Flannigan
von Mark L. Wood
(Orig. „Flannigan“, 1980)
Die Kurzgeschichte FLANNIGAN von Mark L. Wood wurde erstmals 1980 in der Anthologie "Die schönsten Geschichten aus dem Wilden Westen" veröffentlicht. Als ich Thomas Jeier - der dieses Pseudonym für Westernrtexte benutzt - bat, mir einen Text für OLD TRAILS zur Verfügung zu stellen, war er ohne Umschweife dazu bereit und schickte mir das Manuskript von FLANNIGAN. Ich freue mich besonders mit der Veröffentlichung der Erzählung eine Geschichte eines der führenden deutschsprachigen Western-Autoren veröffentlichen zu können und bedanke mich ganz herzlich bei Thomas Jeier für die Story.
Ein Fremder kommt gerade rechtzeitig in eine Stadt, um am Ende der Beerdigung des verstorbenen Sheriffs teilzunehmen. Er bricht zusammen und wird von der Witwe des Verstorbenen und deren Sohn ins Haus gebracht. Hier stellt sich heraus, dass er FLANNIGAN ist, der Mann, den der Sheriff jahrzehntelang vergeblich gejagt hat ...
Thomas Jeier, der Verfasser dieser Story, ist seit den 1960er Jahren als Autor - nicht nur im Westernbereich aktiv. Heute veröffentlicht er unter dem eigenen Namen und dem Pseudonym Christopher Ross abenteuerliche Romane für Jugendliche und Erwachsene, in denen vielfach seine Liebe zum amerikanischen Westen zum Ausdruck kommt. Zudem hat Jeier zahlreiche Reisebücher vorwiegend über Nordamerika sowie Sachbücher zu historischen Themen geschrieben. - Unbekannter ist sein Engagement in Sachen Western. Bei Heyne war er lange Jahre als Herausgeber der bekannten Westernreihe tätig und hat damals dafür sorgen können, dass zahlreiche inzwischen klassische amerikanische Autoren auch in Deutschland veröffentlicht wurden. Seine vielfältigen Kontakte zu internationalen Autorenkollegen ermöglichen es ihm zudem, sich über Deutschland hinaus für den Western einzusetzen. Dies tut er z.B. auch im Rahmen seiner Tätigkeit in der GASW (Deutsche Gesellschaft zum Studium des Western).
Ich veröffentliche die Erzählung hier unverändert nach dem Manuskript
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Es regnete in Strömen, als er über den Hügel kam. Wir hatten gerade meinen Pa begraben und hörten dem Pfarrer zu, der trotz des Unwetters eine lange Predigt hielt. Er hob immer wieder hervor, dass sich Pa als Sheriff von Willow Creek für das Gute eingesetzt und dem Teufel einen erbitterten Kampf geliefert habe. "Er hat sich um unsere Stadt verdient gemacht!" war einer der Sätze, die am häufigsten in seiner Predigt vorkamen.
Bis auf Jimmy, den schwarzen Stallburschen, waren alle Bürger von Willow Creek zur Beerdigung von Pa erschienen. Sogar sein Stellvertreter Johnny McCraig war da, obwohl er mit ihm nie gut ausgekommen war. Er hatte es auf Pas Job abgesehen gehabt und ihm ständig vorgeworfen, mit sechzig Jahren zu alt für den Posten eines Sheriffs zu sein.
Aber Pa hatte nicht zurücktreten wollen. Er wollte erst Flannigan dingfest machen. "Bevor ich diesen verdammten Kerl nicht erwischt habe, trete ich nicht zurück!" hatte er gesagt.
Flannigan hatte vor zwanzig Jahren die Bank von Willow Creek beraubt. Er war mit dreißigtausend Dollar verschwunden und nie von Pa gefunden worden. Pa hatte das so gewurmt, dass er niemals aufgegeben hatte, nach dem Banditen zu suchen. Flannigan war zu einer Art fixen Idee für ihn geworden, von der er bis zu seinem Tod nicht abgekommen war. Er hatte verzweifelt nach ihm gesucht, hatte Telegramme an andere Gesetzesbeamte verschickt und sogar zum Hörer gegriffen, nachdem das Telefon aufgekommen war. Jeder noch so kleinen Spur war er sofort nachgegangen. Er hatte sich auch nicht gescheut, Hunderte von Meilen zu reiten, aber Flannigan war ihm immer wieder entkommen.
Ich muss gestehen, dass ich manchmal an der Existenz dieses Flannigan gezweifelt habe. Es gab kein Bild von ihm, und die wenigen Augenzeugen des Überfalls waren entwededer tot oder schienen sich nicht mehr richtig an ihn zu erinnern. Es gab nur eine vage Beschreibung, die auf hundert andere Männer im Westen gepasst hätte. Erst als Pa auch während seiner Krankheit von ihm gesprochen hatte, war ich von seiner Existenz überzeugt gewesen.
"Ma", sagte ich leise, als der Reiter auf dem Hügel erschien. "Da kommt ein Fremder! Kennst du ihn?"
Ma blickte auf und schüttelte langsam den Kopf. "Vielleicht ein alter Freund von Pa."
Der Reiter lenkte sein Pferd den Hügel hinab und stieg ein paar Meter vor der Trauergemeinde aus dem Sattel. Er war ein großer Mann mit mächtigen Schultern und einem verwitterten Gesicht. Er war mit einem dieser gelben Ölmäntel bekleidet, den die Cowboys während eines Gewitters trugen. An seinen Steifeln hingen große silberne Sporen, die leise klingelten, als er näher kam und den speckigen Filzhut vom Kopf nahm. Erst an seinem weißen Haar erkannte ich, dass er mindestens sechzig Jahre als sein musste.
Der Pfarrer hatte gerade "Rock of Ages" angestimmt, verstummte aber überrascht, als er den Fremden bemerkte. Auch die anderen Trauergäste blickten erstaunt auf ihn. In unserer Stadt tauchten selten Fremde auf und schon gar nicht, um an einer Beerdigung teilzunehmen.
"Rock of Ages, Rock of Ages ...", begann meine Mutter mit tränenerstickter Stimme, und dann sangen auch die anderen weiter. Nur ich hielt den Mund. Ich konnte nicht besonders gut singen, außerdem war ich von der Gestalt dieses Fremden fasziniert, der seinen Hut in den Händen hielt und auf das Grab starrte.
Er machte einen geheimnisvollen, beinahe unwirklichen Eindruck auf mich, und das lag nicht nur an dem Regen und seinem schlammbespritzten Ölmantel. Er schien aus einer anderen Welt zu stammen, aus einer Zeit, als im Westen noch das Recht des Stärkeren geherrscht hatte und alle Meinungsverschiedenheiten mit dem Colt ausgetragen worden waren. Vielleicht war er ein alter Cowboy, der einmal mit Pa geritten war und durch Zufall von seinem Tod gehört hatte. Oder ein Marshal, mit dem er in einer anderen Stadt zusammengearbeitet hatte.
"Lasst uns beten!", hörte ich die Stimme des Pfarrers. Ich faltete die Hände und bat Gott, es meinem Pa im Himmel so angenehm wie möglich zu machen. Er hatte es im Leben nicht leicht gehabt und war ständig auf der Spur von Dieben und Mördern geritten. Erst in den letzten Jahren hatte er es etwas ruhiger angehen lassen. "Amen", schloss der Pfarrer.
Er warf eine Schaufel Erde ins Grab und sützte Ma, die wieder zu weinen angefangen hatte und sich nur mühsam auf den Beinen hielt. Sie blickte noch einmal auf den Sarg hinab und ließ sich dann von mir wegführen.
Auf dem Weg zu unserem Zweispänner, den ich in der Nähe abgestellt hatte, kamen wir an dem Fremden vorbei. Ich konnte jetzt deutlich sein Gesicht sehen, das Spuren großer Anstrengungen zeigte und noch älter ausah, als ich von weitem angenommen hatte.
Plötzlich merkte ich, dass er zitterte und keuchte. Wie unser asthmakranker Ladenbesitzer. Ich blieb stehen und fragte: "Fehlt Ihnen etwas, Mister?"
Der Fremde hob langsam den Kopf und sah mich aus leeren Augen an. "Nichts ... es ist nicht ..." brachte er mühsam hervor.
Dann sank er zu Boden und fiel in den Schlamm, der hier auf dem Friedhof knöcheltief war und nach allen Seiten spritzte.
Von den Trauergästen hinter mir kam ein Aufschrei.
Ich ließ Ma los und beugte mich schnell über dem Mann, der nicht bewusstlos, aber ziemlich benommen und erschöpft war. "Er hat Fieber", sagte ich, nachdem ich ihm eine Hand auf die Stirn gelegt hatte. "Ist der Doc hier?"
"Doc Myers ist draußen bei den Hendersons", antwortete jemand aus der Menge. "Mrs. Henderson bekommt ein Baby ..."
"Hm", machte ich. Ich verstand nicht viel von Medizin und hatte keine Ahnung, was ich tun sollte.
Zum Glück kam mir meine Mutter zu Hilfe, die sich inzwischen etwas beruhigt hatte. "Ich werde mich um ihn kümmern", sagte sie.
Ihren Worten folgte eine beinahe bedrückende Stille, während der das Prasseln des Regens deutlich zu hören war und unheimlich
in meinen Ohren klang. Ein Wetter, dachte ich, das zu einer Beerdigung und dem Auftauchen dieses Fremden passte.
"Sie?", rief die Frau des Schmieds erstaunt. "Aber Sie haben doch gerade ... ich meine ..."
"Das Leben geht weiter", erwiderte Ma erstaunlich fest, "und irgendwann muss ich mich ja mal wieder an den Alltag gewöhnen."
"Aber Sie sind bestimmt müde."
Wir hatten während der letzten Nacht tatsächlich kaum geschlafen.
"Vielleicht tut mir die Arbeit ganz gut", sagte sie "Sie bringt
mich auf andere Gedanken."
Sie beugte sich zu dem Mann hinab und führte seinen Puls. Dann legte
sie eine Hand auf seine rechte Wange. Sie hatte mal in einem
Krankenhaus geholfen und kannte sich ein bisschen in diesen Dingen aus.
"Fieber", sagte sie, "er braucht Ruhe!"
Der Fremde stützte sich auf die Ellenbogen und rang keuchend nach
Atem. "Machen Sie keine Umstände", meinte er leise, "es geht schon
wieder. Wenn Sie mir auf mein Pferd helfen, reite ich weiter."
"Kommt nicht in Fraage!", erwiderte Ma. Es war erstaunlich, wie sie
so kurze Zeit nach Pas Beerdigung in der Lage war, sich auf etwas
anderes zu konzentrieren. "Sie kommen mit zu uns und ruhen sich erst mal
aus!"
"Aber ich könnte doch auch ...", begann die Frau.
"Lass sie doch!", raunte ihr ein Mann zu.
Ma griff dem Fremden unter die Schultern. "Keine Bange", munterte
sie ihn auf. "Ein paar Teller heiße Brühe und ein Becher Kaffee bringen
Sie wieder auf den Damm!"
"Mrs. Brennan kocht den besten Kaffee des ganzen Westens", ergänzte jemand.
Bei der Erwähnung unseres Namens glaubte ich, den Fremden
zusammenzucken zu sehen, aber ich konnte mich auch getäuscht haben.
Wahrscheinlich
war ihm nur ein Regentropfen ins Auge gefallen. Er kannte uns ja gar
nicht, zumindest hatten Ma und ich ihn noch nie gesehen.
"Joey, hilf mir mal!", sagte Ma zu mir.
Wir schleppten den Mann zu unserem Zweispänner und fuhren mit ihm in
die nahe Stadt. Hinter uns kamen die anderen, die wohl froh waren,
dass Ma ihnen ein Problem abgenommen hatte. Wer kümmerte sich schon gern
um einen Fremden, der noch dazu wie ein Satteltrtamp aussah?
Unser Haus lag gegenüber einer Bank und nur ein paar Meter vom Saloon entfernt. "Eine bessere Lage kann sich ein Sheriff gar nicht für sein Büro wünschen", hatte Pa immer gesagt. "Auf diese Weise hat er die wichtigsten Gebäude immer im Blickfeld!" Dass die Bank damals trotzdem beraubt worden war, hatte wohl daran gelegen, dass die Banditen ausgerechnet während Pas Mittagspause gekommen waren, und er damals noch keinen Stellvertreter gehabt hatte.
"Warten Sie, ich helfe Ihnen." Das war Johnny McCraigs Stimme, der plötzlich neben uns auftauchte, als wir vom Wagen steigen und den Fremden ins Haus tragen wollten. Um sein Pferd, das wir hinten angebunden hatten, kümmerte sich der dunkelhäutige Jimmy aus dem Mietstall.
Ma sah den Stellvertreter unseres toten Pa scharf an und schüttelte den Kopf. "Ich brauche Ihre Hilfe nicht, Johnny McCraig", sagte sie. "Wir kommen ganz gut allein zurecht!"
Aber dann fiel uns der immer noch benommene Fremde beinahe in den Schlamm, und wir mussten uns wohl oder übel damit einverstanden erklären, dass der Hilfssheriff hinzusprang und uns half, den Mann ins Haus zu tragen.
Unsere Wohnung lag gleich hinter dem Büro, in dem sich jetzt wohl McCraig breitmachen würde. Uns gehörte zwar das Haus, aber der junge Hilfssheriff war Pas offizieller Vertreter, und wir konnten nichts dagegen tun.
Wir trugen den Mann an Pas Schreibtisch und dem Gewehrständer vorbei, und mich beschlich schon ein komisches Gefühl, als ich Pas Sachen auf dem Tisch liegen sah. Es sah verdammt so aus, als wäre er gar nicht von uns gegangen. Wahrscheinlich brauchte ich noch einige Zeit, um mich daran zu gewöhnen.
Ma öffnete die Tür zu unserer Wohnung. "Legt ihn auf das Bett im Gästezimmer", sagte sie.
Johnny McCraig zögerte einen Augenblick. "Und Sie wollen diesen Mann wirklich in Ihrer Wohnung aufnehen?" fragte er.
"Warum nicht?", erwiderte Ma.
"Sie kennen ihn doch gar nicht", gab der Hilfssheriff zu bedenken, "er ist ein Frmder, der noch nie in Willow Creek ..."
"Er braucht Hilfe!," schnitt ihm Ma das Wort ab. "Und wenn jemand Hilfe braucht, mache ich keine Unterschiede zwischen Leuten, die ich gut kenne, und Indianern, Negern und Fremden!"
Das klang ziemlich hochtrabend, war aber nicht gelogen. Ma machte wirklich keine Unterschiede und passte auch auf die Kinder anderer Leute auf, wenn die mal verreisen mussten oder keine Zeit hatten.
Johnny McCraig nickte in die Richtung des Fremden. "Und wenn er ein Revolvermann ist?"
"Unsinn!", winkte Ma ab. "Wir leben im zwanzigsten Jahrhundert! Es gibt keine Revolvermänner mehr!"
"Ich gehe trotzdem mal die Steckbriefe durch", sagte der Hilfssheriff, "man kann nie wissen."
"Tun Sie, was Sie nicht lassen können", erwiderte Ma scharf. "Und jetzt bringen Sie den Mann endlich ins Gästezimmer, oder wollen Sie ihn gleich ins Gefängnis sperren?"
Johnny McCraig zeigte dieses süffisante Lächeln, das ich so bei ihm hasste, sagte aber nichts und half mit, den Mann in das kleine Zimmer zu tragen, das an das Wohnzimmer anschloss. Wir legten ihn auf das Bett.
"Vielen Dank", sagte Ma betont höflich.
Der Hilfssheriff blieb trotzdem noch einen Augenblick stehen. Er blickte nachdenklich auf den Fremden hinab. "Irgendwie kommt mit der Kerl bekannt vor", sagte er nachdenklich.
"Verschwinden Sie!". fuhr Ma ihn an.
Johnny McCraig verließ lächelnd das Zimmer und machte sich nebenan in seinem Büro zu schaffen.
"Angeber", sagte ich wütend.
Ma hatte inzwischen eine Schüssel mit heißem Wasser und einen Lappen geholt und wusch dem Fremden den Dreck vom Gesicht. Sie berührte ihn so sanft, als hätte er eine schwere Verletzung, aber ich kannte mich in dieen Dingen nicht aus. Vielleicht war so eine Grippe ja gefährlicher, als sie aussah.
Nachdem sie damit fertig war, zogen wir dem Mann den Mantel aus. Das war gar nicht so einfach, weil die Kleidung des Fremden nass und schmutzig, und er nicht gerade ein Leichtgewicht war. Er war beinahe so schwer wie Pa, obwohl er viel schlanker aussah.
Endlich hatten wir es geschafft. Ich warf den Ölmantel über einen Stuhl und wurde plötzlich von dem schweren Revolver angezogen, der im Holster des breiten Waffengurtes steckte, den der Mann umgebunden hatte. "He!", staunte ich.
Auch Ma hatte den Colt gesehen. Sie war blass geworden und blickte wie gebannt auf die Waffe. Wir lebten nicht mehr im neunzehnten Jahrhundert, und nur die wenigsten Männer liefen noch mit Colts herum, von Gesetztesbeamten einmal abgesehen.
"Ein 44er!", stieß ich hervor. Ich verstand etwas von Waffen. "Ziemlich
altes Modell! Ich glaube, Jesse James und Billy the Kid hatten
so ein Ding."
"Jesse James?" fragte Ma geistesabwesend. "Ach, du meinst diesen
Banditen aus Missouri. Aber der ist doch schon zwanzig Jahre tot."
Wir sahen einander an und hatten wohl beide den gleichen Gedanken.
Bevor ihn einer von uns aussprechen konnte, bewegte sich der Fremde
und nahm wieder unsere Aufmerksamkeit in Anspruch.
"Mein Pferd", brachte er mühsam hervor. "Was ist mit meinem Pferd?"
"Keine Sorge, Jimmy kümmert sich um den Braunen", sagte Ma.
Der Fremde nickte und öffnete die Lippen, als wollte er noch etwas sagen, stöhnte ab er nur. Anscheinend hatte er Schmerzen.
Ma wandte sich entschlossen an mich. "Joey, zieh ihm die restlichen
Sachen aus und deck ihn zu! Ich hole inzwischen einen Teller Suppe!
Sei vorsichtig, hörst du?"
Sie verschwand in der Küche, und ich machte mich daran, den Fremden
von seinen Kleidern zu befreien. Als ich den Waffengurt löste, zuckte
die Hand des Mannes instinktiv zum Colt, blieb ab er auf halbem Weg
liegen. Ich legte den Gurt vorsichtig auf den Stuhl und ließ die Waffe
unberührt, obwohl ich sie liebend gern einmal in die Hand genommen
hätte. Aber auch ohne sie zu untersuchen, erkannte ich, dass sie im
Gegensatz
zu seiner Kleidung sehr gepflegt war.
Ich legte die Kleider des Mannes zu dem Mantel über die Stuhllehne,
betrachtete einen Augenblick lang verwundet die vielen Schusswunden
an seinem Körper und deckte ihn zu.
Kurz darauf kam Ma mit der Suppe herein. Auch ich hätte jetzt einene
Teller vertragen können, aber der Fremde brauchte sie wohl nötiger.
Da er noch zu schwach war, um selbst zu essen, flößte ihm Ma die heiße
Suppe ein.
Er aß gierig und fühlte sich danach schon bedeutend besser. "Sie sind sehr freundlich zu mir!" sagte er heiser.
"Ist doch selbstverständlich!"
Der Fremde betrachtete Ma neugierig und musterte ihr schwarzes Trauerkleid. "Sie sind Mrs. Brennan ..."
"Ja", antwortete Ma.
"Mein herzliches Beileid", sagte der Fremde. "Es ist nicht leicht, einen Menschen zu verlieren."
Ma nickte dankbar. "Waren Sie ein Bekannter meines Mannes?"
"Wir kannten uns ganz gut", antwortete er. Ich hatte das Gefühl,
dass er ihrer Frage auswich. "Ist das ihr Sohn?" Er deutete lächelnd auf
mich.
Sie nickte. "Das ist Joey, er wird nächsten Monat siebzehn! Wir ... das heißt, ich bin sehr stolz auf ihn."
"Das können Sie auch", sagte er.
Ich bekam rote Ohren und hätte mich dafür schlagen können. Aus
irgendeinem Grund hatte ich Angst davor, einen schlechten Eindruck auf
diesen Fremden zu machen.
"So, und jetzt schlafen Sie ein bisschen", rettete mich Ma. "Wir schauen später wieder nach Ihnen."
"Aber ich muss weiter, Ma'am."
"Das hat Zeit", sagte Ma.
Wir ließen den Fremden allein und gingen nach nebenan, wo wir
beinahe mit Johnny McCraig zusammenprallten, der gerade aus dem Büro
gestürmt kam.
"Was ist denn mit Ihnen los?", wunderte sich Ma. Ihre Stimme ließ keinen Zweifel darüber, dass sie McCraig nicht mochte.
"Ich hab's!", rief der Hilfssheriff begeistert. "Ich weiß jetzt, wer der verdammte Kerl ist!"
Ich warf einen schnellen Blick zur Tür und frage mich, ob der Mann im Bett uns hören konnte.
"Wer?", fragte Ma.
"Flannigan!", stieß McCraig hervor.
"Flannigan? Flannigan ist längst tot!"
"Woher wollen Sie das wissen?"
"Wenn er noch am Leben wäre, hätte ihn Pa doch erwischt", sagte ich.
Der Hilfssheriff blickte mich an. "Auch der große Matt Brennan war
nicht perfekt!", sagte er mit diesem Lächeln, das ich so hasste.
Ma funkelte ihn zornig an. "So spricht man nicht über einen Toten!", schimpfte sie. "Haben Sie denn gar keinen Anstand?"
"Aber hier steht es", ließ sich Johnny McCraig nicht beeindrucken.
Er schwenkte einen Steckbrief. "Ungefähr ein Meter achtzig groß,
verwittertes Gesicht, schmale Lippen, blaue Augen ..."
Ma kannte Flannigans Steckbrief in- und auswendig. "Die Beschreibung passt auch auf tausend andere Männer", sagte sie, "das wissen Sie doch genauso gut wie ich!"
"Sie passt auf diesen Fremden."
"Unsinn! Und wenn schon ..."
Die Gestalt des Hilfssheriffs straffte sich, und er setzte sich
langsam in Bewegung. Sein dienstbeflissenes Gesicht widerte mich an.
"Wo wollen Sie hin?", rief Ma.
"Ich werde den Fremden festnehmen."
"Einen Dreck werden Sie!", reagierte Ma ungewöhnlich scharf. Sie
riss die Winchester von der Wand und richtete die Mündung auf den
verdutzten Hilfssheriff.
"Machen Sie keinen Unsinn!", sagte Johnny McCraig schnell. "Das Ding ist geladen!"
"Sonst hätte ich wohl kaum danach gegriffen!" Ich war richtig stolz auf Ma, obwohl ich auch Angst um sie hatte.
Der Hilfssheriff wurde wütend. "Wissen Sie, was Sie da tun?", fuhr er Ma an. "Sie behindern einen Beamten bei seiner Arbeit!"
"Raus!", sagte Ma nur.
Johnny McCraig zögerte ein wenig, gab aber schließlich nach. "Na schön", erwiderte er, "ich gehe. Aber ich komme wieder, darauf
können Sie sich verlassen, und dann lasse ich mich nicht mehr so abspeisen."
"Tun Sie, was Sie wollen."
Der Hilfssheriff drehte sich um und stampfte aus dem Wohnzimmer. Er ging durch das Büro und trat auf die Straße hinaus.
"Rüpel!", schimpfte Ma.
Wir gingen ins Büro und traten an eines der beiden großen Fenster. Nachdenklich blickten wir auf die Straße hinaus. Es regnete
immer noch in Strömen.
Uns war natürlich klar, was Johnny McCraig jetzt tun würde. Er würde
auf schnellstem Weg in den Saloon gehen und die Männer so
lange gegen den Fremden aufhetzen, bis sie mit ihm kamen, um den Mann zu
verprügeln oder aufzuhängen. Wir lebten zwar im zwanzigsten
Jahrhundert, aber ich traute McCraig durchaus eine solche Schweinerei
zu.
"Was machen wir, wenn er zurückkommt?", fragte ich nach einer ganzen Weile.
Ma hatte schon darüber nachgedacht. "Ich jage ihm eine Kugel
zwischen die Stiefel, was sonst? Und wenn er dann nicht umkehrt, halte
ich einen Meter höher."
So hatte ich Ma noch nie sprechen hören, aber vielleicht war sie
durch Pas Tod ein anderer Mensch geworden. Oder hatte dieser Fremde
etwas damit zu tun?
"Und wenn er recht hat? Wenn es doch Flannigan ist?"
"Unsinn!", erwiderte Ma.
Ich starrte wieder nach draußen. Aus dem Saloon drang jetzt lautes
Gegröle, und ich konnte mir lebhaft vorstellen, was dort vor sich
ging. Johnny McCraig verlor keine Zeit. Er würde höchstens eine Stunde
brauchen, um die Männer gegen den Fremden aufzubringen. Willow
Creek war ein langweiliges Nest, und die Männer warteten dorch nur
darauf, dass endlich einmal etwas geschah.
"Möchtest du Kaffee?", fragte ich, nur um etwas zu sagen.
Ma schüttelte den Kopf.
Im selben Augenblick erklangen Schritte hiner uns, und wir fuhren erschrocken herum.
In der Tür stand der Fremde. Er war wieder angezogen und hatte sogar den Waffengurt umgeschnallt. Auf seinem Gesicht stand der
Schweiß. Er atmete schwer und musste sich am Türrahmen festhalten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
"Mister ...", erschrak Ma. "Warum sind Sie aufgestanden? Sie haben hohes Fieber."
"Halb so schlimm", winkte der Fremde ab, obwohl sogar ich sah, dass es ihm ziemlich schlecht ging. "War nur ein Schwächeanfall,
so was habe ich in letzter Zeit öfter."
"Ein Grund mehr, liegen zu bleiben", sagte Ma. Sie ging auf den Mann zu. "Kommen Sie, Mister, ich bringe Sie ..."
"Machen Sie sich keine Mühe!", schnitt er ihr das Wort ab. Er ging an Ma vorbei und trat ans Fenster.
Ich beobachtete ihn von der Seite. Er stützte sich mit den Händen
gegen die Fensterscheibe und blickte zur Bank hinüber. In seinen
Augen lag ein seltsamer Ausdruck, der bestimmt nicht nur vom Fieber kam.
"Ist das die Midland Bank?", fragte er.
"So hieß sie früher mal", antwortete ich und schreckte gleich darauf zusammen. Ich sah den Fremden entgeistert an. "Sie sind
Flannigan! Sie sind der Mann, hinter dem mein Vater sein Leben lang her war."
"Stimmt das?", fragte Ma leise.
Er nickte nur.
Ma blickte ihn mit großen Augen an. Ich hatte erwartet, dass sie auf
ihn losgehen oder ihn zumindest mit der Winchester bedrohen würde,
aber sie tat nichts dergleichen. Sie fragte nur: "Warum sind Sie
gekommen?"
"Ich hatte gehört, dass Ihr Mann gestorben war. Ich wollte ihm die letzte Ehre erweisen."
"Verrückt", rief ich.
"Vielleicht", antwortete Flannigan, "wir sind uns in den letzten
zwanzig Jahren ja auch ganz schön auf die Nerven gegangen! Aber wir
sind uns auch nähergekommen."
Ich blickte ihn verständnislos an.
"Wir snd aus demselben Holz geschnitzt", berichtete er, "nach ein
paar Jahren tat es mir beinahe leid, dass wir auf verschiedenen
Seiten standen."
"Hatten Sie keine Angst, hierherzukommen?", fragte ich. "Ich meine,
Sie kommen ausgerechnet zu uns? Zu den Verwandten des Mannes,
der hinter Ihnen her war?"
"Meine Zeit ist ohnehin vorbei", sagte Flannigan. Er deutete nach
draußen. "Ich passe nicht in diese sauberen Städte mit ihren weißen
Häusern und Vorgärten." Er wandte sich an Ma. "Ihrem Mann muss es
genauso gegangen sein."
Ma wollte etwas darauf erwidern, aber da wurde das Gegröle lauter, und Schritte polterten über den Gehsteig.
"Sie kommen!", erschrak ich. "Sie müssen verschwinden!" Ich wunderte mich selbst darüber, dass ich Partei für Flannigan ergriff.
"He, Mrs. Brennan!", rief Johnny McCraig von draußen. "Es ist soweit! Schicken Sie den verdammten Banditen nach draußen, oder wir kommen und holen ihn!"
Seine Worte wurden von einem vielstimmigen Gejohle begleitet. Immer wieder waren Rufe wie "Hängt ihn auf!" und "Worauf warten wir noch?" zu hören. Waren das die Bürger, die noch vor einer Stunde am Grab meines Pas gebetet hatten? Ich konnte es nicht glauben.
"Mrs. Brennan! Hören Sie uns?"
Ma wollte antworten, aber Flannigan kam ihr zuvor. Er rief: "He, ihr da draußen! Wollt Ihr was von mir?"
"Flannigan, bist du das?"
"Ja", antwortete er.
"Hast wohl Angst, weil du dich hinter einem Weiberrock versteckst?", kam es von draußen.
Flannigan gab keine Antwort. Statt dessen griff er nach seinem Colt und öffnete die Tür. Mir blieb das Herz stehen.
"Flannigan!," rief Ma erschrocken.
Aber da war er schon draußen und lief in das tödliche Feuer hinein, das aus Johnny McCraigs Schrotflinte brach. Er sank mit einem Aufschrei zu Boden und blieb in einer immer größer werdenden Blutlache liegen.
"Flannigan!", rief Ma wieder.
Später stellten wir fest, dass er die Patronen aus seinem Colt entfernt hatte.
Er war gekommen, um zu sterben.
© by Mark L. Wood (Thomas Jeier)
Wir danken Thomas Jeier für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Erzählung