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Freitag, 31. Oktober 2025

STORY: Protokoll eines unausweichlichen Todes (Norris)


Protokoll eines unausweichlichen Todes
Frank Norris

(Orig.: "A Memorandum of Sudden Death". 1902; Übers.: Reinhard Windeler)


Nur 32 Jahre alt wurde Benjamin Franklin Norris Jr. (1870 – 1902), der zu einer Zeit lebte, als die medizinische Versorgung nicht annähernd mit derjenigen vergleichbar war, die wir heute – zumindest in unseren Breiten – für selbstverständlich halten. Er starb an einer Bauchfellentzündung als Folge eines Blinddarmdurchbruchs, wobei seine Malaria-Erkrankung erschwerend hinzu kam. Zu Lebzeiten hatte er sich insbesondere mit den Romanen „McTeague – A Story of San Francisco“ (1899; dt.: Gier nach Gold / Verfluchtes Gold / Heilloses Gold) und „The Octopus“ (1901; dt.: Der Octopus / Die goldene Fracht) einen Namen als naturalistischer Erzähler in der Tradition eines Émile Zola gemacht. Die meisten seiner Werke erschienen allerdings erst posthum, darunter auch die Sammlung „A Deal in Wheat and Other Stories“ (1903). Diese Kurzgeschichten fanden bei den Kritikern jedoch weniger Anklang. Als beste dieser Stories gilt diejenige, die das AKWA Journal hier – soweit ersichtlich erstmals in deutscher Sprache – veröffentlicht.

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Das Original des nachfolgend präsentierten handschriftlichen Berichts befindet sich im Besitz eines Geschirrmachers aus Albuquerque namens Juan Tejada, und er freut sich, wenn diese einleitenden Ausführungen etwas Werbung für ihn machen sollten. Er ist ein feiner Kerl, und sein patentiertes Martingal für Postkutschenpferde ist sehr zu empfehlen. Soweit ich weiß, erhielt er das Manuskript von einem Mann namens Bass oder vielleicht hat Bass es ihm auch zur sicheren Aufbewahrung überlassen. Ich weiß, dass Tejada einige Sachen von Bass besitzt – Sachen, die Bass im November des vergangenen Jahres bei ihm gelassen hat: Ein Essgeschirr, eine Laterne und einen beschädigten Theodoliten – eine ganze Sattelkiste voller Geräte. Ich habe nicht daran gedacht, Tejada zu fragen, wie Bass an das Manuskript gekommen ist, und jetzt wünschte ich, ich hätte es getan, denn sein Fund wäre möglicherweise eine Geschichte für sich. Wahrscheinlich war es so, dass Bass es einfach Seite für Seite in der Wüste rund um die Stelle aufgelesen hat, an der der Kampf stattgefunden hatte, und in einiger Entfernung von den Leichen, dort, wo der Wind sie hingetragen hatte. Bass ist, so wurde mir gesagt, von Beruf Knochensammler, und man kann sich leicht vorstellen, wie er bei einer seiner Touren in den Westen Arizonas auf den Ort der Auseinandersetzung gestoßen war. Ich habe zwar kein persönliches Interesse an dem Gefecht, würde aber trotzdem gerne mehr darüber wissen. Obwohl ich den jungen Karslake nicht kannte, kannte ich doch seine Werke – wie wohl, wenn man es genau nimmt, immer noch jedermann. Schon die bloße Erwähnung seines Künstlernamens „Anson Qualtraugh“ ruft sofort Tausenden von Lesern einer gewissen weltberühmten New Yorker Monatszeitschrift die Artikel und Geschichten in Erinnerung, die er zu Lebzeiten für dieses Magazin geschrieben hat; wie zum Beispiel seine bewundernswerte Beschreibung mit dem Titel „Spuren der Azteken auf der Mogolon-Mesa“ in der Oktober-Ausgabe von 1890. Auch in der Januar-Ausgabe von 1892 befinden sich zwei Beispiele seiner Arbeit, eines signiert mit Anson Qualtraugh und das andere mit Justin Blisset. Warum er unter dem Namen Blisset schrieb, weiß ich nicht. In all seinen Schriften kommt dieser Name nur dieses eine Mal vor. In diesem Fall steht er unter einer sehr belanglosen Neujahrsgeschichte. Das Qualtraugh-„Zeug“ in derselben Nummer ist, wie mir der Herausgeber schreibt, eine stark gekürzte Abschrift einer Monografie über „Primitive Bewässerungsmethoden der Moki“, die sich heute im Archiv des Smithsonian-Instituts befindet. Der bewundernswerte Roman „Der eigenartige Schatz der Könige“ ist natürlich wohlbekannt. Karslake schrieb ihn 1888/89, und die Kontroverse, die über das Geschehen im dritten Kapitel entbrannte, dauert – sporadisch und mit Unterbrechungen – noch immer an.

Das folgende Manuskript erscheint gedruckt jetzt selbstverständlich zum ersten Mal, und ich möchte mich an dieser Stelle bei Karslakes Vater, Mr. Patterson Karslake, für die Erlaubnis zur Veröffentlichung bedanken.

Ich habe den Bericht Wort für Wort transkribiert, mit allen Lücken und Brüchen, die bedingt durch die außergewöhnlichen Umstände, unter denen er verfasst wurde, unweigerlich darin vorkommen mussten. Ich habe ihn genauso enden lassen, wie Karslake gezwungen war, ihn zu beenden, mitten im Satz. Das tatsächliche Ende ist weiß Gott klar genug und war nicht mehr weit entfernt, als der arme Kerl den letzten Satz begann, den er nicht zu Ende bringen konnte.

Der Wert der Handschrift ist offensichtlich. Neben der Schilderung von Ereignissen handelt es sich um eine einfache Darstellung der Empfindungen eines jungen Mannes im Angesicht seines gewaltsamen Todes. Sie erinnern sich gewiss an ein besonderes Opfer der Guillotine, eine vornehme Dame, die auf dem Schafott darum bat, man möge ihr gestatten, die bedeutsamen Gedanken, die sich gerade in ihrem Kopf zu bilden begannen, niederzuschreiben. Die Erlaubnis wurde ihr nicht erteilt, und ihre Gedanken sind für immer verloren. Hier haben wir einen Fall, in dem die Gedanken erhalten geblieben sind. Da Karslake aber ein junger Mann war, der nicht besonders zur Selbstreflexion neigte, ist sein Werk eher eine Darstellung des Gesehenen als eine Niederschrift des Gedachten. Man kann jedoch zwischen den Zeilen lesen; gerade die Pausen sind beredt, während der Abbruch am Ende mit einer Tragweite spricht, die mit Worten nicht zu erreichen wäre.

Das Manuskript an sich ist interessant. Es ist teilweise mit Bleistift, teilweise mit Tinte (zweifellos mit einem Füllfederhalter) auf Blättern von Manila-Papier geschrieben, die aus einer Art langem, schmalem Rechnungsbuch herausgerissen wurden. An zwei oder drei Stellen befinden sich Flecken, wo Finger und Daumen, von Pulver geschwärzt, die Blätter kurz festgehalten haben. Ich würde viel dafür geben, um es zu erwerben, aber Tejada wird es ohne die Erlaubnis von Bass nicht hergeben, und Bass hat sich auf den Weg zum Klondike gemacht.

Zu Karslake selbst: Er wurde 1868 in Raleigh in North Carolina geboren, studierte an der Staatsuniversität Rechtswissenschaften und ging 1885 mit den Mitgliedern einer staatlichen Küstenvermessungskommission auf die Bahamas. Etwa 1887 gab er sein Jura-Studium auf und widmete sich der Belletristik sowie dem Studium der Ethnologie Nordamerikas. Er war nicht verheiratet. 

Die Gründe dafür, dass er sich zum Militär meldete, wurden lange Zeit missverstanden. Es war bekannt, dass er zum Zeitpunkt seines Todes dem B-Trupp des Sechsten U.S.-Kavallerie-Regiments angehörte, und deshalb wurde angenommen, dass Karslake in finanziellen Schwierigkeiten steckte und kein gutes Verhältnis zu seiner Familie hatte. All dies entspricht natürlich nicht der Wahrheit, und ich habe allen Grund zu der Annahme, dass Karslake zu dieser Zeit einen Roman über das militärische Leben im Südwesten plante und er sich tatsächlich zum Dienst meldete, weil er das Milieu der Geschichte aus erster Hand kennenlernen wollte, um mit Sachkenntnis darüber schreiben zu können (1).

Bis zu dem Zeitpunkt, an dem seine Schilderung beginnt, war er nicht im aktiven Dienst gewesen. In welchem Jahr er starb, ist ungewiss. Es war im Frühjahr, wahrscheinlich 1896, in seinem achtundzwanzigsten Lebensjahr.

Es besteht kein Zweifel, dass er im Laufe der Zeit ein großartiger Schriftsteller geworden wäre. Ein junger Mann von achtundzwanzig Jahren, der ein so ausgeprägtes Gespür für den Wert genauer Beobachtungen hatte und einen so starken Schaffensdrang besaß, dass er selbst im Angesicht des Todes eine getreue Beschreibung seiner Umgebung zu Papier bringen konnte und tatsächlich die Schusswaffe niederlegte, um zur Feder zu greifen, besaß sicherlich außergewöhnliche Fähigkeiten.

* * *


Sie kamen heute früh am Morgen in Sicht, kurz nachdem wir gefrühstückt und das Lager abgebrochen hatten. Wir vier – „Bunt“, „Idaho“, Estorijo und ich – waren gemächlich Richtung Süden unterwegs und gerade aus der Mulde eines trockenen Wasserlochs gekommen – das Alkali in den Spalten war weiß wie Schnee – als Idaho uns auf sie aufmerksam machte, drei hinter uns, zwei auf der einen Seite, einer auf der anderen und – sehr weit entfernt – zwei vor uns. Fünf Minuten vorher war die Wüste noch so leer wie meine Handfläche gewesen. Sie schienen buchstäblich aus den Salbeibüschen gewachsen zu sein. Wir beobachteten sie durch mein Feldglas, und Bunt stellte fest, dass es sich um eine abtrünnige Gruppe auf der morgendlichen Jagd handelte. Ich hatte geglaubt, und wir alle hatten das geglaubt, dass die übrigen Jungs die feindlichen Krieger des alten Mannes längst zusammengetrieben hatten. Wir können uns nicht erklären, wer diese Kerle hier sind. Sie scheinen gut beritten zu sein.

Wir hielten vom Sattel aus Kriegsrat, ohne anzuhalten, aber es schien sehr wenig zu geben, was wir tun können – außer einfach unseren Weg fortzusetzen und abzuwarten, was sich entwickelt. Gegen Elf fanden wir Wasser – nur eine kleine Stelle im Bett eines ausgetrockneten Baches – und wir hielten an, um die Ponys zu tränken. Ich schreibe dies, während wir Rast machen.

Wir haben einhundertsechzehn Gewehrpatronen. Gestern war Freitag, und den ganzen Tag, wie es in den Zeitungen heißt, „blieb die Lage unverändert“. Wir hatten fest damit gerechnet, dass sich in der Nacht etwas ziemlich radikal verändern würde, aber es passierte nichts, obwohl wir Wachen aufstellten und bis zum Morgen Wache hielten. Von den acht von gestern sind nur noch sechs zu sehen und wir nehmen an, dass Verstärkung geholt wird. Wir haben jetzt zwei vorne, einen auf jeder Seite und zwei hinten, alle weit außerhalb der Schussweite.

[Der folgende Absatz ist in unruhiger Handschrift verfasst und scheint im Sattel geschrieben worden zu sein. Die gleiche Besonderheit tritt von Zeit zu Zeit in der Schilderung auf, und gelegentlich ist das Geschriebene so gekritzelt, dass es unleserlich ist.]

Nach dem Frühstück wieder weiter. Es ist etwa Viertel nach Acht. Die anderen beiden sind wieder da – ohne „Verstärkung“, Gott sei Dank. Sehr gut möglich, dass sie überhaupt nicht weggeritten sind, sondern verdeckt in einer Bodensenke waren. Ich kann nicht erkennen, dass einer von ihnen näher gekommen wäre. Ich habe einen links von uns mehr als eine halbe Stunde lang beobachtet, und ich bin sicher, dass er den Abstand zwischen sich und uns nicht verringert hat. Was sie vorhaben, weiß nur der Teufel, aber diese schweigende, ständige Eskorte geht mir auf die Nerven. Ich glaube nicht, dass ich Angst habe – zumindest bis jetzt. 

Es scheint nicht unmöglich zu sein, dass wir genau wie geplant am Ende der vierzehn Tage in La Paz eintreffen werden, uns wie vereinbart mit Greenock treffen und mit der Postkutsche zur Eisenbahn weiterfahren. Nächsten Monat werde ich dann in San Antonio sein und mich im Hauptquartier melden. Natürlich wird das alles so kommen, natürlich; und diese Sache von heute wird eine gute Geschichte zum Erzählen abgeben. Es ist eine Erfahrung – gutes „Material“. Natürlich kann ich jetzt noch nicht absehen, wie ich da [das Wort „lebend“ ist hier durchgestrichen] herauskommen soll, aber natürlich werde ich das. Wieso „natürlich“? Ich weiß nicht. Vielleicht versuche ich, mich selbst zu täuschen. Ehrlich gesagt sieht es nach einer Situation aus, die unlösbar ist; aber die Lösung wird sich sicherlich mit der Zeit ergeben.

11 Uhr. – Unverändert.

14 Uhr 30. – Wir haben angehalten, um die Sattelgurte zu straffen und einen einzigen Schluck aus den Feldflaschen zu nehmen. Einer von ihnen ist vor etwa zehn Minuten in einem weiten Bogen von hinten zur Flanke geritten, hat sich kurz mit seinem Kameraden beraten und ist dann auf seine alte Position zurückgekehrt. Er trägt eine Art rotes Tuch oder Decke. Vor übermorgen werden wir kein Wasser mehr erreichen. Aber wir haben genug. Estorijo hat unterwegs lustige Geschichten erzählt.

16 Uhr. – Sie sind merklich näher gekommen, und wir haben darüber diskutiert, ob wir versuchen, einen von ihnen mit Idahos Winchester zu treffen. Bringt nichts; besser, wir sparen die Munition. Es sieht so aus [Die nächsten Wörter sind nicht zu entziffern, aber aus dem Zusammenhang scheinen sie „als wollten sie heute Nacht angreifen“ zu lauten.] Wir haben jetzt einigen von ihnen Spitznamen gegeben. Wir sprechen von dem Roten oder dem Kleinen oder dem mit der Feder, und Idaho hat einen kleinen, untersetzten Burschen zu unserer Rechten „Klein-Willie“ getauft. Bei Gott, ich wünschte, es würde sich etwas tun – alles löst sich zum Guten auf oder es kommt zum Kampf. Was von beiden ist mir egal. Wie Estorijo weiter plappern und seine sinn- und pointenlosen Witzgeschichten erzählen kann, ist mir schleierhaft. Bunt ist fast genauso schlimm. Sie haben begriffen, in welcher Klemme wir stecken, das weiß ich, aber wie sie das so gelassen hinnehmen können, verblüfft und überrascht mich. Ich halte mich für genauso mutig wie sie, aber es scheint mir schrecklich unangebracht zu sein, nicht ernst zu bleiben. Ich könnte Estorijo mit Vergnügen den Hals umdrehen. 

Sonntagmorgen. – Es tut sich immer noch nichts. Wir waren uns so sicher, dass letzte Nacht etwas passieren würde, dass keiner von uns so tat, als würde er schlafen. Aber nichts rührte sich. Sich in der Nacht aus der Umzingelung schleichen, geht nicht. Wir haben Vollmond. Selbst ein Kaninchen hätte sich letzte Nacht nicht ungesehen an ihnen vorbeischleichen können.

9 Uhr (im Sattel). – Wie üblich bei Sonnenaufgang Kaffee und Speck; dann wieder Richtung Südosten wie zuvor. Eine halbe Stunde nach dem Aufbrechen waren der Rote und zwei andere in guter Schussweite, näher als je zuvor. Sie waren von der Flanke aus gekommen. Aber bevor Idaho eine Chance bekommen konnte, einen zu treffen, tauchten sie in einen flachen Arroyo ab, und als sie auf der anderen Seite herauskamen, waren sie zu weit entfernt, um noch an einen Schuss zu denken. 

10 Uhr. – Urplötzlich stellen wir fest, dass es neun anstelle von acht sind; wo und wann der Letzte zu der Gruppe gestoßen ist, wissen wir nicht. Er trägt einen Sombrero und eine Armeehose, aber sein Oberkörper ist unbekleidet. Idaho nennt ihn „Halb-und-halb“. Er reitet ei – Sie kommen.

Später. – Einen Moment lang dachten wir, es wäre der lang erwartete Ansturm. Der Rote – er führte sie an – wendete blitzschnell und kam direkt auf uns zu, und die anderen hinterher. Du lieber Himmel, wie die geritten sind! Wir konnten sie von allen Seiten schreien hören. Wir sprangen von unseren Ponys und stellten uns hinter sie, die Gewehre über den Sätteln. Aber bei vierhundert Metern machten sie alle kehrt und trabten gemächlich davon. Jetzt folgen sie uns wieder wie zuvor – drei vorne, zwei hinten und zwei auf jeder Seite. Ich glaube nicht, dass ich Angst haben werde, wenn der Ansturm tatsächlich kommt. Ich habe mich gerade selbst beobachtet. Ich war aufgeregt und ich erinnere mich, dass Bunt zu mir gesagt hat „Bleib ganz ruhig, mein Sohn“; aber ich hatte keine Angst, getötet zu werden. Gott sei Dank dafür! Das ist etwas, das ich schon lange herausfinden wollte, und jetzt, wo ich es weiß, bin ich stolz darauf. Keine Seite hat einen Schuss abgefeuert. Ich hatte keine Angst. Es ist herrlich. Estorijo ist ganz in Ordnung.

Sonntagnachmittag, 13 Uhr 30. – Unverändert. Es ist unsagbar heiß.

15 Uhr 15. Der mit der Feder geht zu Fuß und hat sein Pony an der Leine. Es scheint zu lahmen. [Mit dieser Eintragung endet Seite fünf, und die nächste Seite des Manuskripts trägt die Ziffer sieben. Allerdings ist es sehr wahrscheinlich, dass er beim Durchnummerieren seiner Blätter einen Fehler machte, denn die Schilderung ist fortlaufend und zumindest an dieser Stelle ohne eine Lücke. Es scheint keine Seite sechs zu geben.]

16 Uhr. – Ist es möglich, dass uns eine weitere Nacht voller Anspannung erspart bleibt? Es gibt jedenfalls keine Anzeichen dafür, dass sie die Krise herbeiführen werden, und sie würden sicherlich nicht so spät am Nachmittag irgendetwas versuchen. Es ist eine Erleichterung, das Gefühl zu haben, dass wir bis zum Morgen nichts zu befürchten haben, aber die Aussicht, die ganze Nacht lang wachsam zu sein, ist beängstigend.

Später. – Idaho hat gerade den Kleinen getötet.

Später. – Immer noch Schüsse.

Später. – Immer noch dabei.

Später, etwa 17 Uhr. – Eine Kugel ist weniger als drei Fuß von mir entfernt eingeschlagen.

17 Uhr 10. – Immer noch Schüsse.

19 Uhr 30, im Lager. – Es ging so schnell, dass alles vorbei war, bevor es mir klar wurde. Wir hatten unseren ersten Schusswechsel mit ihnen heute am späten Nachmittag. Der Kleine ritt von vorne zur Flanke. Offensichtlich glaubte er nicht, dass er in Schussweite war – ebensowenig wie wir. Plötzlich hob Idaho sein Gewehr und drückte ab, ohne zu zielen – zumindest kam es mir so vor. Der Schaft war noch nicht an seiner Schulter, da ging der Schuss schon los. Ungefähr sechs Sekunden, nachdem sich der Rauch verzogen hatte, konnten wir sehen, wie der Kleine anfing, sich im Sattel nach hinten zu lehnen, und Idaho sagte grimmig „Ich glaube, ich habe dich erwischt.“ Der Kleine lehnte sich immer weiter und weiter zurück, bis ihm plötzlich der Kopf nach hinten zwischen seine Schulterblätter fiel. Er hielt sich lange Zeit mit beiden Händen an der Mähne seines Ponys fest und ganz plötzlich stürzte er mit den Füßen voran hinunter. Seine Beine knickten wie Knetmasse unter ihm ein, als seine Füße den Boden berührten. Das Pony ging durch.

Kaum hatte Idaho gefeuert, da kamen die anderen ganz nahe heran und fingen an, in hohem Tempo um uns herum zu reiten und dabei zu feuern. Ihre Treffsicherheit war in der Regel schlecht, aber eine Kugel kam mir sehr nahe. Gegen 17 Uhr 30 zogen sie sich wieder außer Schussweite zurück, und wir schlugen unser Lager an Ort und Stelle auf. Estorijo und ich sind uns beide sicher, dass Idaho den Roten getroffen hat, aber Idaho selbst hat Zweifel, und Bunt hat den Schuss nicht gesehen. Ich könnte schwören, dass der Rote fast von seinem Pony gefallen wäre. Allerdings scheint er jetzt wieder ganz munter zu sein.

Montagmorgen. – Noch eine Nacht ohne Angriff. Ich habe seit Freitagabend nicht mehr geschlafen. Die Belastung ist furchtbar. Als eines unserer Ponys heute Morgen bei Tagesanbruch unvermittelt schnaubte, schrie ich aus voller Kehle auf. Ich konnte es genauso wenig unterdrücken, wie ich meinen Blutkreislauf zum Stillstand bringen könnte; und noch eine halbe Stunde später konnte ich spüren, wie mein Fleisch kribbelte und prickelte, und mein Magen war auf eklige Weise flau. Beim Frühstück musste ich mich zwingen, den Kaffee runterzuschlucken. Sie sind immer noch da, aber jetzt sind es je zwei auf jeder Seite, zwei vorne, zwei hinten. Der Abschuss des Kleinen scheint uns alle wunderbar ermutigt zu haben. Ich bin sicher, wir werden hier rauskommen – irgendwie. Wenn nur diese Spannung nicht wäre.

Montagmorgen, 9 Uhr 30. – Seit über zwei Stunden unterwegs. Es gibt keine neuen Entwicklungen. Aber Idaho hat gerade gesagt, dass sie anscheinend näher kommen. Wir hoffen, heute eine Wasserstelle zu erreichen. Unsere Vorräte gehen zur Neige, und die Ponys lassen langsam die Köpfe hängen. Es verspricht ein glühendheißer Tag zu werden. Überall westlich von uns ist Alkali, und Meilen entfernt Richtung Süden können wir so gerade eben sehen, dass sich dort Berge erheben, von denen Idaho sagt, dass es die San Jacinto Mountains sind. Dort gibt es reichlich Wasser. Die Wüste hier ist unermesslich und so einsam, dass einem die Worte fehlen; in alle Richtungen spärliche Salbeisträucher, lepraweißes Alkali, glühendheißer grauer Sand, Leere, von der Hitze gebleicht, eine scheußliche Trostlosigkeit; und immer – wohin ich meinen Blick auch wende – immer inmitten dieses blassgelben Schwirrens eine einzelne Gestalt in der Ferne, in eine Decke gehüllt, wachsam, allein, die sich scharf und deutlich von dem Hintergrund aus Salbei und Sand abhebt.

Montag, gegen 11 Uhr. – Unverändert. Die Hitze ist entsetzlich. Wir haben nur noch

Später. – Ich wollte gerade sagen, dass wir nur noch einen Schluck Wasser für jeden von uns in unseren Feldflaschen haben, als Estorijo und Idaho gleichzeitig riefen, dass sie auf uns zu kämen. Das stimmt. Sie sind in Schussweite, aber schießen nicht. Auch wir haben beschlossen, mit dem Schießen zu warten, bis etwas passiert, das erfolgversprechender aussieht.

Mittag. – Der erste Schuss – für heute – vom Roten. Wir haben angehalten. Das Geschoss war tief und schlug links von uns ein. Wir konnten sehen, wie der Sand in einer Wolke aufspritzte, als wäre eine Seifenblase auf der Oberfläche des Erdbodens geplatzt.

Sie haben sich jetzt aufgeteilt, mit Abständen von einem zum nächsten, und alle acht bilden jetzt einen Kreis um uns herum. Idaho glaubt, dass der Schuss des Roten ein Signal gewesen ist. 

Estorijo macht sich bereit, einen Schuss auf den mit der Feder zu versuchen. Wir haben die Ponys im Kreis um uns herum. Es sieht so aus, als würde die Sache nun endlich richtig losgehen.

Später, 12 Uhr 35. – Estorijo hat nicht getroffen. Idaho wird es mit der Winchester versuchen, sobald der mit der Feder stehenbleibt. Er galoppiert zum Roten.

Urplötzlich, gegen 14 Uhr, ging der Kampf los. Dies ist die erste Atempause. Es ist jetzt – Gott weiß, wie spät. Sie kamen plötzlich näher und fingen an, im Kreis um uns herum zu galoppieren, und schossen die ganze Zeit. Sie ritten wie Verrückte. Ich hätte nicht geglaubt, dass Indianerponys so schnell rennen könnten. Ihr Geschrei, das unaufhörlichen Knallen ihrer Gewehre und das dumpfe Stampfen der Hufe ihrer Ponys machten unsere Pferde zunächst sehr unruhig, und schließlich ging Idahos Mustang einfach durch. Wir haben alle unser Bestes gegeben. Die ersten ungefähr fünfzehn Minuten ging es heiß her. Der Gefleckte wurde getroffen. Dessen sind wir uns sicher, obwohl wir nicht wissen, aus wessen Waffe der Schuss kam. Mein armes altes Pferd blutet fürchterlich aus dem Maul. Es hat zwei Kugeln im Bauch, und ich glaube nicht, dass es noch lange durchhalten kann. Sie haben zuletzt ein wenig nachgelassen, reiten aber immer noch um uns herum und halten ihre Gewehre im Anschlag. Hin und wieder feuert einer von uns, aber seit Mittag ist das Hitzeflimmern über dem Boden aufgestiegen und die Entfernungen sind außerordentlich trügerisch.

15 Uhr 10. – Estorijos Pferd ist zu Boden gegangen, ein Schuss glatt durch den Kopf. Meines ist schon lange tot. Wir haben aus den Kadavern einen Schutzwall gebildet.

15 Uhr 20. – Sie haben wieder angefangen, rasen unglaublich schnell um uns herum, und ab und zu ziehen sie den Kreis enger. Die Kugeln schlagen jetzt überall ein. Ich habe kein Gewehr, tue, was ich kann, mit meinem Revolver und versuche zu beobachten, was vor mir vor sich geht, und die anderen zu warnen, wenn sie auf meiner Seite zu nahe kommen. [Karslake erwähnt nirgends, weshalb er keinen Karabiner hat. Dass ein US-Kavallerist feindliches Land durchquert, ohne sein Gewehr dabei zu haben, ist eine Tatsache, die schwer zu erklären ist.]

15 Uhr 30. – Sie haben mich getroffen – ein Schuss durch die Schulter. Nicht schlimm, aber es behindert mich. Ich setze mich zum Feuern auf, und Bunt bietet mir sein Knie, auf das ich meinen rechten Arm legen kann. Wenn er herunterhängt, tut es weh.

15 Uhr 45. – Es ist schrecklich. Bunt stirbt. Er kann nicht sprechen, die Kugel ist unten durch sein Gesicht gegangen ist, aber hinten nahe am Nacken. Es ist passiert, als er versuchte, sein Pferd einzufangen. Das Tier wurde in die Brust getroffen und versuchte wegzulaufen. Es bäumte sich auf, ging rückwärts, und da wir es bei uns in der Nähe behalten mussten, damit es als Brustwehr dienen konnte, ist Bunt aus dem kleinen Kreis, den wir gebildet hatten, hinter ihm her, in einer Hand sein Gewehr, mit der anderen griff er das Zaumzeug. Ich nehme an, dass alle acht gleichzeitig auf ihn feuerten, und er ging zu Boden. Das Pony schleifte ihn ein Stück weit mit, er hielt immer noch das Zaumzeug fest, dann brach es selbst zusammen und rollte mit seinem ganzen Gewicht über Bunts Brust. Wir haben es geschafft, ihn hier rein zu bringen und sein Gewehr gerettet, aber er wird nicht überleben. Keiner von uns kennt ihn besonders gut. Er ist erst seit etwa einer Woche bei uns, aber wir alle mochten ihn von Anfang an. Er hat nie über sich selbst gesprochen, daher können wir nicht viel über ihn sagen. Idaho sagt, er habe eine Frau in Torreon, aber er habe seit zwei Jahren nicht mehr mit ihr zusammengelebt; anscheinend haben sie sich nicht gut verstanden. Dies ist der erste gewaltsame Tod, den ich jemals gesehen habe, und es erstaunt mich, wenn ich anmerke, wie bedeutungslos er erscheint. Wie wenig er irgendjemanden kümmert – letzten Endes. Wenn man mir von seinem Tod erzählt hätte – mit allen Einzelheiten, in einem Bericht oder in fiktiver Form – ist es gut vorstellbar, dass mich seine Bedeutung mehr beeindruckt hätte, als es das tatsächliche Geschehen getan hat. Möglicherweise hat sich meine Sicht der Dinge seit Freitag auf eine höhere Ebene erweitert, und da sich größere Zusammenhänge abzeichnen, scheint ein Mann mehr oder weniger nur ein Teilchen – mehr oder weniger – in einer ewigen Abfolge zu sein. Als er getroffen wurde, stieß ihn das zurück gegen das Pferd, und er hielt immer noch die Zügel fest. Seine Füße gaben unter ihm nach, und er schrie „Mein Gott!“, ein einziges Mal. Wir haben seine Patronen zwischen uns aufgeteilt, und Idaho hat mir seinen Karabiner gegeben. Der Lauf war glühend heiß.

Sie haben sich ein wenig zurückgezogen, und obwohl sie uns immer noch langsam umkreisen, wurde seit fünfzehn Minuten nicht mehr geschossen. Noch vierzig Patronen übrig. Bunts Leiche (ich glaube, er ist jetzt tot) liegt direkt hinter mir, und schon sind die Mücken da – ich kann nicht darüber sprechen.

[Karslake machte die nächsten Einträge offensichtlich in aufeinanderfolgenden Zeitabständen, dachte aber in seiner Aufregung nicht daran, wie zuvor die genaue Uhrzeit zu notieren. Wir können daraus schließen, dass „sie“ eine weitere Attacke unternahmen und danach den Angriff so schnell wiederholten, dass er keine Gelegenheit hatte, ihn ordentlich zu protokollieren. Ich transkribiere die Einträge genau so unzusammenhängend, wie sie sich im Original befinden. Der Bezug auf das „Feuer“ ist nicht erklärlich.]

Ich werde mein Bestes tun, um genau festzuhalten, was passiert ist und was ich tue und denke und was ich sehe.

Das Hitzeflimmern hat meine Treffsicherheit beeinträchtigt, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass entweder

Bei diesem letzten Angriff kamen sie am nächsten heran. Ich wollte gerade sagen, dass, obwohl das Hitzeflimmern schlimm war, entweder Estorijo oder ich eines ihrer Ponys verwundet haben. Wir haben es stolpern sehen. 

Noch ein Angriff

Unser Munitionsvorrat

Nur noch ein paar Patronen übrig.

Der Rote wie ein Wirbelwind nur fünfzig Meter entfernt.

Wir feuern jetzt einzeln, da sie sich im Schutz unseres Rauchs anschleichen.

Wir haben das Feuer ausgemacht. Estorijo [Es ist möglich, dass Karslake hier anfing, den Tod des Mexikaners zu dokumentieren.]

Ich habe den Gefleckten getötet. Gerade als er sein Pferd wendete, hatte ich ihn direkt im Visier und habe ihm eine Ladung verpasst. Sie hat ihn mitten in die Brust getroffen. Ich konnte es fühlen, wie die Kugel einschlug. Er ging wie ein nasser Sack zu Boden. Herrgott, das war großartig!

Später. – Sie haben sich wieder außerhalb unserer Reichweite zurückgezogen, und wir bekommen eine Verschnaufpause. Unsere Ponys sind entweder tot oder werden es bald sein, und wir haben sie hergeschleift, damit sie um uns herum eine Barrikade bilden. Wir liegen hinter den Kadavern auf dem Boden und feuern über sie hinweg. Es sind noch siebenundzwanzig Patronen übrig.

Jetzt ist es mitten am Nachmittag. Unser Plan ist es, sie, wenn möglich, bis zum Einbruch der Nacht auf Abstand zu halten und dann zu versuchen, zwischen ihnen hindurch zu entkommen. Aber wozu? Sie würden uns verfolgen, sobald es hell wird.

Wir glauben jetzt, dass sie uns so lange gefolgt sind, ohne anzugreifen, weil sie abgewartet haben, bis die Beschaffenheit des Geländes günstig für sie war. Sie wollten – ohne Zweifel – ein absolut flaches Stück Land ohne Senken, ohne Hügel oder Flussbetten, in denen wir uns hätten verstecken können, das aber an den Rändern ansteigen sollte, wie ein Amphitheater. Da haben sie uns im Zentrum, und sie selbst besetzen den Rand. Grob gesagt ist das das Stück Wüste, das Zeuge unseres „letzten Gefechts“ wird. Auf drei Seiten wölbt sich der Boden ganz leicht – die Erhebung beträgt keine vier Fuß. Auf der dritten Seite ist es offen und so flach, dass wir, sogar wenn wir wie jetzt auf dem Boden liegen, die San Jacinto Hills (in weiter Ferne) sehen können – „von welchen uns keine Hilfe kommt“ (2). Es ist alles Sand und Salbei, für immer und ewig. Selbst Salbei gibt es wenig – sogar für einen Kojoten ein schlechter Ort. Das Ganze wird mit einer unerträglichen Hitze gegeißelt und – jetzt, da das Schießen nachgelassen hat – von einer betäubenden durchdringenden Stille niedergedrückt – der Stille einer urzeitlichen Welt. Einer Stille, wie sie am Vorabend der Schöpfung über dem Antlitz des Wassers gebrütet haben muss – trostlos, trostlos, als ob eine kolossale, unsichtbare Säule – eine Säule der Unendlichen Stille, die Säule des Nirvana – sich für immer in das leere Blau erhebt, das menschliche Leben ein Atom mikroskopisch kleinen Staubes, zerquetscht unter ihrer Basis, und auf ihrer Spitze Gott selbst. Und ich finde Zeit, mich zu fragen, warum ich ausgerechnet in diesem Moment meiner winzigen Lebensspanne in der Lage bin, so zu schreiben, wie ich es tue, Eindrücke festzuhalten und einen Finger auf den Puls der Seele halten kann. Ach, wenn ich doch jetzt Zeit hätte – Zeit, die großen Gedanken aufzuschreiben, die meinen Kopf bevölkern. Sie sind da, ich spüre sie, kenne sie. Zweifellos ist die höchste Ekstase, die der nahende Tod mit sich bringt, der Stimulus, den man in der Eintönigkeit der alltäglichen Existenz niemals erfährt. Was für gewaltige Gedanken! Sie sind unverständlich, aber wenn ich Zeit hätte, könnte ich sie buchstabieren, und wie ich dann schreiben könnte! Ich spüre, dass das ganze Geheimnis des Lebens zum Greifen nah ist; ich kann es beinahe mit Händen fassen; mir scheint, ich kann fühlen, dass ich in nur einem weiteren Moment alles klar und deutlich sehen kann, wie die Erzengel es die ganze Zeit sehen, wie die großen Köpfe der Welt, die großen Philosophen, es ein- oder zweimal undeutlich gesehen haben – nach Jahren geduldigen Bemühens hier und da ein kurzer Blick. Wenn ich das also sehe, sollte ich auf einer Stufe mit den Göttern stehen. Aber das wird nicht geschehen. Es liegt ein Sakrileg darin. Ich glaube fast zu verstehen, warum es vor uns verborgen gehalten wird. Doch gerade der Grund für dieses Vorenthalten ist selbst Teil des Geheimnisses. Wenn ich es doch nur, nur aufschreiben könnte! – Für wessen Augen? Die eines umherstreifenden Falken? Das weiß nur Gott. Aber wie dem auch sei. Ich hätte sprechen sollen – ein einziges Mal; hätte das großartige Wort aussprechen sollen, auf das die Welt seit dem Abend und dem Morgen des Allerersten Tages gewartet hat. Gott weiß es. Gott weiß es. Was für ein Durcheinander ist das? Monströse Inkongruenz. Philosophie und kämpfende Soldaten. Das Unendliche und tote Pferde. Man kann darüber lachen. Das Erhabene zieht seinen Hut vor dem Lächerlichen. Eine Patrone in den Verschluss hebeln und über das Absolute spekulieren. Mit einem Auge das Ziel im Visier behalten und mit dem anderen den Kosmos im Blick. Den Gestank verbrannten Pulvers vor einem wegblasen, damit man über den Rand des Abgrunds des Großen Urbeginns schauen kann. Beim Pfeifen einer Kugel den Kopf einziehen und mit Schopenhauer kommunizieren. Vielleicht bin ich ein bisschen verrückt. Vielleicht bin ich überaus intelligent. Aber in beiden Fällen verstehe ich mich selbst nicht. Wie sollen mich dann andere verstehen? Wenn diese Blätter Papier, dieses Unzusammenhängende jemals gelesen wird, werden die anderen es ungefähr so ​​gut verstehen wie der kreisende Falke. Doch nichtsdestoweniger sei zu Protokoll genommen, dass ich, Karslake, es GESEHEN habe. Es liest sich wie in der Offenbarung: „Ich, Johannes, habe es gesehen“. Genau das ist es. In all dem ist etwas Apokalyptisches. Ich habe eine Vision gesehen, kann sie aber – und darin liegt die ganze Qual der Ohnmacht – nicht schriftlich festhalten. Wenn man den beschreibenden Worten Zeit ließe, um sie zu ordnen und ihnen ihren Platz zuzuweisen, dann würde sich diese Ekstase des Verstandes in diesem Zeitraum wieder legen, und der Beschreibende würde wieder auf das mittelmäßige Niveau zurückfallen, bevor er die Dinge, die er sah, die Dinge, die er dachte, aufschreiben könnte. Die Maschinerie des Geistes, der das großartige Wort prägen könnte, läuft automatisch, und genau die Kraft, die den Stempel an den Metallrohling führt, liefert die Antriebskraft für die Reaktion, bevor der Abdruck entsteht… Ich verharrte einen Augenblick und blickte von der Seite auf, und sofort verblasste das große, vage Panorama. Es ist mir ganz und gar entglitten. Der Kosmos ist wieder zu einem Amphitheater aus Salbei und Sand geschrumpft, mit einem Ausblick auf entfernte purpurne Hügel, dem Schimmer sengender Alkaliböden, und dort auf halbem Weg jene Gestalten, in Decken gehüllt, mit Perlen und Federn geschmückt, mit Gewehren in den Händen.

Aber für einen Moment befand ich mich auf Patmos.

Das Lächerliche rempelt den Ellbogen des Erhabenen an und stößt es beiseite, während Idaho verkündet, dass er in Estorijos Taschen noch weitere zwei Patronen gefunden hat.

Ein erneuter Ansturm. Weitere acht Patronen verschossen. Einundzwanzig übrig. Sie greifen so an – zunächst im Kreis, unbeschreiblich schnell, eine Gestalt hinter der anderen in so rascher Folge, dass das benommene Auge sie nicht mehr zählen kann, und statt sieben von ihnen scheinen es siebzig zu sein. Dann plötzlich, auf ein nicht zu deutendes Signal hin, ziehen sie diesen Kreis enger und durch die Wolken von Pulverrauch sehen Idaho und ich sie keine hundert Meter entfernt vor unseren Gewehrvisieren vorbeiflitzen. Dann lässt ihr Feuer plötzlich nach, der Rauch verzieht sich, und wir sehen sie wieder in der Ferne, wie sie sich in langsamem Galopp um uns herum bewegen. Dann der Segen einer Verschnaufpause, während wir auszumachen versuchen, ob wir einen getötet haben oder nicht, und unsere Patronen zählen. Wir haben die einundzwanzig gefüllten Patronen, die uns geblieben sind, in eine Reihe zwischen uns gelegt, und nach unserem ersten Blick hinaus, um zu sehen, ob einer von ihnen zu Boden gegangen ist, geht unser nächster Blick hinunter auf die immer kürzer werdende Reihe aus Messing und Blei. Wir reden nicht viel. Dies ist das Ende. Das wissen wir jetzt. Urplötzlich hat sich die Erkenntnis, dass ich hier sterben werde, in mir verfestigt. Es ist auf einmal absurd, dass ich jemals geglaubt habe, dass ich La Paz erreichen, den Zug nach Osten nehmen und mich in San Antonio melden würde. Mir kommt es so vor, dass ich schon vor Wochen wusste, dass unsere Reise so enden würde. Ich wusste es – irgendwie – in Sonora, während wir auf Befehle warteten, und ich sage mir, wenn ich nur innegehalten hätte, um wirklich darüber nachzudenken, dann hätte ich die blutigen Geschehnisse von heute vorhersehen können. 

Später. – Der Rote ist runter von seinem Pferd und hat das Bein der Kreatur verbunden. Einer von uns hat es offensichtlich getroffen. Ein wenig höher wäre der Schuss ins Herz gegangen. Unsere Treffsicherheit ist lachhaft schlecht – das Hitzeflimmern –

Später. – Idaho ist verwundet. Dieses letzte Mal war ich mir für einen Moment sicher, dass das Ende gekommen war. Sie waren in Revolverschussweite, und wir konnten das Vibrieren des Bodens unter den Hufen ihrer Ponys spüren. Aber plötzlich zogen sie sich zurück. Ich habe auf meine Uhr geschaut; es ist vier Uhr.

16 Uhr. - Idahos Wunde ist schlimm – eine lange, tiefe Furche im rechten Unterarm. Ich verbinde sie für ihn, aber er verliert eine Menge Blut und ist sehr schwach.

Sie scheinen zu wissen, dass wir inzwischen nur noch zu zweit sind, denn mit jedem Ansturm werden sie kühner. Dass wir nicht mehr so häufig schießen, muss ihnen verraten, wie knapp unsere Munition ist. 

Später. – Der letzte war gewaltig. Der Rote und ein anderer mit Streifen blauer Farbe auf seiner Wange galoppierten direkt auf uns zu. Idaho hatte mit dem Kopf und den Schultern an den Hals seines toten Ponys gelehnt gelegen. Seine Augen waren geschlossen, und ich dachte, er wäre ohnmächtig geworden. Aber als er sie kommen hörte, mühte er sich hoch, zuerst auf die Knie und dann auf die Füße – zu seiner vollen Größe – und zog mit der linken Hand den Revolver an seiner Hüfte. Der ganze rechte Arm baumelte nutzlos herum. Er war so schwach, dass er den Revolver nur halb hochheben konnte – konnte die Mündung nicht hochbringen. Aber obwohl er ihn nicht richtig festhalten konnte und er nach unten zeigte, wollte er nicht kampflos sterben. Als er feuerte, fuhr die Kugel keinen Meter vor seinen Füßen in den Sand, und dann fiel er mit dem Gesicht auf den Kadaver des Pferdes. Während des Angriff feuerte ich so schnell ich konnte, aber offensichtlich ohne jede Wirkung. Sie müssen geglaubt haben, dass Idaho tot sei, denn sobald sie sahen, dass er auf die Beine kam, scherten ihre Pferde aus, und sie ritten zu beiden Seiten an uns vorbei.

Ich habe es Idaho bequem gemacht. Er ist bewusstlos; habe ihm das letzte Wasser zu trinken gegeben. Er scheint nicht

Sie umkreisen uns weiterhin. Sie schießen unaufhörlich, aber sehr wild. Solange ich meinen Kopf unten halte, bin ich vergleichsweise sicher. 

Später. – Ich glaube, Idaho stirbt. Anscheinend wurde er ein zweites Mal getroffen, als er aufstand, um zu feuern. Estorijo atmet noch; ich hatte ihn schon längst für tot gehalten.

16 Uhr 10. – Idaho ist gestorben. Zwölf Patronen übrig. Bin jetzt ganz allein.

16 Uhr 25. – Ich fühle mich sehr schwach. [Offensichtlich wurde Karslake irgendwann zwischen 16:10 Uhr und 16:25 Uhr verwundet. Seine Notizen erwähnen diesen Umstand nicht (3).] Acht Patronen bleiben mir noch. Ich vermache meine Bibliothek meinem Bruder, Walter Patterson Karslake; alle meine persönlichen Gegenstände meinen Eltern, mit Ausnahme des Fotos von mir, das 1897 in Baltimore aufgenommen wurde, welches so bald wie möglich an [Die nächsten Zeilen sind nicht zu entziffern] in Washington, D.C., geschickt werden soll. Zum Verwalter meines literarischen Nach

16 Uhr 45. – Sieben Patronen. Sehr schwach und nicht in der Lage, den unteren Teil meines Körpers zu bewegen. Habe keine Schmerzen. Sie kamen sehr dicht herangeritten. Der Rote ist – Unerträglicher Durst

Zum Verwalter meines literarischen Nachlasses ernenne ich meinen Bruder Patterson Karslake. Die Anmerkungen zu „Coronado in New Mexico“ sollten überarbeitet werden.

Mein Tod ereignete sich am 15. April im Westen von Arizona von der Hand einer durch die Gegend streifenden Gruppe von morgendlichen Jägern. Sie haben

17 Uhr. – Die letzte Patrone verschossen.

Estorijo atmet noch. Ich bedecke sein Gesicht mit meinem Hut. Sie schießen unaufhörlich. Fühle mich viel schwächer. Übermittlung der Todesnachricht an Patterson Karslake, in der Corn Exchange Bank, New York City.

17 Uhr 15 – circa – Sie haben aufgehört zu schießen und versammeln sich in einer Gruppe. Ich habe noch vier Patronen übrig, [Das widerspricht dem Eintrag unter „17 Uhr“.] fühle mich aber äußerst schwach. Idaho war der beste Freund, den ich im ganzen Südwesten hatte. Ich möchte, dass bekannt wird, dass er ein großzügiger, offenherziger Kamerad war, ein freundlicher Mann, mit anständiger Sprache und absolut selbstlos. Man kann ihn sich wie folgt vorstellen: Rotblonder Bart, langes rotblondes Haar, Narbe auf der Stirn, etwa sechs Fuß einen Zoll groß. Sein richtiger Name ist James Monroe Herndon; von Beruf Kundschafter für die Regierung. Nachricht an Mrs. Herndon, Trinidad, New Mexico.

Der Verfasser ist Arthur Staples Karslake, dunkles Haar, fünf Fuß acht Zoll groß, Leiche wird man in der Nähe derjenigen von Herndon finden.

Luis Estorijo, Mexikaner

Später. – Zwei weitere Patronen.

17 Uhr 30. – Estorijo tot.

Es ist halb sechs Uhr am Nachmittag des 15. April. Sie sind uns seit dem 11. – Freitag – bis heute gefolgt. Ich ha

[Hier endet das Manuskript.]



© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Fußnoten:
(1) Bei dieser Episode kommt einem der Schriftsteller Edgar Rice Burroughs (1875 – 1950) in den Sinn, der 1895 in Fort Grant im Arizona-Territorium in das 7. US-Kavallerie-Regiment eintrat, aber 1897 wieder entlassen wurde, nachdem ein Herzfehler bei ihm diagnostiziert worden war. Allerdings dürfte Norris davon nichts gewusst bzw. konnte er ihn nicht als Berufskollegen gekannt haben, denn Burroughs’ erste Geschichte wurde erst 1912 veröffentlicht, also lange nach Norris’ Tod.

(2) Zitat einer Passage aus dem Psalm 121 im Alten Testament, jedoch in verneinender Form. 

(3) Unter „15 Uhr 30“ hat Karslake zwar erwähnt, dass er verwundet worden ist. Allerdings handelte es sich um einen Schuss in die Schulter, während er nun – wie er etwas weiter unten schreibt – den unteren Teil seines Körpers nicht mehr bewegen kann, was in der Tat auf eine zweite Verletzung hindeutet. 

Anmerkungen des Übersetzers:
1) Die drei Erzähler-Ebenen der Geschichte könnten im Western-Genre durchaus als Anregung für Thomas Berger (1924 – 2014) gedient haben. So wie Norris einen namenlosen Erzähler in der Ich-Form auf Karslakes Geschichte stoßen lässt und diese in dessen eigenen Worten schildert, so berichtet Berger in seinem famosen und von Arthur Penn kongenial verfilmten Roman „Little Big Man“ (1964; dt.: Der letzte Held) von einem Literaten (der bei ihm allerdings nicht anonym bleibt, sondern Ralph Fielding Snell heißt), den er in der Ich-Form auf Jack Crabb treffen und diesen seine Geschichte erzählen lässt.

2) Der naheliegende Impuls, die in der zweiten Hälfte der 1890er Jahre spielende Geschichte schon deshalb für nicht glaubhaft zu halten, weil doch die letzten Apachen unter Geronimo 1886 kapituliert hatten, verfängt nicht, denn kleinere Gefechte und Scharmützel zwischen Indianern und amerikanischen oder mexikanischen Truppen im Südwesten der USA sowie im Norden Mexikos sind auch noch danach bis in die ersten Jahre des 20. Jahrhunderts belegt.

3) Dass der anonyme Erzähler das Jahr des Geschehens nicht sicher bestimmen kann, ist verständlich. Der Protokollant, also Arthur Karslake, schreibt unzweideutig, dass die Verfolgung am 11. April begann, einem Freitag; der letzte Eintrag stammt vom 15. April, folglich Dienstag. Das vom namenlosen Erzähler vermutete Jahr 1896 passt allerdings nicht, denn 1896 fiel der 11. April auf einen Samstag. Zudem war laut Karslake am Sonntag, also dem 13. April, Vollmond. Den gab es 1896 jedoch erst am 27. April. [Quelle: https://www.moongiant.com/calendar/]
Auf einen Freitag fiel der 11. April vorher im Jahre 1890 und nachher im Jahre 1902. Dass es sich bei der Angabe 1896 um ein Versehen handelt und 1890 gemeint ist, kann ausgeschlossen werden, weil der anonyme Erzähler ja eingangs berichtet, dass Karslake noch 1892 Texte veröffentlichte. Gegen das Jahr 1896 spricht zusätzlich, dass Karslake ein Porträtfoto erwähnt, das im Jahre 1897 von ihm gemacht wurde. Das scheint der namenlose Erzähler – vielleicht sogar Norris selbst – übersehen zu haben. Und 1902 wäre ja ohnehin zu spät.
Zudem war Vollmond im Jahr 1890 am 5. April. Vollmond zwischen dem 10. und 16. April gab es in dem in Betracht kommenden Zeitraum in den Jahren 1889 (15.), 1892 (12.) und 1900 (15.).
Da Karslakes zeitbezogene Angaben sich somit nicht bestätigen oder anderweitig erklären lassen, muss man wohl annehmen, dass Norris, der ohne Weiteres Zugriff auf Kalender der seinerzeit noch gar nicht so lange zurückliegenden Jahre gehabt haben dürfte, diese Fehler bewusst eingebaut hat, um den Anschein, es handele sich um eine wahre Geschichte, zu unterlaufen. Tatsächlich hätte der anonyme Erzähler ja mit einer Anfrage bei der Armee ohne Weiteres klären können, wann genau die Gruppe um Karslake auf dem Weg von Sonora nach La Paz verschollen ging.

4) Bei genauem Lesen fällt auf, dass der Wechsel vom Montag (der mit dem Eintrag „Montagmorgen“ beginnt) auf den Dienstag in dem Manuskript nicht erwähnt wird, insbesondere wird nicht von einer weiteren, nämlich der vierten Nacht berichtet. Der Umfang der Eintragungen zwischen „15 Uhr 45“ und „16 Uhr“ könnte allerdings ein Hinweis darauf sein, dass dazwischen tatsächlich nicht nur eine Viertelstunde, sondern ein ganzer Tag liegt. Erklärbar wäre dies, wenn ein Blatt gefehlt hätte; allerdings sagt der namenlose Erzähler nichts dazu. Man kann daher nur mutmaßen, ob Norris auch diese Unstimmigkeit bewusst eingebaut hat oder es eine Nachlässigkeit ist, die ihm tatsächlich unterlaufen ist.

5) Der Literaturwissenschaftler Ryan Wander (*1986) beschäftigte sich im Jahre 2020 im Rahmen seines Artikels „The End(s) of Regeneration: Naturalist Frontier Chronotopes and the Time of US Settler Colonial Biopolitics“ eingehend mit dieser Kurzgeschichte:
Wander erkennt in Karslake eine fiktive Vermengung von Charakteren wie Owen Wister und Teddy Roosevelt – mit dem Unterschied, dass jene beiden ihre Erfahrungen im Westen unbeschadet überstanden. „Karslake is a case of western rejuvenation and remasculinization gone awry, skewed away from the triumphant trajectory that allegorically forecasts a future populated and dominated by supposedly intellectually-advanced, racially-superior Anglo-Saxons, and instead directed toward death.“ (S.12: Karslake verkörpert ein Beispiel, in dem der Versuch, sich im Westen zu verjüngen und wieder zu einem richtigen Mann zu werden, misslingt. Er kommt von der glorreichen Bahn ab, die allegorisch eine Zukunft vorhersagt, die von vermeintlich intellektuell fortgeschrittenen, rassisch überlegenen Angelsachsen bevölkert und beherrscht wird, und steuert stattdessen auf den Tod zu.)