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Freitag, 10. Oktober 2025

STORY: Abrechnung im Blizzard [2. Teil] (Haycox)


Abrechnung im Blizzard
(Teil 2 von 2)

Ernest Haycox

(Orig. „Blizzard Camp“, 1932; Übers.: Reinhard Windeler)


Was bisher geschah:
Gut zwei Dutzend Menschen finden in einem Blizzard Zuflucht in dem verlassenen Bergarbeiterlager Sumpter Gulch. Als Letzter trifft Tom Darrah ein. Lonzo Hardesty, der Vormann der Circle-Arrow-Ranch, ist zusammen mit seinen Leuten einer der Gestrandeten. Die anderen sind die Männer der Lazy-JT-Ranch mit ihrem Vormann Eric Bull und die Verbrecherbande von Nig Sommers. Darrah wundert sich über das distanzierte Verhalten, das auch Hardesty, mit dem er gut befreundet ist, ihm gegenüber zeigt, und nimmt die Spannungen wahr, die zwischen allen Anwesenden herrschen. Schließlich erfährt er, dass der unbeliebte Lazy-JT-Boss Lewes DeSpain vor drei Tagen, als der Schneesturm gerade begonnen hatte, erschossen wurde und alle annehmen, dass sich der Täter unter ihnen befindet. Jeder will sich von dem Verdacht, er könnte der Mörder sein, reinwaschen. Darrah beschließt, den Männern nichts davon zu erzählen, dass er im Blizzard einen einzelnen Damenhandschuh gefunden hat. Dann entdeckt er, dass sich im Obergeschoss des ehemaligen Hotels, in dem sich die Circle-Arrow-Leute einquartiert haben, noch ein Mensch aufhält.  - Der erste Teil der Story ist hier zu finden.

 

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______________________________

Eine Frau — oder besser gesagt, ein Mädchen — saß an einem kleinen Tisch in der Mitte des Raumes und aß die Mahlzeit, die ihr der Circle-Arrow-Viehtreiber gebracht hatte. Sie war von der Taille bis zu den Füßen in Decken gehüllt, und um ihre schmalen Schultern trug sie eine Männerlederjacke. Nur ganz kurz lächelte sie Darrah zu und nickte leicht mit dem Kopf, der von glänzendem kupferrotem Haar umrahmt war. Aber dieses Lächeln verschwand, als sie beim genauen Hinsehen erkannte, dass sie diesen Mann noch nie zuvor gesehen hatte. Ihr Kinn hob sich energisch, und ihr entwich ein kurzes Schnaufen. „Wer sind Sie?“ fragte sie entrüstet.

Darrah war völlig überrascht. Obwohl er in einem entfernten Winkel seines Verstandes eine vage Ahnung einer derartigen Situation hatte, traf ihn dieser Moment unvorbereitet, und er stand nur da und starrte sie an, wobei er seltsamerweise dachte, dass er ihr noch nie zuvor begegnet war und dass sie einen umwerfenden Anblick bot.

„Sie gehören nicht zu Lonzo Hardestys Leuten?“ fragte sie, wachsam und nicht mehr so empört.

„Nein. Mein Name ist Darrah.“

„Tom Darrah?“

„Woher wissen Sie das?“ fragte Darrah.

„Ich habe von Ihnen gehört“, sagte die junge Frau. Ihm schien, als säße sie nun entspannter und erleichtert da. Jedenfalls verschwand der Argwohn teilweise aus den ziemlich dunklen Augen, und ihre Mundwinkel glätteten sich. Ihr Gesicht war symmetrisch und fein modelliert. Es strahlte ein kühles Vertrauen und eine Art nachdenklicher Zurückhaltung aus. 

„Ich hab’ gedacht“, grübelte Darrah, „ich würde jeden in dieser Gegend kennen.“

„Ich bin neu hier. Ich bin vor vier Monaten nach hier draußen gekommen, um eine Heimstättenparzelle am Fuße des Bergkamms zu übernehmen — da, wo der Hondo Creek ins Flachland mündet.“

„Allein?“

„Ja“, sagte das Mädchen und fügte hinzu: „Mein Name ist Anita Goodridge.“

„Was können Sie tun, alleine?“ fragte Darrah in einem Tonfall, der die Frage schon mehr oder weniger beantwortete.

„Spielt das eine Rolle?“ entgegnete das Mädchen. „Ich war glücklich, und das konnte ich vor vier Monaten nicht von mir behaupten.“

Von unten in der Eingangshalle war Lonzo Hardestys Stimme zu hören, die in ungeduldigem Ton rief: „Darrah — Wo steckst du?“ Darrah wusste, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis die Karten auf den Tisch gelegt werden mussten. Er griff in seine Tasche, zog den Handschuh heraus und hielt ihn ihr hin.

„Ist das Ihrer?“

Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich erneut. Angst kam deutlich darin zum Vorschein, ihre rosigen Wangen wurden blass. Sie machte eine Geste in Richtung des Handschuhs und verschränkte dann beide Hände ineinander, bis die Knöchel weiß wurden. „Ja“, flüsterte sie. „Wo — wo haben Sie ihn gefunden?“

Hardesty schrie: „Darrah!“ Und dann stürmte er wie wild die Treppe hinauf. Darrah legte der jungen Frau den Handschuh in den Schoß und sagte schnell: „Nicht jetzt. Verstecken Sie den!“

Sie ließ den Handschuh zwischen den Decken verschwinden, und irgendwie fingen ihre Augen an, Wärme auszustrahlen. „Ich hatte schon gehört“, sagte sie schnell, „dass Sie diese Sorte Mann sind! Darrah, bitte — bleiben Sie hier, wenn Sie können! Ich fühle mich nicht sicher — egal, bei wem!“

Darrah hatte das Gefühl, dass ihr noch etwas anderes auf der Seele lag. Aber dafür war keine Zeit. Lonzo Hardesty rannte fluchend den Korridor entlang, stürmte durch die Schlafzimmertür und stieß einen barschen Befehl aus. „Rühr’ dich nicht! Verdammt noch mal, du must dich immer irgendwo einmischen, Darrah, oder? Wer hat dir gesagt, dass du hier ’raufkommen sollst?“

„Jetzt ’mal sachte“, sagte Darrah beruhigend und drehte sich langsam zu Hardesty um. Er stellte fest, dass ein Revolver auf ihn gerichtet war, und in kühlem Schweigen fragte er sich, welches einschneidende Ereignis diesen Vormann der Circle Arrow zu einem für ihn völlig untypischen Verhalten treiben konnte. Hardesty war immer ein Mann von ausgeglichenem Naturell gewesen, ein Freund, ein ziemlich enger Freund. Aber die Pistole war gezogen und zielte auf ihn, und Hardestys schmale Wangen waren verhärmt durch eine Mischung aus Wut und Sorge. 

„Das ist also der Grund für deine Unruhe?“ fragte Darrah.

„Ich wünschte, du hättest dich im Schneesturm da draußen verirrt!“ rief Hardesty. Weitere Männer stiegen die Treppe herauf und kamen den Korridor entlang. Der Rahmen der Schlafzimmertür war bald blockiert. Die Circle-Arrow-Männer blickten ahnungsvoll herein, und einer von ihnen sagte: „Brauchst du Hilfe, Lonzo?“

„Ich komme schon klar“, knirschte Hardesty. „Ich hätte es besser wissen müssen. Du lässt nie etwas auf sich beruhen, Tom. Immer schnüffelst du herum und stellst dumme Fragen. Nun, dieses Mal vergisst du einfach, was du entdeckt hast, und hältst deine verdammte Klappe!“ 

Darrah grinste ein wenig, was Hardestys Laune nicht gerade verbesserte. 

„Das ist ein mächtig kaltes Plätzchen“, bemerkte Darrah, „um eine Lady unterzubringen. Gibt es hier oben keine Öfen?“

„Nein“, brummte Hardesty. „Ist auch nicht dein Problem. Komm da ’raus.“

„Eine Sekunde noch“, weigerte sich Darrah. Er wandte sich an das Mädchen. „Wie lange sind Sie schon in Sumpter?“

„Seit der Sturm angefangen hat. Drei Tage.“

„Sind Sie zusammen mit diesen Männern hergekommen?“

„Sie —“

„Sei still“, fuhr Hardesty sie an. „Hör ’mal, Anita, es gibt keinen Grund, dass du ihm vertrauen solltest. Wenn es ’was zu besprechen gibt, werde ich das tun. Komm, Darrah.“ 

Darrah zuckte mit den Schultern und verließ das Zimmer. Die übrigen Circle-Arrow-Männer folgten ihm hinunter in die Eingangshalle, aber Hardesty blieb noch eine ganze Weile oben. Darrah setzte sich ans Kaminfeuer an, schloss die Augen und lauschte dem draußen wütend tosenden Wind. Es war erst kurz nach Mittag, aber das Tageslicht war fast verschwunden. Die Fenster waren graue Rechtecke, und durch das Feuer im Kamin schien es, als wäre es tatsächlich Nacht. Aus dem Obergeschoss waren ziemlich deutlich Hardestys Worte zu hören, gefolgt von einem kurzen, bestimmten Ausruf seitens des Mädchens. Eine Tür knallte. Der Vormann kam herunter und ging zum Kamin. Als Darrah seine Augen öffnete, sah er, dass Hardesty ihn mit finsterem Blick beobachtete.

„Ich denke, wir sollten das klären“, brummte Hardesty. „Aber gefallen tut mir das nicht. Nicht einmal, wenn du es bist. Warum hast du deine verflixte Nase nicht da ’rausgehalten?“ 

„Normalerweise“, sagte Darrah gedehnt, „bist du ein ziemlich ausgeglichener und vernünftiger Mensch, Lonzo. Aber im Moment zeigst du nicht einen Funken Verstand. Du hast Angst vor mir. Warum?“

„Bisher bin ich mit diesem Mist klargekommen“, sagte Hardesty, „und das werde ich auch weiterhin tun. Ich vertraue niemandem. Wenn du wissen willst, wovor ich Angst habe, sag’ ich’s dir. Vor dir. Du lässt es immer darauf ankommen. Du gehst zu viele Risiken ein. Das ist nicht die Art, wie ich Karten spiele. Also sage ich dir ganz klar: Ich allein kümmere mich um diese Angelegenheit.“

„Schön, haben wir das also geklärt“, sagte Darrah. „Erzähl’ weiter.“

Hardesty starrte grimmig ins Feuer und sammelte seine Gedanken.

„Zunächst einmal, Tom, das Mädchen ist mit uns hierhergekommen. Wir kamen gerade vom Bergkamm ’runter, als der Sturm losbrach. Wir kamen an ihrer Hütte vorbei. Sie hatte fast keine Vorräte mehr, und ich hab’ ihr gesagt, sie sollte besser mit nach Arrowhead kommen und da bleiben, bis das Schlimmste vorüber wäre. Das hat sie gemacht. Bis hier sind wir gekommen.“ 

„Du lügst, Lonzo“, kam Darrahs kühle Erwiderung. „Ich weiß nicht, ob die Circle Arrow oder das Mädchen zuerst in Sumpter angekommen ist — aber ihr seid nicht zusammen angekommen.“

Hardesty antwortete nicht, aber Darrah sah etwas in den Augen des Mannes, das er noch nie zuvor gesehen hatte. Es war eine Gefühlsregung, die ziemlich nahe an der Grenze zu mörderischer Gewalt lag. Sogar der Rest der Circle-Arrow-Mannschaft bemerkte es. Und einer von ihnen sagte: „Ganz ruhig, Lonzo. Tom Darrah ist ehrlich. Sei kein Idiot.“

„In Ordnung“ knurrte Hardesty. „Das Mädchen war zuerst hier. Wir sind ungefähr eine halbe Stunde nach ihr gekommen. DeSpains Männer kreuzten nur wenig später auf — und erzählten uns, dass DeSpain tot war. Nig Sommers tauchte erst am Abend auf.“

„Du willst die Frau beschützen“, überlegte Darrah. „Wie kommst du darauf, dass sie es getan hat?“

„Ich weiß nicht, wer es getan hat“, sagte Hardesty erregt. „Und es ist mir auch egal. Aber ich habe sie versteckt, als Eric Bull und seine Horde aufkreuzten. Die DeSpain-Mannschaft besteht aus rauen Kerlen. DeSpain hat nur solche Kerle angeheuert — und nur Kerle von dieser Sorte würden für ihn arbeiten. Nun, ich will mir besser nicht vorstellen, was die mit dem Mädchen anstellen würden. Kannst du dir selbst ausmalen. Was würden die denken, wenn die sie hier sehen würden? Natürlich, dass etwas verdammt Komisches der Grund war.“ 

„Sonst noch ’was?“ hakte Darrah ruhig nach.

Hardestys Blick bohrte sich in Darrah. In seinen Augen blitzten seltsame, glitzernde Lichtpunkte auf. „Yeah“, murmelte er. „Sie ist nicht sicher. Vergiss den Mord für einen Moment. Auch ohne ihn ist sie nicht sicher. Ich habe gesagt, dass DeSpains Mannschaft aus rauen Kerlen besteht. Aber Nig Sommers ist ein Wolf, und seine Männer sind genauso. Also?“

„Ich habe noch nie davon gehört, dass eine anständige Frau in diesem Land belästigt worden ist.“

„Woher sollen die wissen, dass sie anständig ist?“ murmelte Hardesty. „Es wurde darüber gemunkelt, dass sie auf dem Bergkamm alleine lebt. Außerdem ist sie mit uns zusammen. Wenn die das herausfinden, werden sie ein paar falsche Schlüsse ziehen. Ganz ehrlich, Tom, ich habe weniger Angst davor, dass die ihr den Mord anhängen, sondern mehr vor der anderen Sache.“ 

„Als du sie hier angetroffen hast“, fragte Darrah, „hat sie dir gesagt, was sie draußen im Blizzard gemacht hat?“

„Ich habe nicht gefragt“, kam sofort Hardestys Antwort. „Und ich will es auch nicht wissen.“ 

„Guter Junge“, sinnierte Darrah. Er holte seinen Tabak heraus und drehte sich mit finsterem Blick eine Zigarette. Er riss ein Streichholz an, seine Augen blickten hart und hell. „Ich kann hier noch etwas anderes ziemlich klar sehen.“

„Und das wäre?“ drängte Hardesty mit einem Anflug von Aggressivität. Darrah entging diese Reaktion nicht, und er dachte darüber nach, dass dieser Circle-Arrow-Vormann vor einer Tatsache Angst zu haben schien, die bisher verborgen geblieben war; dass der Mann mit einer weiteren Enthüllung rechnete. Er schob diesen Gedanken für den Augenblick beiseite und redete währenddessen gedehnt weiter.

„Wenn Bull und Sommers beschließen, sich gegen dich zu verbünden, haben sie die Oberhand. Hier sind neun Mann. Zehn, mich mitgezählt. Aber die Lazy JT und die Reiter von Sommers kommen zusammen auf ungefähr sechzehn Kanonen.“

„Glaubst du etwa, da wäre ich nicht drauf gekommen?“ sagte Hardesty. Sofort war er in missmutiger Stimmung.

Yeah? Und warum bist du darauf gekommen? Was ist es, was die gegen dich verbindet?“ 

Aber Hardesty gab keine Antwort. Er drehte sich weg, unruhig und sorgenvoll. Einer seiner Männer schleppte einen weiteren Holzklotz aus der Küche und wuchtete ihn ins Feuer. Die Unruhe des Vormanns schien sich auf die anderen zu übertragen, denn es kam zu einer kleinen Auseinandersetzung wegen der Pferde, und bald verließen fünf Männer die Eingangshalle und machten sich auf den Weg zum Stall.

***

Darrahs Gedanken kreisten weiter, unaufhörlich beschäftigt mit diesem Gewirr aus Tatsachen, Vermutungen und Verdächtigungen. Bequem auf seinem Stuhl ausgestreckt, entspannte ihn die Wärme, und das Nachdenken fiel ihm schwerer. Plötzlich richtete er sich unvermittelt auf und erkannte, dass er eingeschlafen war. Als er auf seine Uhr schaute, stellte er fest, dass es schon nach vier Uhr war. Die Fenster waren schwarz, und der Wind peitschte mit einem immer lauter werdenden Tosen und Krachen gegen die Dachtraufen des Gebäudes. Etwas beschämt über sich selbst ging er in die Küche, fand einen Eimer und trug ihn zurück in die Eingangshalle, wo er unten ​​aus dem Kaminfeuer ein halbes Dutzend loser Steine zusammenkratzte. Im Eimer sorgten sie für eine ordentliche Wärme; und mit seinem behelfsmäßigen Ofen ging er die Treppe hinauf. Hardestys Ruf ließ nicht lange auf sich warten.

„Heh — wo willst du hin?“

„Wenn du Angst hast, dass ich etwas höre, was ich nicht hören sollte, dann komm’ mit“, brummte Darrah. 

Hardesty ging auf die Treppe zu, aber einen Moment später änderte er seine Meinung, und er ging zurück. Barsch sagte er: „Ach, lass’ gut sein.“ Darrah ging weiter nach oben, schlenderte den Korridor entlang und klopfte leise an die Tür. Er hörte, wie die junge Frau mit sehr leiser und zittriger Stimme „Herein“ sagte. Als er eintrat, hatte er Schwierigkeiten, sie zu entdecken — so dunkel war das Zimmer. Und es war bitterkalt, schneidende Windböen durchdrangen die verzogenen Bretter. Mit Decken um ihre Schultern kam sie auf ihn zu. „Wer ist da?“ 

„Ich bin’s“, sagte Darrah. „Setzen Sie sich auf den Stuhl.“

„Ich glaube nicht, dass ich das hier noch viel länger aushalte“, sagte das Mädchen.

„Das müssen Sie auch nicht“, versprach Darrah. „Setzen Sie sich hin. Jetzt stellen Sie Ihre Füße neben den Eimer hier. Die Decke drüber. Dann bleibt die Wärme drinnen.“

Er trat zurück, während die junge Frau sich einrichtete; und er hörte sie vor Erleichterung seufzen — was ihn noch mehr beschämte. „Ich hatte vergessen“, flüsterte sie, „dass Männer aufmerksam sein können. Vielen Dank, Darrah.“

„Männer sind nicht so gut, wie sie sein sollten“, sagte Darrah. „Deshalb sind Sie hier.“

„Woher wissen Sie das?“

Darrah sagte sanft: „Ich weiß gar nichts. Aber ich kann eins und eins zusammenzählen.“

„Wollen Sie wissen, was es mit diesem Handschuh auf sich hat?“

„Nein.“

„Sie sind der erste Mann“, sagte sie ziemlich verbittert, „der nicht darauf aus war, mich auszunutzen. Jeder andere würde mir diesen Handschuh wie eine Keule vor die Nase halten.“

„Sie müssen nicht antworten, wenn Sie es lieber nicht möchten. Sie haben Ihre Hütte allein und überhastet verlassen — weil Sie Angst hatten?“

„Ja.“

„Ein Mann kam vorbei – und Sie mussten vor ihm weglaufen?“

„Ja“, antwortete das Mädchen kaum hörbar.

„War das Lewes DeSpain?“

Sie antwortete nicht direkt, aber er sah, wie sie langsam ihren Kopf senkte. Darrah sagte voller Abscheu: „Lewes DeSpain war dafür bekannt. Hatte er Sie schon früher belästigt?“ 

„Einmal. Ich hab’ ihn mit einer Waffe verjagt. Diesmal hatte ich die Waffe nicht zur Hand. Aber mein Pferd stand gesattelt im Schuppen — also habe ich mich befreit und bin weggeritten. Er — er ist mir ein Stück gefolgt, aber inzwischen war der Sturm so schlimm, dass er mich nach hundert Metern aus den Augen verloren hat. Da waren wir nun und irrten im Sturm umher. Dann —“

„Nein – keine Sorge“, unterbrach Darrah sie. „Sie haben ihn nicht umgebracht.“

Jetzt lernte er eine andere Seite der jungen Frau kennen. Sie straffte sich auf dem Stuhl und sagte schnell und energisch: „Ich hätte es vielleicht getan, Darrah! Ich bin fähig, so einen Mann zu töten! Ich bin Leuten wie ihm schon früher begegnet, und ich hasse sie!“

Darrah schlug einen anderen Weg ein. „Jedenfalls haben Sie es nach Sumpter geschafft. Sie waren als Erste hier. Dann kam der Circle-Arrow-Haufen, und Lonzo Hardesty hat Sie gefunden. Wusste er von der Sache?“

„Nein. Wenigstens habe ich ihm nichts gesagt.“ 

Darrah richtete sich auf. „Weshalb hat er Sie dann versteckt, als die JT aufkreuzte?“

„Er sagte, er hätte Angst, dass die JT-Männer mich sehen könnten. Er sagte, es wären raue Kerle.“

Aber Darrah, der in die Dunkelheit starrte, schüttelte den Kopf, als ihm ein anderer Gedanke kam. Es war seltsam, dass Hardesty das Mädchen allein unter diesem Vorwand verstecken sollte. Das schien nicht Grund genug zu sein. Es schien nur ein oberflächlicher Vorwand zu sein, um eine tieferliegende Sorge zu verbergen. „Er kennt Sie ziemlich gut — er hat Sie schon oft getroffen?“

„Ja.“

„Tatsächlich ist der Mann in Sie verliebt.“

„Ja.“

Darrah hielt inne und fuhr dann langsam und leise fort. „Sie müssen nicht antworten, wenn es für Sie aufdringlich klingt. Sind Sie —?“ 

„Nein!“ sagte das Mädchen mit Nachdruck. „Ich empfinde überhaupt nichts in dieser Art für ihn! Ich weiß, dass er Ihr Freund ist — das hat er mir gesagt. Aber — wenn Sie nach unten gehen — sehen Sie ihn sich genauer an. Sehen Sie sich seine Augen an.“

„Das werde ich tun“, sagte Darrah. 

„Kommen Sie her“, sagte die junge Frau. Und als Darrah zu ihr ging, nahm sie seine Hand und hielt sie einen Moment lang fest. „Ich habe von verschiedenen Leuten so viel über Sie gehört, dass ich dachte, ich würde Sie nicht mögen. Sie schienen zu sehr von sich überzeugt zu sein — Sie haben sich auf Kämpfe eingelassen und sind aus ihnen herausgekommen, als hätten Sie nie an Ihrer Stärke gezweifelt. Ich glaube, ich habe alle Männer gehasst, Darrah — aus gutem Grund. Aber — aber bei Ihnen empfinde ich das jetzt nicht mehr so. Andere Leute haben Sie um Hilfe gebeten. Das tue ich jetzt auch. Eines Tages, wenn das hier vorbei ist, werde ich versuchen, mich erkenntlich zu zeigen.“

„Ich werde mich öfter bei Ihnen in der Gegend blicken lassen“, sagte Darrah gedehnt und ging hinaus. Als er in die Eingangshalle hinunterging, stand die gesamte Circle-Arrow-Mannschaft am Kaminfeuer und beobachtete ihn mit unverhohlener Aufmerksamkeit. Hardestys Gesichtszüge waren ausdruckslos, um ganz bewusst keine Gefühlsregung zu zeigen. Aber Darrah dachte an die Mahnung des Mädchens, und er sah sich Hardestys Augen an. Er sah, dass in ihnen eine gewisse Erwartung lag. Der Mann machte sich auf Ärger gefasst, auf schlechte Nachrichten, auf etwas, das, wie er glaubte, ans Tageslicht kommen würde.

„Sie war schon fast erfroren“, sagte Darrah knapp. „Warum, verflixt, hast du nicht daran gedacht?“

Hardesty zuckte mit den Schultern und schien erleichtert zu sein. Darrah ging in Richtung Küche und rief über die Schulter. „Komm ’mal kurz her, Lonzo.“ Und als Hardesty ihm durch die Tür folgte und Darrah allein gegenüberstand, war er offensichtlich wieder auf der Hut und gespannt wie eine Geigensaite.

„Du hast dich in sie verknallt, oder nicht?“ erkundigte sich Darrah. 

„Das geht dich verdammt noch mal nichts an!“ fuhr Hardesty ihn mit finsterem Blick an. „Ich hab’ dir doch gesagt: Hör’ auf zu schüffeln, Tom. Wenn nicht, dann —“

„Dann?“

Hardesty zeigte mit dem Finger auf ihn und stieß ihn bei jedem einzelnen Wort von oben nach unten. „Ich habe mich um diese Angelegenheit gekümmert und werde es auch weiterhin tun. Halt’ dich da ’raus. Du kannst es dir nicht leisten, dich einzumischen. Verstehst du, was ich meine? Im Vergleich zu Bull, Sommers und mir bist du ein ganz kleiner Fisch. Wenn du zu neugierig wirst, tun wir uns vielleicht zusammen und schieben dir die Schuld in die Schuhe. Vergiss das bloß nicht.“

„Aha?“ sagte Darrah tonlos. „Das verändert die Sache noch einmal.“

„Inwiefern?“ fragte Hardesty — wachsam, hart, drängend.

„Ist egal.“

Hardesty wollte etwas sagen. Aber die Tür zur Eingangshalle ging auf und ließ die Windstöße und das Heulen des Sturms herein. Dann schlug sie zu, und Männer stampften über den Fußboden zum Kaminfeuer. Hardesty und Darrah verließen die Küche — und sahen, dass sie von Nig Sommers und Eric Bull erwartet wurden. In diesem Moment erkannte Darrah, dass sich die Lage verändert hatte — zum Schlechteren. So klar, als hätten sie es verkündet, sah Darrah, dass sie eine Vereinbarung miteinander getroffen hatten und nun im Begriff waren, diese in die Tat umzusetzen.

Eric Bull schob sein Kinn vor und sagte: „Kommen wir zur Sache.“ 


III.

Wieder war es Lonzo Hardesty, der sich widerspenstig zeigte. Er sagte gereizt: „Ich dachte, wir waren uns einig, dass wir uns nach dem Essen treffen.“

„Du zögerst es nur hinaus“, warf Bull ihm vor.

„Wir werden nicht weiter kommen als bisher“, brummte Hardesty. „Ich sage euch — wir würden verdammt gut daran tun, wenn wir uns einig wären, Stillschweigen über die Sache zu bewahren, und alles auf sich beruhen lassen würden. Wenn wir nichts sagen, wird der Sheriff nichts ’rauskriegen.“

Bull schüttelte den Kopf. „Das geht nicht. Ich lasse mir diesen Mord nicht anhängen. Ich will, dass der richtige Mann dafür zur Rechengeschaft gezogen wird.“

Die schwarzen, faltigen Wangen von Nig Sommers zeigten eine mürrische Belustigung. „Angenommen, wir würden uns darauf einigen, nichts zu sagen. Das würde nicht lange halten. Irgendeiner würde sich verplappern.“

„Wenn einer, dann am Ehesten du“, blaffte Hardesty.

„Wer sonst“, stimmte Sommers mit äußerstem Zynismus zu.

„Also gut“, sagte Hardesty, „gehen wir es nochmal durch.“

Darrah stand untätig und wachsam da und erkannte, dass Bull und Sommers sich auf ein gemeinsames Vorgehen verständigt hatten. Bull warf dem Outlaw einen kurzen Blick zu und baute sich dann vor Hardesty auf. „Wo genau du warst, als der Mord passiert ist — das ist uns noch nicht ganz klar.“

Darrah rechnete fest damit, dass Lonzo Hardesty aus der Haut fahren und eine Szene machen würde. Überraschenderweise tat Hardesty das nicht. Er erwiderte Eric Bulls Blick und holte tief Luft. „Ich hab’s dir schon erzählt. Wir haben am Fuß von dem niedrigen Bergrücken gearbeitet. Ich hab’ den Schneesturm aufziehen gesehen und beschlossen, die Mannschaft aufzuteilen, damit wir den Wald durchkämmen und soviel verstreutes Vieh, wie wir finden konnten, ’rüber nach Medill’s Pocket treiben konnten, wo wir dreißig Tonnen Wiesenheu aufgestapelt haben. Ich selbst hab’ den Küchenwagen genommen und bin über das Flachland am Rand von dem Bergrücken langgefahren. Hatte vor, den Wagen hier in Sumpter zu lassen und zurück nach Pocket zu reiten. Hab’ ich auch gemacht. Aber bevor ich Medill’s Pocket erreichen konnte, ist der Blizzard losgebrochen. Ich hatte alle Hände voll zu tun, die Männer zusammenzukriegen. Wir sind hierher gekommen. Das ist alles.“ 

„Alles?“ brummte Bull.

„N-nein, nicht ganz“, berichtigte sich Hardesty. „Ich war alleine da draußen, in Windrichtung von der einzelnen Kiefer, als ich den Schuss gehört hab’. Ich dachte, es wäre einer der Männer, der ein Signal gab, also hab’ ich geantwortet. Hab’ mich umgesehen und konnte kein verdammtes Ding erkennen, das mehr als fünfzig Fuß weg war. Also bin ich zum Wald, hab’ die Männer eingesammelt und hab’ mich nicht mehr um den Schuss gekümmert. Mehr weiß ich nicht.“ 

„Aber du warst allein, als du den Schuss gehört hast“, betonte Eric Bull. „Das gibst du zu. Du warst keine hundert Meter von Lewes DeSpain entfernt, als er getötet wurde.“

„Ja, und?“ sagte Hardesty. „Ich habe meine Karten auf den Tisch gelegt. Ich hab’ damit nichts zu tun.“ 

Darrah mischte sich ein und sprach Bull an. „Wenn wir jetzt gerade beim Thema sind: Wo warst du?“

Eric Bull antwortete bereitwillig, als wäre seine Geschichte über jeden Zweifel erhaben. „Die JT-Mannschaft war zufällig auf dem zweiten Bergrücken und Richtung Süden unterwegs. Lewes DeSpain hat sich von uns getrennt und gesagt, er würde uns im Diamond Bar Gulley treffen.“

„Wo wollte er hin?“ fragte Darrah. 

Eric Bull zögerte einen Moment und starrte Darrah an. „Er ist zur Hütte von diesem Goodridge-Mädchen. Oder wenigstens hat er gesagt, dass er dahin wollte. Als wir beim Treffpunkt ankamen, war nichts von ihm zu sehen. Zu der Zeit hat es wie verrückt geschneit. Also sind wir über das Flachland zurück zur Hütte von dem Mädchen geritten. War keiner da. Sind wir wieder umgekehrt und praktisch durch Zufall auf DeSpain gestoßen. Er lag im Schnee und hatte vor nicht mehr als zehn Minuten aufgehört zu atmen.“

„Habt ihr den Schuss gehört?“ fragte Darrah.

„Bei dem ganzen Wind? Nein.“

„Aber ihr wart nahe genug an der Stelle, dass ihr ihn gefunden habt“, sagte Darrah.

„Wie ich schon sagte, das war reiner Zufall“, brummte Bull.

„Ein von der Zeit her ziemlich gut passender Zufall, oder?“ sagte Darrah unbeirrt.

„Das bedeutet gar nichts“, entgegnete Bull. „Bis auf eine Viertelstunde war ich die ganze Zeit mit meiner Truppe zusammen.“ 

„In fünfzehn Minuten kann eine Menge passieren“, gab Darrah zu bedenken. „Und es ist allgemein bekannt, dass DeSpain dich vor drei Wochen in Arrowhead als einen Gentleman ohne legitimen Vater bezeichnet hat.“

Das saß. Es traf den stämmigen, streitlustigen Eric Bull härter, als Darrah es sich vorgestellt hatte. Bull schoss das Blut ins Gesicht, und seine grünlich-blauen Augen sprühten Feuer. Er hob einen seiner kräftigen Arme, schüttelte ihn drohend in Darrahs Richtung und schrie: „Ich will nicht, dass das wiederholt wird. Ich hab’ ihn damit durchkommen lassen, weil er betrunken war. Er hat sich später entschuldigt, und ich hab’ seine Entschuldigung angenommen. Bei Gott, Darrah, wehe, wenn ich diese Bemerkung nochmal von dir höre!“ 

„Aber es tut immer noch weh, oder?“ sagte Darrah leise. „Du hast diese Erniedrigung nicht vergessen.“

„Wenn er nüchtern gewesen wäre, hätte ich ihn umgebracht!“ rief Bull.

„Wenn das so ist. Er war nüchtern, als er starb, Eric. Und in einem Wetter, wo die Luft so dick war, dass man sie mit einem Messer hätte schneiden können, war es nicht sehr gefährlich, eine Sache, die an einem nagt, zu Ende zu bringen.“

Bull wurde plötzlich klar, dass er zu viel gesagt hatte, und er schloss seinen Mund so schnell, dass seine Zähne hörbar aneinanderstießen. Finster starrte er Darrah an. Für einen kurzen Moment herrschte eine unbehagliche Stille im Raum, bis sie von der resonanzlosen Stimme von Nig Sommers durchbrochen wurde. „Wenn einer sofort beschuldigt wird, es getan zu haben, dann bin ich das“, sagte er. „Aber das hat weder Hand noch Fuß. Ich war zwei oder drei Meilen entfernt und hab’ meine Jungs nach Sumpter gebracht, weil ich wusste, dass das Wetter ziemlich schlecht werden würde. Ich hab’ damit überhaupt nichts zu tun.“

„Das hier ist nicht dein Revier“, bemerkte Darrah plötzlich. „Was hast du überhaupt auf dieser Seite der Bergrücken gemacht?“

„Das ist meine Sache“, brummte Sommers.

Darrah wandte sich wieder zu Eric Bull. „Das hier ist übrigens auch nicht dein Gebiet. In der Nähe des Circle-Arrow-Landes stehen nirgendwo DeSpain-Rinder. Was hast du in dieser Ecke gemacht?“

Eric Bull wollte etwas sagen, aber er verkniff es sich und presste seine Lippen zusammen. Es schien Darrah, dass diesem kräftig gebauten Mann in der Befragung eine unerwartete Wendung aufgefallen war und er jetzt darüber rätselte, wie sich alles zusammenfügte. Bull warf Nig Sommers einen kurzen, verstohlenen Blick zu, der sofort wegsah. Eindeutig war eine Nachricht durch den Raum gesendet worden — und hatte keinen willigen Empfänger gefunden. Währenddessen wurde der Gesichtsausdruck von Hardesty, der sich im Hintergrund hielt und zusah, immer sorgenvoller. Darrahs Gedanken ergriffen gierig einen neuen Gedanken. Er war auf etwas gestoßen.

„Wir haben geglaubt, hier wären ein paar entlaufene DeSpain-Rinder“, erklärte Bull schließlich.

Schnell richtete Darrah eine blechern klingende Frage an Nig Sommers. „Sommers, hast du dich mit der DeSpain-Mannschaft oben auf dem Bergrücken getroffen, schon bevor der Sturm losging?“

„Nein“, sagte der Outlaw sofort.

Doch Eric Bull hob warnend eine Hand. „Nig, wir müssen bei der Wahrheit bleiben. Irgendeiner von meinen Leuten oder einer von deinen Leuten wird sich verplappern. Sicher, wir haben uns getroffen. Aber was spielt das für eine Rolle, Darrah?“

„Noch ein merkürdiger Zufall“, sagte Darrah gedehnt. „Eure beiden Trupps kommen ungefähr zur selben Zeit in dieselbe Gegend. Das könnte zu ein paar nicht so freundlichen Kommentaren führen. Man könnte sogar auf die Idee kommen, dass die Herren DeSpain und Sommers sich darauf verständigt hätten, die Weideflächen der Circle Arrow nach ein paar Circle-Arrow-Rindern zu durchkämmen.“

In Nig Sommers’ wachsame Augen trat ein Glitzern, und unbewusst hatte er seinen Oberkörper nach vorne gestreckt, bis sein ganzes Gewicht auf seinen Fußballen ruhte. Seine langen Arme hingen regungslos herab, fast starr; und nicht für einen Augenblick wandte er seine Aufmerksamkeit von Darrah ab. Aber seltsamerweise nahm Bull Darrahs Unterstellung gleichgültig hin. Er zuckte mit seinen breiten Schultern. „Was hat das mit dem Mord an Lewes DeSpain zu tun? Wenn überhaupt, dann ist Nig damit ’raus dem Fall. Oder, Nig?“ 

Sommers runzelte die Stirn und entspannte sich ein wenig. Und ohne große Überzeugung murmelte er: „Yeah“. Nichts hätte für Darrah in diesem Moment klarer sein können, als dass Bulls Erklärung dazu gedacht war, Sommers zu beruhigen und ihn davon abzuhalten, etwas Unüberlegtes zu tun.

„Bei Licht betrachtet“, sagte Bull ironisch, „würde uns diese Spur sogar direkt vor Lonzo Hardestys Haustür führen. Man könnte sagen, er hätte DeSpain beim Viehdiebstahl erwischt und ihn an Ort und Stelle umgelegt.“

„Und mit Recht“, sagte Darrah. „Keine Jury im Westen würde ihn dafür schuldig sprechen.“

„Darum geht es mir sowieso nicht“, erwiderte Bull. „Ich will nur den Verdacht loswerden, dass ich es gewesen sein soll.“

„Das hilft mir, oder?“ sagte Lonzo Hardesty zu Darrah. Er warf die Worte missmutig in den Raum.

„Eine gerechtfertigte Tötung — das ist die saubere Lösung“, sinnierte Bull. „Verstehst du das, Lonzo?“

„Was versuchst du da?“ knurrte Hardesty. „Mir die ganze Sauerei in die Schuhe zu schieben? Kommt überhaupt nicht in Frage! Auf diesen Kniff mit ‚gerechtfertigt‘ fall’ ich auch nicht eine Sekunde ’rein!“

Darrah wandte sich von ihnen ab, ging an dem Haufen angespannter Circle-Arrow-Männer vorbei und stellte sich vor das Kaminfeuer. Er holte seinen Tabak heraus und drehte sich tief konzentriert eine Zigarette. Diese Sache wurde immer undurchsichtiger. Am Anfang hatte es nach dem Mädchen ausgesehen. Danach hatte Hardesty mit seinem eigenen Verhalten einen Hinweis gegeben, dass er an dem Mord beteiligt war, denn es war klar, dass er die junge Frau so sehr begehrte, dass er jeden Mann töten würde, der sie belästigte. Aber das, was sich gerade abgespielt hatte, hatte diese logische Erklärung verkompliziert. Sommers und Bull hatten jeder für sich einen triftigen Grund, Lewes DeSpain aus dem Weg räumen zu wollen — doch diese beiden Männer arbeiteten nun zweifellos zusammen, zu irgendeinem gemeinsamen Zweck. Und Lewes DeSpain hatte beiden vertraut. Seine Überlegungen führten Darrah wieder zurück zu Hardesty — unter der völlig anderen Annahme, dass Hardesty DeSpain beim Diebstahl von Circle-Arrow-Rindern erwischt hatte.

Er beugte sich zum Feuer, nahm einen brennenden Holzsplitter und dachte kühl: Das kann es nicht sein. Hardesty hätte keine Angst, sich deswegen vor einer Jury zu verantworten. Und Angst hat er vor irgendetwas. Außerdem scheint Bull im Moment ihm gegenüber im Vorteil zu sein. Warum?

Er wedelte mit dem brennenden Splitter über die Spitze seiner Zigarette und hörte, wie Bull plötzlich sagte: „Es gibt noch eine bessere Lösung, Jungs.“ Und als er sich umdrehte, sah er, dass Bull auf ihn zeigte. Sommers grinste verschlagen und nickte.

„Ich?“ sagte Darrah gedehnt.

„Du“, sagte Bull.

Hardesty sah sich im ganzen Raum um, er blickte zu Bull, zu Sommers, zur Circle-Arrow-Mannschaft — und schließlich zu Darrah. Er holte Luft, sein Gesichtsausdruck veränderte sich völlig. „Also gut. Das ist die Lösung.“

„Also habe ich DeSpain getötet?“ brummte Darrah.

„Du bist ihm zur richtigen Zeit über den Weg gelaufen“, sagte Bull. „Du hast keine Zeugen dafür, wo du warst.“ 

„Das würde keiner glauben“, antwortete Darrah ruhig. „Natürlich weißt du, dass es eine offensichtliche Lügengeschichte ist.“

„Man wird es glauben, wenn wir alle gegen dich aussagen“, stieß Bull aus. „Und das werden wir!“

„Moment ’mal“, meldete sich einer der Circle-Arrow-Männer. „Ich bin mir nicht so sicher —“

„Schnauze!“ blaffte Bull. „Ihr Männer werdet tun, was man euch sagt! Kommt bloß nicht auf dumme Gedanken. Wenn doch, gibt es in den Hügeln genug Löcher, um euch darin zu begraben.“

Darrah sah Hardesty an. „Du würdest bei diesem Komplott tatsächlich mitmachen?“

„Es ist kein Komplott“, beharrte Hardesty. Anschließend wich er Darrahs Blick aus und starrte in eine andere Richtung.

Darrah nahm einen langen Zug und füllte seine Lungen mit Rauch. In seinem Kopf hatte er endlich die Antwort auf die entscheidende Frage. Es waren nicht nur Bull und Sommers. Es waren Bull, Sommers und Hardesty. Irgendwie hatte DeSpain nicht in ihren Plan gepasst. Er wollte sich umdrehen und etwas sagen. Aber bevor er dazu kam, ertönte deutlich vernehmbar eine Stimme von der Treppe herab.

„Das ist gelogen. Darrah hat DeSpain nicht erschossen. Ich weiß, wer es getan hat. Ich hab’ gesehen, wie es passiert ist!“

Alle Männer im Raum schreckten zusammen und wirbelten herum. Als Darrah aufblickte, sah er, wie das Mädchen langsam die Treppe herunterkam und sich am Fuß der Stufen vor die Männer stellte. Plötzlich wurde die Stille schwer und drückend.

IV.

Es war seltsam. In dem Raum voller Falschheit war es ausgerechnet Nig Sommers, der als Erster sprach. Darrah sah, wie er sich straffte, sah, wie echte Erleichterung über sein dunkles, misstrauisches Antlitz huschte; sah sogar einen Hauch von einem Grinsen auf seinen dünnen Lippen.

„Wer war’s?“ rief Sommers.

Aber kaum hatte er es ausgesprochen, als Hardesty mit erhobenem Arm auf das Mädchen zuging; und im selben Moment sagte Eric Bull scharf: „Moment ’mal! Halt, warten Sie! Ich will wissen, wie Sie —“

„Keine Sorge“, sagte das Mädchen, vollkommen ruhig und voller Selbstbewusstsein. „Ich werde sagen, wer es war, wenn der Sheriff kommt.“

Vor Darrahs aufmerksamen Augen verlor Eric Bull seine Fassung. „Hardesty!“ schrie der JT-Vormann. „Hardesty, du hast diesen Trick die ganze Zeit in der Hinterhand gehabt!“

Hardesty blieb stehen und drehte sich zu Bull um. Ihm war seine offensichtliche Verwirrung anzusehen. Er murmelte: „Wovon zum Teufel redest du da?“

Aber Eric Bull, vom Hals bis zu den Schläfen hochrot angelaufen, schritt rückwärts durch den Raum in Richtung der Tür zur Eingangshalle. „Damit kommst du nicht durch!“ schrie er. „Bei Gott, nie und nimmer!“ Und mit dieser Ankündigung, die im ganzen Raum nachhallte, verschwand er auf die vom Sturm gepeitschte Straße. Das Zuschlagen der Tür riss Nig Sommers aus seinen langen Überlegungen. Er sah sich halb erschrocken um; und dann folgte er Eric Bull so schnell, wie seine langen Beine es ihm ermöglichten.

Darrah ging vom Feuer weg, von einem Augenblick auf den anderen in Alarmbereitschaft. „Gehen Sie zurück“, sagte er zu der jungen Frau. „Gehen Sie wieder nach oben. In fünf Minuten wird dieser Raum voller Pulverrauch sein.“

Sie zögerte, aber er schüttelte so entschieden den Kopf, dass sie sich schließlich umdrehte, nach oben rannte und aus dem Blickfeld verschwand. Darrah schwenkte herum und zeigte auf den Mann aus der Circle-Arrow-Truppe, der während des gerade abgelaufenen Geschehens als Einziger so etwas wie Protest erhoben hatte. „Du — ich möchte, dass du zum Treppenabsatz da oben gehst und dafür sorgst, dass keiner an sie ’rankommt. Verstanden? Keiner.“

„Wird erledigt“, sagte der Bursche und ging zur Treppe.

Unterdessen hatte Hardesty sich weder bewegt noch etwas gesagt. Darrah dachte, er hätte noch nie ein Gesicht gesehen, das so voller Sorge, Unsicherheit und Angst war. Aber jetzt war keine Zeit mehr zu verlieren, und er gab dem Circle-Arrow-Vormann und seiner Truppe glasklare Befehle. „Löscht die Lampen. Geht weg vom Feuer. Verteilt euch. Ihr werdet gleich beide Mannschaften am Hals haben.“

„Aber ich verstehe nicht —“, murmelte Hardesty. „Ich verstehe nicht, weshalb Eric so außer sich ist —“

Darrah beachtete ihn nicht und gab dem Rest der Mannschaft Handzeichen; und als diese Männer sich in Bewegung setzten, sich an den Wänden verteilten und die Lampen herunterdrehten, wusste er, dass seine lang gehegten Zweifel an ihnen unbegründet waren. Sie waren ehrlich. Welche Rolle Hardesty auch spielen mochte — sie selbst waren ehrlich. Ungemein erleichtert lief er in eine Ecke des Raumes, schnappte sich ein dort stehendes Gewehr und stürzte zur Eingangstür. Als er sie öffnete, schlug ihm der Wind heftig entgegen, und er musste sich breitbeinig hinstellen und sich auf die Veranda vorarbeiten. Er blickte in das dichte Schneegestöber zum östlichen Ende des Lagers hin und sah dort drüben Lichter aus den Fenstern des Saloons schimmern. In diesem Moment kam eine Reihe von Männern aus der weiter entfernten Dunkelheit und betrat den Saloon; und er glaubte Nig Sommers’ eckigen  Körper an der Spitze der Gruppe zu erkennen. Er stürzte sich bis zu den Achselhöhlen in die Schneewehen, kämpfte sich mühsam über die Straße und betrat den Stall. Dort drehte er sich um und bezog Stellung.

In diesem seltsamen Spiel stand der letzte Zug kurz bevor — das ungewisse Ende deutete sich düster an. Darrah wartete dort in der fast unerträglichen Kälte mit disziplinierter Geduld und wusste, dass Sommers und Bull die Circle Arrow nur aus einem einzigen Grund angreifen würden: um Lonzo Hardesty auszuschalten. So klar, als stünde es geschrieben, erkannte Darrah, dass es sich um ein Zerwürfnis zwischen Dieben handelte, die es nicht wagten, sich gegenseitig zu vertrauen — der uralte und unvermeidliche Argwohn unter Gesetzlosen. Und als eine ungeordnete Reihe von Männern aus dem Saloon kam und sich vornüber geduckt in Richtung des Hotels wandte, hob Darrah das Gewehr und legte mit der klaren Erkenntnis an, dass er nicht für Lonzo Hardesty kämpfte, sondern für das Mädchen, für die ehrliche Circle-Arrow-Mannschaft und für sich selbst. Das Echo seines ersten Schusss hallte entlang des Gewehrlaufs zurück, traf ihn im Gesicht und wurde vom wirbelnden Schneesturm davongetragen. So schlecht die Sichtverhältnisse auch waren, sah er doch, wie einer aus der vorrückenden Gruppe zur Seite taumelte, sich drehte und am Saloongebäude Halt zu finden versuchte.

Noch hatten sie ihn nicht entdeckt, und er platzierte mit grimmiger, unerbittlicher Entschlossenheit zwei weitere Kugeln. Sie kannten keine Gnade — und verdienten auch keine. Ein Mann stürzte. Die anderen wichen zurück und drückten sich flach gegen die Wand des Gebäudes. Dann hatten sie ausfindig gemacht. Eine dumpfe Gewehrsalve flog vom Wind getragen an ihm vorbei, und eine Kugel schlug zufällig über seinem Kopf im Stall ein. Er antwortete kühl und schwenkte das Gewehr hin und her. Ein krächzender Aufschrei jagte vorbei. Die Gruppe löste sich auf, zog sich zurück, verlor ihre Form und Geschlossenheit. Die Saloontür öffnete sich, und in dieses Rechteck aus Licht platzierte er seinen letzten Schuss, als die Männer sich hindurchdrängten. 

Doch einer aus der Gruppe — wieder dachte er, dass es Nig Sommers war — blieb in Sichtweite, feuerte wahllos mit seinem Revolver und schüttelte die Faust seiner anderen Hand. Ungefähr zur selben Zeit pflügte eine weitere Gestalt aus einem dunklen Winkel des Lagers durch die Schneewehen, passierte Sommers und verschwand in einer Gasse neben dem Hotel. Sommers machte sofort kehrt und begab sich in die Deckung des Saloons. 

Dieser Teil war vorüber. Darrah wunderte sich darüber, dass der Kampf diese Wendung genommen hatte. Er ließ sein leeres Gewehr fallen und zog seinen Revolver. Er bahnte sich einen Weg zurück über die Straße, erreichte die Wand des Hotels und arbeitete sich vorsichtig bis zur Einmündung der Gasse vor. In diesem schwarz verschleierten Streifen konnte er nichts erkennen. Halb entschlossen in ihn hineinzugehen, hörte er plötzlich das Krachen und den Nachhall von Schüssen in der Eingangshalle des Hotels. Ein Durcheinander von Rufen und Flüchen durchdrang das Heulen des Windes von der Straße, und dann, so plötzlich, wie das Getöse aufgekommen war, verstummte es auch wieder. Darrah zog sich aus der Gasse zurück und richtete seinen Blick abwechselnd auf den Saloon und die Hotelveranda. Er hörte ein schwaches Geräusch und wirbelte herum. Auf der anderen Seite der Veranda erschien eine kleine, stämmige Gestalt und kam auf ihn zu.

Der Mann sah ihn ebenfalls und stellte sich mit einem Satz an die Wand des Hotels. Er sprach Darrah an. „Wer ist da?“ Und Darrah, dessen Füße in den hüfthohen Schneewehen feststeckten, erkannte die Stimme von Eric Bull. Da ihm bereits bewusst war, was nun kommen würde, rief Darrah mit Nachdruck: „Die Waffe runter, Bull —“

Aber Eric Bull schien ihn beim ersten Laut zu erkennen, und er drehte sich wieder zur Seite und lief direkt auf ihn zu, seine Waffe hob sich und spie Feuer. Der purpurrote Mündungsblitz flammte vor Darrahs Gesicht auf und erlosch; und flammte erneut auf. Der breite, gedrungene Körper des JT-Vormanns sprang auf ihn zu, als Darrah, der nicht ausweichen konnte, ohne Erbarmen seine eigene Waffe ausrichtete und auf das nicht zu verfehlende Ziel feuerte. Er hörte Bull stöhnen. Der wildentschlossene Ansturm trug Bull noch weitere fünf Meter vorwärts, und als er stürzte, geschah es unmittelbar vor Darrahs Füßen.

Der Mann war tot. Das wusste Darrah, ohne hinzusehen. Währenddessen waren hinter ihm Rufe zu hören, und als er sich umdrehte, sah er, wie wieder Licht aus der Tür des Saloons fiel. Ein langgezogener Ruf trug Bulls Namen unermüdlich durch den Sturm; und gleich danach hörte Darrah, wie jemand an eines der Fenster zur Eingangshalle klopfte. Angesichts seiner kniffligen Lage lief Darrah auf der Veranda zur Hoteltür, hämmerte dagegen und rief seinen eigenen Namen. Die Tür öffnete sich vor seiner Nase. Ein Arm streckte sich ihm entgegen, packte ihn und einer der Circle-Arrow-Männer, dessen Umriss sich scharf gegen den Feuerschein abzeichnete, sagte: „Komm’ ’rein, Tom!“

***

Darrah sprang hinein in das Innere und blieb stehen, als sein Blick auf eine Gestalt fiel, die der Länge nach ausgestreckt neben den im Kamin lodernden Flammen auf dem Fußboden lag. Der Circle-Arrow-Mann murmelte knapp: „Es ist Lonzo. Er verliert das Bewusstsein. Jemand hat durch ein Seitenfenster geschossen und ihn getroffen.“

„Geh’ auf die Veranda“, ordnete Darrah an, „und halt’ die Augen offen.“ Dann durchquerte er den Raum und beugte sich über Lonzo Hardesty, dessen halb geschlossene Augen voller Bitterkeit und Bedauern nach oben starrten. Die Worte des Circle-Arrow-Vormanns waren mühsam und schroff.

„Bull hat mich erwischt! Er hat gesagt, dass er es tun würde — und er hat’s getan. Schnapp’ dir diesen Hund, Tom! Für mich!“

„Er liegt vor der Veranda“, sagte Darrah langsam. „Tot.“

„Gut!“ rief Hardesty, und es schien, als schöpfte er Kraft aus einer noch nicht angezapften Energiereserve. Seine Augen weiteten sich; er sprach mit mehr Nachdruck. „Es tut mir leid, dass ich dabei mitgemacht habe, dir die Sache anzuhängen. Gott weiß, dass ich eine Menge auf dem Gewissen habe — aber ich stand mit dem Rücken zur Wand und habe keinen anderen Ausweg gesehen. Ich geb’s zu, Tom. Ich habe Lewes DeSpain umgebracht.“ 

„Wegen dem Mädchen, Lonzo?“ fragte Darrah.

„Ich will nicht lügen“, murmelte Hardesty. „Es war nur teilweise ihretwegen. Die Wahrheit ist, DeSpain hat sich mit Sommers zusammengetan, um die Circle Arrow zu bestehlen. Vor ein paar Wochen habe ich DeSpain getroffen und mit ihm vereinbart, dass ich bei der Sache mitmache. Diese Jungs“ — er zeigte auf die Circle-Arrow-Männer, die um ihn herum standen — „haben nichts davon gewusst. Sie haben nicht gewusst, dass ich vorhatte, die Rinder zu den Bergrücken zu treiben, damit DeSpain und Sommers das Vieh übernehmen und es aus der Gegend ’rausschaffen konnten. War alles so abgemacht. Ich hab’ mich dann von den Jungs zurückfallen lassen und hab’ DeSpain getroffen, gerade als der Sturm losbrach. Ich wusste, dass er bei Anita gewesen war, und das hat mich geärgert. Aber ich hab’ sowieso gedacht, dass er versuchte, mich bei der Geschichte mit den Rindern zu hintergehen —mich um meinen Anteil am Gewinn zu betrügen. Ich hab’ ihn erschossen, als er sich umdrehte, um wegzugehen. Hab’ gesehen, wie er hinfiel. Dann bin ich schleunigst abgehauen. Das ist alles —“

Darrah sagte: „Nun, Lonzo, mach’ deinen Frieden —“ Aber er hielt inne und legte seine Hand auf Hardestys Brust; dann sah er schnell auf zu den anderen Männern im Raum. „Es ist zu Ende mit ihm.“

„Verschwende kein Mitleid an den“, sagte einer der Männer emotionslos.

Die Eingangstür öffnete sich, und der Circle-Arrow-Mann, der die Veranda bewachte, steckte seinen Kopf herein und rief laut: „Sommers ist hier, mit erhobenen Händen! Er will reden!“

„Schick’ ihn ’rein“, sagte Darrah.

Sommers kam schnellen Schrittes in den Raum und bückte sich zum Kaminfeuer, den Blick auf den toten Hardesty gerichtet. „Ich wusste, dass Bull ihn erwischt hat“, murmelte er. „Er hat gesagt, dass er es tun würde. Wer hat Bull erschossen?“

„Das war ich“, sagte Darrah. „Was willst du?“ 

„Ich will nur eins“, antwortete Sommers. „Ich will mit dieser Sache nichts mehr zu tun haben. Meine Jungs auch nicht — und auch die JT-Bande nicht. Wir wollen nicht für die Sache eines Toten kämpfen. Hör’ zu — ich erzähl’ dir ’was, was Hardesty nicht gewusst hat.“

„Dann ’mal zu.“

Sommers blickte sich um und redete schnell. „Hardesty hat DeSpain eine Kugel verpasst. Aber er hat nur geglaubt, er hätte DeSpain umgebracht. Als Hardesty abgehauen ist, ist DeSpain auf sein Pferd gestiegen und zu den Bergrücken geritten. Eric Bull hat ihn gefunden und hat gesehen, dass er verletzt war. DeSpain hat Bull erzählt, was passiert war, und Bull hat sich gedacht, das wäre die Gelegenheit, auf die er schon lange gewartet hatte, und hat DeSpain da den Rest gegeben; hat die Sache zu Ende gebracht. Danach kam er mit seinen Männern nach Sumpter. Als ich ankam, hat er mir alles erzählt. Aber Hardesty hat er nichts erzählt, denn wir waren der Meinung, wir müssten Hardesty den Mord anhängen. Es würde nicht gut für uns aussehen, wenn wir das nicht tun würden. Also saßen wir hier drei Tage lang und haben bekakelt, wie wir es hinkriegen könnten, Hardesty festzunageln und ihn dazu zu bringen, es zuzugeben. Als du aufgetaucht bist, haben wir die Chance gesehen, dass wir alle aus der Sache herauskommen könnten. Wir haben versucht, es dir in die Schuhe zu schieben. Den Rest kennst du selbst.“

„Geh’ zurück zum Saloon“, sagte Darrah. „Wenn der Sturm vorbei ist, seht ihr Halunken zu, dass ihr von hier verschwindet. Wohin, ist mir egal. Ich erzähle die Geschichte dem Sheriff. Dann liegt es an ihm.“ 

„Wenn der Sheriff hierher kommt“, sagte Sommers, „werden wir außerhalb seiner Reichweite sein.“ Und Sommers, von einem Augenblick auf den anderen wachsam und misstrauisch, durchquerte rückwärtsgehend den Raum und verschwand in die Nacht. Darrah richtete sich langsam auf und wandte sich an die Circle-Arrow-Mannschaft. „Das ist die beste Lösung. Wir wollen keine weiteren Schießereien. Die Sache ist erledigt.“

Über ihm gab es ein Geräusch. Als er aufblickte, sah er die junge Frau schemenhaft auf der Treppe stehen. Sie stand völlig aufrecht da und beobachtete ihn. Er sagte zu den Männern: „Bringt Lonzo in ein Hinterzimmer und legt eine Decke über ihn.“ Dann ging er zur Treppe und stieg mit einem leichten Lächeln zu der jungen Frau hinauf. 

„Ich war bei dem einzelnen Baum“, sagte sie, „als ich beobachtet habe, wie sich Hardesty und DeSpain getroffen haben. Das Schneetreiben war so dicht, dass sie mich nicht gesehen haben. Hardesty hat geschossen — und dann bin ich weggerannt. Dabei habe ich den Handschuh verloren. Aber Hardesty tut mir leid, Tom. Denn wenn DeSpain mich eingeholt hätte — dann hätte ich ihn erschossen.“

„Hardesty hat Sie nur als Ausrede benutzt, falls er keinen anderen Ausweg mehr gesehen hätte“, sagte Darrah. „Machen Sie sich darüber keine Gedanken mehr. Es gibt schönere Dinge, über die man jetzt nachdenken kann.“

„Wenn Sie meinen“, murmelte die junge Frau; und Darrah schien es, als bräche die langwährende Zurückhaltung in ihrem Blick auf und eine Wärme hielte Einzug.
                                                                                                                                                                                                   
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025


Anmerkung des Übersetzers
Beim Durchzählen seines Personals war Haycox etwas unaufmerksam. Während die Sommers-Bande durchgängig aus sieben Halunken besteht, sind es bei der Circle-Arrow-Mannschaft einmal acht und einmal neun Leute und bei der Lazy-JT-Mannschaft zehn oder elf. Damit kommt man ohne Tom Darrah auf fünfundzwanzig bis siebenundzwanzig Männer. Anfangs im Stall zählt Darrah aber vierundzwanzig Pferde. Und Anita Goodridges Pferd, auf dem sie vor Lewes DeSpain geflohen ist, muss ja auch irgendwo abgeblieben sein; ebenso wie die Pferde, die den Circle-Arrow-Küchenwagen gezogen haben.