein Messer in einer Scheide und auf dem Rücken an einem Wildlederriemen ein Steinschlossgewehr. Auf beiden Wangen prangten zwei rote Streifen Kriegsbemalung. Sie sickerten wie Blut in die Narbe. Die weiße Feder, die in sein Haar geflochten war, zitterte, wenn er sich bewegte, als wäre sie lebendig.
Mit schmutzigen Fingernägeln nahm er ein kleines Stück Trockenfleisch aus einem Beutel und warf mir etwas davon zu. Es landete auf dem Erdboden. Ich wischte es ab und steckte es mir in den Mund. Es schmeckte scheußlich. Ich konnte es nicht hinunterschlucken, hatte aber Angst, es auszuspucken, weil ich befürchtete, er könnte mir wegen meiner Unhöflichkeit die Kehle durchschneiden. Daher behielt ich es eine Zeitlang wie ein Eichhörnchen in meiner Wange. Als er sich abwandte, spuckte ich es in meine Hand und ließ es unter einem Blatt verschwinden. Er drehte sich zu mir um, zeigte auf sein Pony und riss an dem Seil um mein Handgelenk.
„Wieso? Wo gehen wir hin?“ fragte ich.
Er machte ein finsteres Gesicht, zerrte mich an einem Arm hoch, warf mich wieder auf das Pony und sprang dann hinter mir auf.
Den ganzen Tag ließen wir uns langsam und gemächlich durch die Bäume treiben. Ich nahm an, dass wir uns vor etwas oder vor jemandem versteckten und in diesen Wäldern auf den Einbruch der Dunkelheit warteten. Ich fragte mich, wo die anderen waren und ob wir sie irgendwo treffen würden. Vereinzelte Sonnenstrahlen drangen durch die Kiefern, und die Mähne des Pintos glänzte, wenn das Licht darauf fiel. Ich spürte die Wärme der Beine des Indianers zu beiden Seiten von mir. Sein übelriechender Atem strich über meinen Nacken. Mein Magen knurrte vor Hunger, obwohl mir vor Angst schlecht war. Ich hatte Kopfschmerzen, und die Hitze, die das Pony verströmte, brachte meine Schenkel zum Schwitzen.
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"The Indian Captive" |
***
Stundenlang hatte ich nachgedacht. Über alles nachgedacht. Jeder Schritt, den wir von der Farm weg machten, war ein Schritt weg von meiner Familie. Schließlich nahm ich all meinen Mut zusammen, denn ich musste die Wahrheit wissen. Selbst wenn ich auf der Stelle sterben würde. Ich holte tief Luft und wappnete mich für das, was als Nächstes passieren könnte.
„Habt ihr meine Familie umgebracht?“ fragte ich, und mein Herz schlug so heftig, dass es mir vorkam, als würde es mein Kleid durchstoßen können. Die Worte schallten so laut durch den Wald, dass sie – ich schwöre es – als Echo widerhallten. Ich wusste nicht, ob er Englisch sprach oder ob er überhaupt sprechen konnte, mit dieser großen Narbe und dem Speichel, der ihm über sein Kinn rann.
Schweigen.
Hatte er verstanden, was ich gefragt hatte? Ich nahm an, dass Schweigen so gut wie ein Eingeständnis war, falls er wusste, was ich sagte, und falls er kein Englisch sprach, würde ich nie mit Sicherheit wissen, was passiert war, während ich in dem Maisspeicher gewesen war. Ich befürchtete, dass meine Familie tot war. Oder vielleicht hatten sie irgendwie überlebt, und nur ich würde sterben.
Ich fing an zu weinen. Tränen liefen mir über das Gesicht und landeten vor mir auf seiner Hand, mit der er das Pony lenkte. Sie sammelten sich auf seiner Haut wie ein winziger Teich, aber er wischte sie nicht weg. Sie blieben einfach da, bis seine Körperwärme sie trocknete und eine silberne Spur von Kummer auf seinem Handgelenk hinterließ.
Wir hielten wieder bei einigen umgestürzten Baumstämmen an. Der Indianer sprang vom Pferd und zog mich mit hinunter. Er drehte mir den Rücken zu, pinkelte an einen Baum und gab mir dann mit Handzeichen zu verstehen, dass ich mich hinter einen Baumstamm hocken sollte. Zitternd zog ich meine Unterhose herunter und sah, dass er wegschaute, während auch ich mich erleichterte. Als ich fertig war, warf er mir ein weiteres Stück Trockenfleisch zu. Dieses Mal kaute ich es und schluckte es hinunter, obwohl es eklig schmeckte. Er führte mich zu einem Bach, und ich schöpfte mit meinen Händen Wasser und trank es gierig. Ich sah sein Spiegelbild im Wasser. Unsere Blicke trafen sich.
Ich hasste ihn. Ich wollte mir das Messer von seinem Gürtel schnappen, es ihm tief in seinen Bauch stoßen, zurück zum Maisspeicher und zu der Schlange galoppieren, mich darin verstecken und so tun, als wäre es gestern und als wäre noch nichts passiert.
Ich befühlte das Seil um mein Handgelenk. Es war fest und machte mich zu einer hilflosen Gefangenen. Als ich aufstand, reichte mein Kopf kaum bis zu seiner Brust. Er schob mich vor sich her zurück zu einer Lichtung, wo das Pony stand.
Wir saßen auf und kletterten weiter die Hügel hinauf. Hufe klirrten auf den Felsen. Der Weg wurde schmaler, Sträucher kratzten an meinen Beinen.
Der Pinto stolperte, und ich wurde gegen seine Brust zurückgeworfen. Sein Arm legte sich fester über meine Brüste und blieb dort. Angst stieg mir bis ins Herz.
„Tust du mir jetzt auch Gewalt an? Sag’s mir, damit ich zu meinem Herrgott beten und eine letzte Beichte ablegen kann.“
Wieder Schweigen. Ich grub meine Fingernägel in das Fell des Ponys. Es warf den Kopf zurück, schnaubte und machte einen Schritt zur Seite.
Der Sioux löste seinen Arm von meiner Brust, hielt mich aber weiterhin fest an sich gedrückt. Sein Hirschlederhemd rieb an meinem Rücken. Nach einer Weile kam ich zu dem Schluss, dass er, wenn er mir Gewalt antun und mich töten wollte, sein Vergnügen gleich im Schweinestall hätte haben und es dort hätte zu Ende bringen können. Daher war ich vielleicht eine Zeitlang vor ihm sicher. Vielleicht konnte ich fliehen. Ich dachte an die Farm, den Maisspeicher und meine Familie.
Ich fing wieder an zu zittern, aber dieses Mal hörte es nicht mehr auf. Die Schüttelanfälle kamen ununterbrochen, wie Gänse am Novemberhimmel, bis ich völlig erschlaffte.
Dann tat ich etwas höchst Seltsames. Etwas, das ich nie begreifen werde, egal wie lange ich lebe. Vor lauter Angst schlief ich ein, einfach so. Es war fast so, als wollte mein Verstand weglaufen, sodass sich mein Körper von ihm löste und ich zusammenbrach.
***
Als ich aufwachte, war es stockfinster und der Pinto trat aus dem dichten Wald hinaus auf ein mondbeschienenes Feld. In der Ferne heulte ein Kojote. Eine Eule schoss auf dem Weg zurück zu ihrem Schlafplatz vorbei, ein Zeichen dafür, dass es auf den Morgen zuging.
Es dämmerte bereits, als wir auf einer Anhöhe anhielten. Bäume säumten den sanften Rand der Hügel, und die Sonne tauchte die Felder allmählich in ihr Licht.
In der Ferne befand sich die kleine Siedlung Florence. Das Pony wieherte leise, als wir uns auf den Weg hinunter machten.
Wir kamen dem Dorf immer näher, bis der Indianer die Zügel anzog, mich mit einer schnellen Bewegung seines Armes um meine Taille packte und mich auf dem Boden absetzte. Ich stolperte, fiel hin, stand auf und klopfte mir den Rock ab. Ich starrte zu ihm hinauf.
Er beugte sich herunter und durchtrennte mit seinem Messer das Seil um mein Handgelenk. Dann deutete er mit seinem Kinn in Richtung Florence und schlug mit der Hand in die Luft, als wollte er, dass ich von ihm weglief. Ich stand einfach nur da, als wäre ich am Boden festgenagelt. Er sah mich mit einem stechenden Blick an, machte wieder eine Handbewegung und wischte sich etwas Speichel von seinem Kinn.
Ich nickte, machte einen Schritt, dann einen zweiten. Drehte mich um, sah noch einmal hoch zu ihm, in sein Gesicht. Wusste, dass ich es niemals vergessen würde. Dann raffte ich meinen Rock und rannte, als wäre Satan persönlich hinter mir her.
Etwas streifte mein Bein, durchschlug meinen Rock.
„Runter!“ brüllte jemand. Ich warf mich zu Boden, während ein Kugelhagel über meinen Kopf hinwegfegte.
Es war so schnell vorbei, wie es angefangen hatte. Der Geruch von Schießpulver war überall um mich herum, dann das Geräusch von Schritten.
„Alles in Ordnung, Mädchen?“
Ich öffnete meine Augen, starrte auf ein Paar Stiefel eines weißen Mannes direkt vor meinem Gesicht und nickte. Er stellte mich auf die Füße und führte mich zu einer Gruppe von Männern, die alle durcheinander redeten.
„Gottverdammter Indianer. Zum Glück haben wir ihn gesehen, wie er den Hügel ‘runtergekommen ist. Wir haben ihn sauber erwischt. Ich möchte nicht wissen, was er mit dem Mädchen hier vorhatte. Wie heißt du, Kind? Was zum Teufel ist passiert?“
Ich plapperte los und sah dabei aus wie eine dieser Stoffpuppen, deren Kopf hin und her wackelt, weil er nicht richtig angenäht ist. Ich erzählte ihnen von Papa und Isaac und Mama und von der Schlange im Maisspeicher.
Unter Tränen sagte ich immer und immer wieder „Danke“, aber das war nicht an die Männer gerichtet.
Ich redete immer weiter und verstummte dann. Alle Worte, die ich zu sagen hatte, waren über meine Lippen gekommen, und meine Kehle verschloss sich und ließ keine weiteren Worte mehr hinaus.
An diesem Tag hörte ich auf zu sprechen. Für immer.
Mittlerweile waren die Bewohner aus ihren Häusern gekommen, und sie gingen auf das Feld, um zu sehen, was passiert war. Frauen kümmerten sich um mich, richteten mein Kleid und klaubten Stückchen von Maisblättern aus meinen Haaren.
Mehrere Männer ritten mit Gewehren bewaffnet los in Richtung unserer Farm. Ich befürchtete, dass sie dort nichts außer dem Tod finden würden, und die Sioux waren wahrscheinlich ebenso verschwunden wie alle Hoffnung.
Sie befestigten ein Seil an den Füßen des Indianers und schleiften seinen Leichnam hinter einem Pferd durch die Stadt. Alle jubelten. In den Furchen auf der Straße hüpfte sein Kopf auf und ab, als würde er auf einem ungezähmten Pferd reiten. Auf und ab, auf und ab, gnadenlos, und bei jedem Aufprall klatschten die Menschen. Die weiße Feder löste sich aus seinem Haar, fiel auf die Straße und flatterte im Wind, schmutzig und eingerissen, blutverschmiert. Ich hob sie auf und steckte sie mir in die Tasche.
***
Der Pinto wartete den ganzen Tag oben auf der Anhöhe, mit gesenktem Kopf und herabhängenden Zügeln. Ich schaute immer wieder aus dem Fenster der Pension und fragte mich, ob er Wache hielt, bis die anderen Sioux kommen würden, um Rache zu nehmen und uns alle in der Stadt zu töten, einen nach dem anderen, während wir schliefen. Ich kroch unter das Bett und blieb die ganze Nacht still liegen, als läge dort eine Schlange neben mir.
Am nächsten Morgen war das Pony nicht mehr da. Ich konnte wieder frei atmen, allerdings war das Luftholen danach nie mehr wie vorher. Ich spürte jeden Atemzug, jeden Herzschlag und dachte fortwährend, dass alles aufhören würde, genau wie es bei Mama, Papa und Isaac aufgehört hatte, und ich fragte mich, wie sich das anfühlen würde.
Ich hätte dort mit ihnen allen sterben sollen. Ich weiß nicht, warum dieser Sioux mich verschonte, und ich bin immer noch nicht überzeugt, dass er das Richtige getan hat. An manchen Tagen bin ich so voller Angst und fühle ich mich so einsam, dass ich mir wünsche, ich wäre an jenem Tag auch gestorben.
Eine Woche später stieg ich, gleich nachdem die Sonne aufgegangen war, auf die Anhöhe vor der Stadt. Ich grub ein kleines Loch unter einer Pappel und begrub die weiße Feder. Vier Wildblumen legte ich darauf. Eine leichte Brise wiegte die Blütenblätter und strich mir über das Gesicht wie ein trauriger Abschiedsgruß. Hoch oben am Himmel kreiste ein Falke über dem Feld und stieß Schreie aus, als würde er jemanden nach Hause rufen, dann flog er davon.
Alles, was ich sagen könnte, liegt nicht mehr auf meiner Zunge, sondern Gott hat es in meinem Herzen eingeschlossen. Deshalb schreibe ich jetzt alles auf. Der Federkiel kratzt auf dem Papier, und das erinnert mich an die trockenen Spelzen im Maisspeicher. Die Tinte fließt heraus wie Blut und trocknet, aber sie verschwindet nicht, so sehr ich mir auch wünsche, dass sie ändern könnte, was geschehen ist.
Aufgezeichnet von Elizabeth Cuthbert, Nebraska, 1864
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© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025
Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung sowie für ihr ausdrückliches Einverständnis mit dem deutschen Titel.
Wer das Original der Geschichte lesen möchte, kann das hier https://www.fictionontheweb.co.uk/2018/03/the-corn-crib-by-sharon-frame-gay.html und da https://frontiertales.com/2018/11Nov/corn_crib.php tun.