Im Jahre 2001 fungierte Loren D. Estleman, den wir schon bei anderer Gelegenheit vorgestellt haben, als Herausgeber der Anthologie „American West“. Für diese verfasste er nicht nur eine Einleitung, sondern er steuerte auch selbst eine der darin enthaltenen Kurzgeschichten bei. Im Folgejahr gelangte die Story bei der Verleihung der Spur Awards in die Endausscheidung, wo sie nur „A Piano at Dead Man’s Crossing“ von Johnny D. Boggs den Vortritt lassen musste, deren deutsche Übersetzung unter dem Titel „Leben und Sterben in Arizona“ bereits im AKWA Journal erschienen ist.
Es ist die Charakterstudie eines Mannes, der seinen Beruf vor den Augen einer Öffentlichkeit ausübt, die ihn zur damaligen Zeit zwar für notwendig hält, ihm aber mehr Unbehagen als Respekt entgegenbringt; von Estleman, wie gewohnt, nicht reißerisch, sondern elegant und detailfreudig umgesetzt.
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Galena, Idaho
Juni 1897
Anders Nilsen kam der Gedanke, dass er durchaus zufrieden damit wäre, sowohl Hilfssheriff als auch Methodist zu bleiben, wenn er nur nicht auf dem Bahnhof warten müsste.
Seine Sekte war dadurch gekennzeichnet, dass alle gängigen Laster verpönt waren, einschließlich des Tabakkonsums, und obwohl er vom Geruch ausgehend bezweifelte, dass ihm der Geschmack von Rauch auf seiner Zunge überhaupt gefallen würde, dachte er, die tausend kleinen Gesten, die damit verbunden waren, eine Pfeife, eine Zigarre oder eine Zigarette anzuzünden, sie am Brennen zu halten und die Asche zu entsorgen, würden ihn vielleicht weniger wie einen Narren aussehen lassen, während er auf das erste schrille Pfeifen wartete.
Ein Buch oder eine Zeitung zu lesen, half nicht weiter. Auf den Bänken gab es selten einen freien Sitzplatz, und außerdem verdrehten sich die Wörter und Buchstaben immer dann, wenn er sich zu konzentrieren versuchte. Seine Bemühungen, mit einem anderen Wartenden ins Gespräch zu kommen, blieben meist unbefriedigend; selbst gesetzestreue Menschen fühlten sich in der Gegenwart eines Mannes, der einen Stern trug, unwohl und antworteten einsilbig. Und um nicht auf dem Bahnsteig auf und ab zu gehen und unerwünschte Aufmerksamkeit zu erregen, war er gezwungen, sich an einen Pfosten zu lehnen und etwas zu finden, was er derweil mit seinen Händen tun konnte.
Der Umstand, dass er in letzter Zeit angefangen hatte, sich eine gewisse Meinung über die Bestrafung von Verbrechern zu bilden, machte das Warten dieses Mal noch unangenehmer als gewöhnlich.
Allerdings war er stolz auf seine Beobachtungsgabe. Als der große neue Ölverbrenner endlich die Gleise heraufdröhnte und die ersten Passagiere sich von einem rotgesichtigen Schaffner mit einem prächtigen weißen Knebelbart herunterhelfen ließen, hatte Nilsen seinen Spaß daran, anhand ihrer Kleidung und ihres Verhaltens ihre Berufe zu erraten. Die Frau in dem groben Wollumhang und mit dem schlichten Hut, der unter ihrem Kinn mit einem Schal festgebunden war, musste eine Lehrerin sein, denn welche andere unbegleitete Frau würde sich solche Mühe geben, um zu verhindern, dass ihre Knöchel auf den Stufen sichtbar wurden? Der glänzende schwarze Bowlerhut und das auffällig karierte Inverness-Muster des Kerls dahinter wiesen ihn als Handelsreisenden aus, selbst wenn er nicht einen Musterkoffer geschleppt hätte, der so schwer und sperrig wie eine Wells-Fargo-Kiste war. Dann war da ein Metzger mit seinem typischen Matelot-Hut aus Stroh und seinem dicken Bauch. Das verärgert aussehende ältere Paar verkaufte Eisenwaren und verdiente damit gerade genug, um die Ladenmiete zu bezahlen. Der Farmer war in seinem Anzug, der im Bereich der Manschetten zu kurz und seit zehn Jahren aus der Mode war, so offensichtlich zu erkennen, als hätte er seine Arbeitsschuhe und seine Latzhose anbehalten; mit wettergegerbten Augen suchte er den Bahnsteig nach einem Schaffner oder jemandem ab, der ihm versichern konnte, dass der neue Pflug – oder die Egge? der Miststreuer? –, den er in Pocatello gekauft hatte, tatsächlich geliefert werden würde.
„Entschuldigen Sie. Ich glaube, Sie warten auf mich.“
Nilsen lenkte seine Aufmerksamkeit vom Farmer zu dem Mann, der ihn angesprochen hatte. Es war eindeutig ein Bankier, stämmig, mit Brille und einem gepflegtem grauen Bart in einem dunkelgrauen Anzug mit ganz leichten Streifen, der schlicht geschnitten war und bereits vornehme Züge aufwies. Sein rehbrauner Hut mit schmaler Rollkrempe und Seidenband saß fest auf seinem Kopf, und er trug eine schwarze Gladstone-Ledertasche, die an den Ecken abgewetzt, aber von Hand geglättet worden war, sodass sie sanft glänzte.
„Ich fürchte, Sie irren sich.“ Nilsen öffnete seinen Mantel ein wenig, um den Stern zu zeigen. „Ich erwarte einen Mann namens Stone.“
„Oscar Stone. Ja. Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen.“
Verwirrt reichte er dem Mann seine Hand zu einem trockenen und festen Händedruck. „Mr. Stone. Natürlich. Angenehm. Ich dachte –“
„– ich wäre groß und dünn wie eine Vogelscheuche, ganz in Schwarz gekleidet. Das ist die allgemeine Erwartung. Es tut mir leid, Sie enttäuschen zu müssen. Sie müssen mich so nehmen, wie ich nun ’mal bin.“ Das schmale Lächeln in dem grauen Bart offenbarte, dass ihm Humor zwar nicht fremd war, er ihm aber nicht viel bedeutete.
Dem Deputy wurde bewusst, dass er dem alten Mann immer noch die Hand schüttelte. Peinlich berührt ließ er sie abrupt los – und es wurde ihm noch peinlicher, dass Stone glauben könnte, er hätte dies aus Abscheu getan. Sein Blick fiel auf die schwarze Tasche. „Ist das Ihr gesamtes Gepäck? Ich nehm’s. Sie müssen erschöpft sein. Ich nehme an, Sie reisen mit Ihren eigenen, ähm –“ Er spürte, wie ihm heiß im Gesicht wurde. Erneut prallte er auf die Aura der verdammten Selbstsicherheit dieses Mannes.
„Oberhemden und Unterwäsche, richtig. Ich bin keineswegs erschöpft. Der Zug hat die ganze Arbeit erledigt. Ich habe einen Koffer. Sie werden einen Gepäckträger brauchen, der Ihnen dabei hilft.“
Der Koffer war altmodisch, lang und voluminös, schwarz, mit lackierten Metallecken, vier straff gespannten Lederriemen und einem Messingvorhängeschloss, das so groß war wie ein Hufeisen. Der Inhalt bewegte sich mit einem Klirren, als Nilsen und der schwarze Gepäckträger ihn auf die Sackkarre hoben. Er war so schwer, dass er eine Leiche hätte enthalten können. Der Deputy hatte nicht erwartet, dass sich darin irgendetwas aus Metall befinden würde. Es machte ihn neugierig. Aber Stone hatte etwas an sich, das ihn abhielt, Fragen zu stellen, obwohl er sicher war, dass jede seiner Fragen ohne Zögern beantwortet werden würde. Der Neuankömmling reichte dem Gepäckträger einen Geldschein und bat ihn, dafür zu sorgen, dass der Koffer und seine Tasche ins Czarina Catherine Hotel gebracht würden.
„Sheriff Connaught hat für Sie ein Zimmer im Railroad Arms reserviert“, sagte Nilsen.
„Richten Sie ihm bitte meinen Dank aus – und mein Bedauern. Ich komme langsam in die Jahre und muss mich auf meine gewohnten Annehmlichkeiten verlassen können. Das Catherine und ich sind sehr alte Freunde.“
„Sie waren schon einmal hier?“
„Im Jahre ’79, ja. Die Mike-Rudabaugh-Sache. Haben Sie nicht davon gehört? Vor Ihrer Zeit, nehme ich an. Eine gelungene Arbeit. Der Name des Sheriffs war McAndrews. Unangenehmer Mann.“
„Vor zehn Jahren hat der Gouverneur Charlie McAndrews seines Amtes enthoben. Er hatte einen Gefangenen totgeprügelt. Es stellte sich heraus, dass der Mann unschuldig war. Ich selbst bin für Gefängnis statt Hinrichtung. Man kann ein Unrecht immer wiedergutmachen, wenn der Mann, dem man Unrecht getan hat, noch am Leben ist.“
„Ja. Nun, das ist die Verantwortung der Gerichte, nicht wahr? Wenn es um das Leben eines Mannes geht, werden sie vielleicht etwas mehr Sorgfalt walten lassen.“ Er wischte sich die Handflächen ab. „Gibt es das Sugar Bowl noch? Ich bin am Verhungern. Ich gehe nie in Speisewagen. Die Speisekarte bietet kaum Auswahl, und das Schwanken bringt meine Verdauung durcheinander.“
„Es ist immer noch das beste Speiselokal in der Stadt. Ich bringe Sie hin. Der Sheriff hat mir seinen Einspänner geliehen.“
Inmitten der karierten Tischdecken, der anheimelnden Stillleben und des klappernden Geschirrs im Restaurant wurde Stone munter. Mit Augen, die hinter seiner Brille funkelten, sah er sich um, als wäre er ein Tourist aus dem Osten, der hoffte, eine Legende des Grenzlandes zu entdecken, die sich über ein gebratenes Hähnchensteak her macht. „Es hat sich nicht verändert. Wie beruhigend. So vieles sonst hat sich nämlich geändert, wissen Sie. Ich hatte einen Aufenthalt in Denver und habe es nicht wiedererkannt.“
Er hatte Nilsen überrascht, indem er eine Schüssel Tomatensuppe und einen Laib Brot bestellt hatte, warm aus dem Ofen und feucht wie ein Schwamm, mit gebutterten Bohnen. Das Sugar Bowl war für seine Steaks und gebratenen Truthahn bekannt. Stone aß wählerisch, aber mit offensichtlichem Genuss. Der Deputy begnügte sich mit Kaffee und einer Scheibe Brot. Aus irgendeinem Grund hatte Stones Appetit ihm seinen eigenen verdorben.
Als die Rechnung kam, übernahm Nilsen sie. Stone erhob keinen Widerspruch. Er trank sein Wasser, wischte sich die Mundwinkel ab und warf seine Serviette auf den Tisch. „Dann wollen wir uns ’mal mit Ihrem Sheriff Connaught unterhalten.“
***
Milt Connaught hatte den Ruf eines emotionslosen Mannes, und genau das war der Grund, weshalb er gewählt worden war. Groß und muskulös, Sohn eines schottischen Farmers, der seine Gesundheit und seinen Ruf in der Prärie ruiniert hatte, wurde er für seine Entschlossenheit und ruhige Unparteilichkeit bewundert. Er war kein bösartiger McAndrews, aber er war auch kein Weichling. In seinen zwölf Jahren im Polizeidienst, davon vier als Chief Deputy, war er nicht ein einziges Mal wegen der Angemessenheit seiner Verhaftungen oder der Behandlung der in seiner Obhut befindlichen Gefangenen in ein schiefes Licht geraten.
Nur wenige waren sich darüber im Klaren, wie viel an menschlichem Leid ihn sein Gleichmut kostete. Er litt unter Magengeschwüren und Schlaflosigkeit, verbrauchte täglich eine Packung Kopfschmerzpulver und war von seiner Frau getrennt, die vor einem Monat Verwandte in Joplin besucht hatte und seitdem nichts mehr von sich hatte hören lassen. Im Deckel seiner Taschenuhr trug er eine Miniaturfotografie von ihr bei sich.
Als Nilsen mit Oscar Stone das Büro betrat, erhob sich Connaught hinter seinem Schreibtisch und schüttelte dem Besucher die Hand. Er fand, dass der gemütlich wirkende Mann in der Bankierskleidung etwas Ausländisches an sich hatte; vielleicht ein Deutscher, obwohl in seiner präzisen Aussprache keine Spur eines Akzents zu erkennen war.
„Wir holen normalerweise niemanden von außerhalb“, sagte der Sheriff. „Früher war das die Aufgabe des Chef-Schließers, aber es ist die Rede davon, den Sitz der Hauptstadt hierher zu verlegen. Das bedeutet Beförderungen in allen Bereichen, und niemand möchte in einer Position stecken bleiben, die keine Zukunft hat. Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus, wenn ich offen rede.“
„Ein Sackgassenjob, ja.“ Es war keine Wärme in Stones Lächeln. „Ich habe ihn überhaupt nur bekommen, weil sich sonst niemand freiwillig gemeldet hat. Daran hat sich nichts geändert.“
„Ich nehme an, Sie wollen den Mann kennenlernen. Er ist ein übler Bursche. Vier Meilen außerhalb der Stadt hat er einen Farmer mit einer Stevens-Flinte Kaliber Zehn umgenietet, seine Witwe vergewaltigt und ihr die Kehle durchgeschnitten. Er war hinter einer Geldkassette her, die im Haus versteckt sein sollte, aber er hat sie nicht gefunden. Wahrscheinlich hat sie nie existiert. Es scheint immer um eine Geldkassette zu gehen, aber ich habe noch nie gehört, dass jemals eine gefunden worden wäre.“
„Auch Banditen leben von der Hoffnung. Wurde er gewogen?“
Connaught fand das Blatt auf seinem Schreibtisch. „Einhundertdreiundsechzigeinhalb. Wir haben die Waage in Bergers Futtermittelgeschäft benutzt.“
Stone rieb sich an der Nase. „Ich zweifele nicht an Mr. Bergers Ehrlichkeit, aber Waagen in Läden sind nicht immer genau. Sie müssen regelmäßig geprüft und justiert werden. Würde es ihm etwas ausmachen, wenn ich sie inspiziere? Ich habe meine eigenen Gewichte mitgebracht.“
„Ich werde es ihm so schonend wie möglich erklären. Er ist der Typ, der sich schnell persönlich angegriffen fühlt.“
„Ich bin mir sicher, er wird es verstehen, sobald man ihm die Bedeutung erklärt. Ich habe einmal gesehen, wie einem Mann der Kopf von den Schultern gerissen wurde, weil der Verantwortliche die bei dem Sturz wirkenden Kräfte falsch berechnet hatte.“
Anders Nilsen wurde ein wenig blass. Connaught sagte ihm, er solle dafür sorgen, dass Stones Gewichte ausgepackt und zu Berger gebracht würden. Nilsen ging hinaus. Der Sheriff mochte den jungen Mann und hielt ihn für zuverlässig, aber er hatte zu viele festgefügte Auffassungen. Wenn er lange genug blieb, um seinen Idealismus hinter sich zu lassen, würde er ein guter Deputy werden.
„Wenn ich es Berger so sage, wird er einverstanden sein. Das würde bedeuten, dass Sie vermuten, dass seine Waage eher ungünstig für ihn selbst als für seine Kunden ist.“
„Sie sind ein Diplomat, Sheriff. Anders als Ihr Vorgänger.“
„Sie meinen McAndrews. Ein neues Jahrhundert steht vor der Tür, da ist kein Platz für Leute wie ihn. Sie werden vielleicht auch bald in den Ruhestand gehen. Ich habe gehört, dass sie in Boise einen elektrischen Stuhl installieren.“
Das sanfte, bärtige Gesicht nahm einen Ausdruck äußersten Abscheus an. „Ich war vor zwei Jahren in San Francisco Zeuge einer Hinrichtung durch Elektrizität. Barbarisch. Flammen schossen aus dem Kopf des armen Teufels. Es wird ein düsterer Tag für die Zivilisation sein, wenn so etwas ein kurzes Fallen und einen sauberen Bruch ersetzt.“
„Das ist der Fortschritt. Das County hat mir eines dieser neuen gasbetriebenen Selbstladegewehre gekauft. Sicher, es ist verdammt schnell, aber ich bin nicht überzeugt, dass es eine bessere Waffe ist als meine alte Winchester.“
„Danke, dass Sie mich daran erinnern. Ich nehme an, dass es eine lokale Verordnung gibt, die das Tragen von Schusswaffen verbietet.“
„Innerhalb der Stadtgrenzen. Marshal Henry wird morgen auf ihre Einhaltung achten.“
„Großartig. Bitte sagen Sie ihm, dass er auch die Saloons schließen soll. Wenn er dazu nicht bereit ist, muss ich darauf bestehen, dass der Gefangene heute Abend eine Flasche Whiskey bekommt. Ich werde sie bezahlen.“
„Wozu, zum Teufel?“
„Es ist eine Frage des Respekts. Wenn der Mann vor Betrunkenen sterben muss, sollte er nicht nüchtern sein.“
„Das ergibt Sinn.“
„Natürlich wäre es mir lieber, wenn alle Anwesenden abstinent wären. Eine Hinrichtung ist eine ernste Angelegenheit. So oder so, einen Mann zu hängen, der betrunken oder von Sinnen ist, bedeutet Komplikationen. Man kann mich nicht für den Ausgang verantwortlich machen, wenn er sich wehrt, während ich versuche, den Knoten richtig zu setzen.“
Etwas an Stones unerschütterlicher Ruhe rief bei Connaught ein plastisches Bild wach. Hinrichtungen beizuwohnen war bei Weitem der unangenehmste Teil seines Berufs, aber er schätzte sich glücklich, dass er noch nie Zeuge einer böse verpfuschten Exekution geworden war.
„Die Saloons werden geschlossen bleiben. Wollen Sie den Gefangenen jetzt sehen?“
„Bitte.“
***
Morse Potters Nachname war nicht Potter. Im Alter von sechs Monaten war er aus dem Wasserfass eines Auswandererwagens gerettet worden, nachdem seine Eltern überfallen und getötet worden waren. Niemand wusste, wie die Familie hieß, und so wurde er nach dem Friedhof benannt, auf dem die sterblichen Überreste begraben wurden.
Als er vierzehn war, hatte er ein Heumesser genommen und den verwitweten Farmer, der ihn aufgezogen hatte, ausgeweidet, ein Maultier und den Ehering gestohlen, der der verstorbenen Frau des Farmers gehört hatte, und das Land verlassen; seitdem war er ständig auf der Flucht. Fliehen kostet Geld. Das hatte er weder dem Schollenbrecher außerhalb der Stadt noch dessen Frau mit dem losen Mundwerk klarmachen können, und deshalb saß er in dieser Zelle, anstatt mit den Füßen im Pazifik zu baden.
„Aufstehen.“
Er bewegte sich nicht und hob nicht einmal den Blick. Er saß auf seiner Pritsche, hatte einen Stiefel ausgezogen und versuchte, einen Daumennagel unter den Kopf eines im Hacken steckenden Nagels zu bekommen. Er hatte vor, den Nagel als Waffe zu benutzen, wenn sie kamen, um ihn hinauszubringen, oder gegen sich selbst, falls das nicht klappen sollte. Ein kräftiger Stoß von unten in seinen Kiefer würde allen die Vorstellung verderben.
„Stehen Sie auf, oder ich lasse Sie an den Ohren hochziehen.“ Der Sheriff klang eher müde als wütend.
Potter erhob sich und hielt immer noch den Stiefel in der Hand. Durch das Metallgitter, das seine Welt umgab, sah er, dass ein dritter Mann anwesend war, der Kleidung und der Brille nach ein Doktor oder ein Uhrmacher.
„Bitten Sie ihn, seinen Stiefel anzuziehen.“
„Was ist los, Pfaffe, gefällt Ihnen der Gestank nicht?“
Der Uhrmacher sprach, bevor der Sheriff seinen Mund aufmachen konnte. „Ich muss Ihre ungefähre Größe messen, um sicher zu gehen, dass ich die richtige Länge des Seils verwende. Ich möchte nicht, dass Sie erwürgt werden.“
Ihm verging das Grinsen. „Sie sind der Henker.“
„Der bin ich. Wenn Sie also bitte…?“
Er bückte sich und zog sich den Stiefel an.
„Stellen Sie sich bitte gerade hin.“ Die Augen hinter den funkelnden Brillengläsern waren ruhig. „Fünf Fuß zehn, würde ich schätzen, einschließlich der zwei Zoll hohen Absätze. Ich denke, einsdreiundsechzigeinhalb war etwas knapp bemessen. Einssiebenundsechzig kommt eher hin. Wir werden es erfahren, sobald die Waage getestet ist. Sind Sie rundum vorbereitet, Mr. Potter?“
„Vorbereitet auf was? Die Ewigkeit? Sind Sie ein christlicher Halsbrecher?“
„Die Ewigkeit liegt außerhalb meiner Zuständigkeit. Was ich wissen möchte, ist, ob Sie sich mit der Tatsache abgefunden haben, dass Ihr Leben zu Ende ist.“
„Was zum Teufel geht Sie das an?“
„Ein Urteil zu vollstrecken ist eine vollkommen andere Sache, wenn der Mann ruhig ist. In Cheyenne musste ich letztes Jahr zusehen, wie der Verurteilte die Stufen hinaufgeschleift wurde, während er zappelte und flehte. Es war eine höchst unangenehme Sache und hätte mit einer einfachen Morphiumspritze verhindert werden können.“
„Ich bin kein Feigling.“
„Freut mich, das zu hören.“
Er drehte sich zum Sheriff um. „Pflegen Sie den Brauch einer Henkersmahlzeit?“
Connaught nickte und beobachtete Potter. „Er hat Steak, Eier und eine Kanne Kaffee bestellt. Er wird es morgen früh essen.“
„Ein gesunder Appetit ist ein ausgezeichnetes Zeichen. Vielen Dank für Ihre Zeit, Mr. Potter.“
„Ich sehe Sie in der Hölle wieder.“
„Das steht Ihnen natürlich frei.“ Die beiden Männer verließen den Zellenbereich. Potter spuckte einen Klumpen weißen Schleims aus, der gegen die dicke Tür klatschte, die zum Büro führte.
***
Stone war von dem Galgen und dem Schafott angetan, einer Konstruktion, die hinter dem Gerichtsgebäude aus abgelagertem Mammutbaumholz dauerhaft errichtet, verzapft und zum Schutz vor Witterungseinflüssen mit Pech behandelt worden war. Die Falltür ließ sich mühelos auf einem Drehlager hin und her bewegen und wurde ausgelöst, indem mit dem Fuß ein Hebel betätigt wurde. Sie öffnete sich mit einem dumpfen Knall, und der am Ende des Stricks befestigte zentnerschwere Sandsack schoss durch die Luke und wurde mit einem kurzen hörbaren Ruck und ohne viel Zurückschnellen gebremst.
Weniger zufrieden war er mit dem Seil aus neuem gelben Hanf, das steif und kratzig war. „Die Redensart ‚Mit einem neuen Strick hängen‘ basiert auf einem Missverständnis“, sagte er zu Connaught. „Das Seil muss gedehnt und geölt werden, bis es so geschmeidig wie vollnarbiges Leder ist. Eine Schlinge, die richtig geölt wurde, gleitet schnell durch den Knoten und sorgt für das nötige Knacken.“
„Ich werde Nilsen gleich damit beauftragen.“
„Das wird nicht nötig sein. Ich habe mein eigenes mitgebracht.“
Der Sheriff strich sich über das Kinn. Es wies blaue Schatten auf, und seine schwieligen Fingerspitzen machten ein kratzendes Geräusch wie ein Schleifstein. „Gefällt Ihnen Ihre Arbeit, Mr. Stone?“
„Gefällt Ihre Arbeit Ihnen, Sheriff Connaught?“
„Manches davon. Nicht dieser Teil.“
Stone lehnte eine Hand gegen das Geländer des Schafotts und polierte mit seinem Taschentuch die Schuhspitze, wo der Hebel seine Spuren hinterlassen hatte. „Wenn ein Mann vier Fuß in die Tiefe fällt und so friedlich wie dieser Sandsack zum Stillstand schwingt – es gibt keine größere Befriedigung.“
„Sie meinen, weil er für sein Verbrechen bezahlt hat.“
„Sein Verbrechen? Nein. Ich bin kein Anhänger des Alten Testaments. Was auch immer er getan hat, kein Mensch verdient es, langsam zu ersticken oder seinen Kopf von den Schultern gerissen zu bekommen wie ein Huhn. Ich bin ein einfacher Handwerker, wie der Mann, der dieses Gerüst gebaut hat. Für mich ist der süßeste Klang das saubere, scharfe Knacken eines Genicks, das am zweiten Halswirbel bricht.“
Anschließend gingen sie zu Bergers Futtermittelgeschäft, wo Deputy Nilsen unter dem finsteren Blick des kahlköpfigen Besitzers die eisernen Scheibengewichte aus dem Segeltuchsack genommen hatte, in den Stone sie vor dem Packen seines Koffers gesteckt hatte. Auf jeder Scheibe war das Gewicht in Pfund so deutlich eingeprägt, dass es von den Fleischverpackern in der Fabrik in Chicago, von der sie erworben worden waren, leicht gelesen werden konnte. Stone testete die Waage persönlich, indem er Scheiben, wie angegeben, auf die Waagschale legte und wieder herunter nahm. Er brummte, als sich herausstellte, dass die Waage, wie vermutet, dreieinhalb Pfund zu wenig gewogen hatte. Er erklärte dem Ladenbesitzer, wie die einfache Justierung vorzunehmen war, legte die Scheiben zurück in den Sack und ging mit dem Sheriff hinaus, während Berger auf einem Blatt Papier ausrechnete, wie viele Pfund Futter er, seitdem die Waage das letzte Mal getestet worden war, unbezahlt hatte aus der Tür gehen lassen.
„Er vergisst, wie viele Pfund er auf die gleiche Weise kostenlos eingekauft hat“, sagte Connaught.
„Das ist das deutsche Temperament. Ich stamme väterlicherseits aus Bayern und sehe das nicht zum ersten Mal.“
Im Einspänner des Sheriffs fuhr er zum Czarina Catherine, wo er Connaught versicherte, dass bis zum Mittag des nächsten Tages alles bereit sein würde.
„Um wieviel Uhr soll ich Nilsen losschicken, um Sie abzuholen?“
„Danke, ich gehe zu Fuß. Ich ziehe es vor, meine Muskeln vor der Arbeit zu dehnen.“
Die Lobby des Hotels war so ansehnlich, wie er sie in Erinnerung hatte, mit roter Eiche getäfelt und rosa Marmor auf dem Tresen, an dem er sich anmeldete, aber er war noch nicht beruhigt. Hier draußen, wo sich die Dinge so schnell veränderten und keine Tradition älter als zehn Jahre war, hing der Ruf eines Etablissements weniger von dem Etablissement selbst ab als vielmehr vom Charakter desjenigen, dem es derzeit gehörte. Er war ein Veteran der Unterkünfte des Westens und wusste, dass ein Angestellter mit steifem weißem Kragen nicht unbedingt Gewähr für einen sauberen Nachttopf im Zimmer bot.
Er nahm seinen Schlüssel entgegen und schüttelte auf das Angebot des Angestellten, einen Pagen zu rufen, der seinen Segeltuchsack mit den Gewichten tragen sollte, den Kopf. Er hatte den neugierigen Ausdruck auf dem langen, pockennarbigen Gesicht des jungen Mannes bemerkt, daraus den Schluss gezogen, dass der Grund seines Aufenthalts den Mitarbeitern bekannt war, und sich entschieden, sich nicht weiteren dummen und möglicherweise morbiden Fragen auf den Visagen weiteren Personals auszusetzen. Bei den meisten Begegnungen ließ er es dabei bewenden, andere aufgrund seines Erscheinungsbildes glauben zu lassen, dass er einen gewöhnlichen Beruf ausübte. Er sprach nur dann über seine Arbeit, wenn er es für richtig hielt.
Zu seiner Erleichterung war sein Zimmer sauber und komfortabel, wenn auch nicht groß, befand sich aber lästigerweise in ziemlicher Entfernung vom Treppenabsatz im zweiten Stock. Die günstiger gelegenen Räume waren bereits für diejenigen reserviert, die hergekommen waren, um die Exekution zu sehen. Er war unentschlossen, was das Gefühl betraf, das er dabei hatte, dass er seine Arbeit in der Öffentlichkeit verrichtete. Je weiter er nach Osten reiste, desto mehr Menschen traf er, die es für barbarisch hielten, den Tod eines Menschen als Spektakel aufzuführen. Er verstand ihren Widerwillen, stimmte aber auch mit dem verstorbenen Richter Parker aus Arkansas darin überein, dass eine Hinrichtung, die unter Ausschluss der Öffentlichkeit vollzogen würde, als handele es sich um einen schändlichen Akt, einem Lynchmord unangenehm nahe käme.
Oscar Stone hasste das Lynchen. Die mögliche Rechtswidrigkeit dieser Praxis beunruhigte ihn weniger als die schockierende Unwissenheit derjenigen, die einem Mann einen verschlissenen Strick um den Nacken banden und ein Pferd unter seinem Hintern wegtrieben, sodass er sich drehte und zuckte, sein Gesicht schwarz wurde und er seine Zunge in einer grausigen Parodie des Sterbens heraus streckte. Er verabscheute die Stümperhaftigkeit und empfand Mitleid mit den Verurteilten. Er selbst beurteilte einen Menschen nicht nach seinen Verbrechen. Soweit er sich überhaupt Gedanken darüber machte, war er davon überzeugt, dass Mördern und Vergewaltigern von Geburt an etwas Lebenswichtiges fehlte und dass sie für dieses Unglück ebensowenig verachtet werden sollten wie ein Mann mit einem Bein oder ein Säugling, dessen Herz auf der falschen Seite sitzt. Nachdem über einen Mann verhandelt und er verurteilt worden war, war es Stones Aufgabe, ihn zu entfernen, als lästige Störung sowohl der Gesellschaft als auch des Mannes selbst. Da es nur ein wenig mehr Aufwand und ein gewisses Maß an Wissen erforderte, um die Sache schnell und ohne körperliches Leiden zu erledigen, gab es keine Entschuldigung dafür, es anders zu machen.
Den abscheulichen elektrischen Stuhl betrachtete er als einen Rückfall in die Zeit der Inquisition und der Folter. Einem Menschen einen galvanischen Stromstoß zu versetzen und ihn in seinem eigenen Säften zum Kochen zu bringen, war nicht besser, als geschmolzenes Blei in seine Augen und Ohren zu gießen. Es war grauenvoll anzusehen, erzeugte einen unbeschreiblichen Gestank und würde sicherlich dazu führen, dass Exekutionen von Ausstellungsgeländen in irgendwelche dunklen Kerker verlegt würden, womit sich Parkers schlimmste Befürchtungen bewahrheiten würden. Darin steckte nicht mehr Wissenschaft als im Abbrühen eines Schweins. Jeder Narr konnte einen Schalter umlegen.
Er legte Hut und Anzugjacke ab und packte seine Tasche aus. Seine Hemden, Kragen, Socken und Unterwäsche legte er in die Schubladen der Rosenholzkommode, und oben darauf ordnete er seine Rasierutensilien. Der Deckel seines Koffers war offen geblieben, nachdem der Sack mit seinen Scheibengewichten heraus genommen worden war, und nun holte er das Wachstuchbündel heraus, das den restlichen Platz ausfüllte, band es los, breitete es auf dem Bett aus und inspizierte jedes der vier Seile, die darin zu einer Acht aufgerollt waren. Sie waren so biegsam wie seidene Schärpen und fast genauso glatt; ihre geflochtenen Strecken, mit Öl getränkt, glitten wie Satin durch seine Hände, die sogar noch schwieliger waren als die des Sheriffs, weil sie jahrelang verschiedene Hanfsorten gebogen und geknetet hatten, Tausende Meilen indischen Hanfs (der beste), amerikanischen (der schlechteste) und chinesischen Hanfs (uneinheitlich, aber überlegen, wenn er nicht in Zeiten von Dürre, Feuer oder Banditenüberfällen angebaut wurde), aber Hände, die empfindlich auf den kleinsten Bruch in den Fasern reagierten. Er entdeckte einen in dem ersten Seil, das er aussuchte, und betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn, prüfte und trennte die ausgefransten Enden mit dem Daumenballen und legte es dann beiseite. Er hatte es erst vier Mal benutzt. Es wurde immer schwieriger, die handgeflochtene Sorte zu finden, die er bevorzugte. Maschinell hergestellte Seile waren der plötzlichen und wiederholten Belastung, der er sie aussetzte, nicht gewachsen.
Letztendlich entschied er sich für eines, das er schon acht Mal benutzt hatte, bei dem er aber aus Angst, er würde zu viel erwarten, gezögert hatte, es nochmals zu verwenden. Die Fasern waren intakt, und als er frisches Öl einarbeitete, nahmen sie diese Behandlung widerstandslos an. Jahrelanges Suchen und Ausprobieren hatten ihn zu Nähmaschinenöl als Schmiermittel geführt; es war leicht und stetig und hatte einen angenehmen, Nützlichkeit verströmenden Duft. Es färbte den Hanf in einem goldenen Safranton, von dem er glaubte, dass er dem Tod etwas von seinem bitteren Stachel nahm. Als das erledigt war, wischte er sich die überschüssige Flüssigkeit von den Händen. Dann flocht er das Seil in die traditionellen dreizehn Windungen – eine für jeden Streifen in der Flagge und für jede der ursprünglichen Kolonien. Er klopfte den festen, harten Kolben gegen seine Handfläche, um sicherzugehen, dass er hielt. Anschließend legte er die übrigen Seile zurück in den Koffer, wickelte das Seil, das er vorbereitet hatte, erneut in das Wachstuch ein und steckte es in seine Tasche. In Weste und Hemdsärmeln saß er dreißig Minuten lang in dem bequemen Ledersessel und las in seinem vom Reisen abgenutzten Exemplar von Marvels Reveries of a Bachelor, bevor er zu Bett ging.
Der nächste Morgen war sonnig und mild, und das Gewicht der Tasche machte ihm nichts aus, als er die sechs Blocks zum Gerichtsgebäude ging, hinter dem sich bereits eine Menschenmenge eingefunden hatte, um sich die besten Plätze zu sichern. Ein Deputy, dem er noch nicht begegnet war, überprüfte seine Identität und öffnete das Tor in dem niedrigen Lattenzaun, der das Hinrichtungsgelände umgab, um ihn hinein zu lassen. Das alte Seil war auf Anordnung des Sheriffs vom Galgen entfernt und eine Trittleiter bereitgestellt worden. In Hemdsärmeln fädelte Stone das Ersatzseil durch die Klammern und über die Rollen, ließ die Schlinge fünf Fuß unter dem Querbalken baumeln und befestigte das andere Ende mit einem Seemannsknoten an einem Stahlring, der in einem Betonsockel im Erdboden unter dem Schafott eingelassen war. Anders Nilsen, der in einem Konfektionsanzug und einem Zelluloidkragen sowie unter einem steifen neuen Stetson schwitzte und dem man seine Unruhe anmerkte, half ihm, die Schlinge an dem zentnerschweren Sandsack zu befestigen. Dann trat er zurück, und der Henker betätigte den Hebel. Der Sack fiel, ohne zurückzuschnellen. Gemeinsam bugsierten sie ihn zurück auf die Plattform, und der Deputy trug den Sack ins Gerichtsgebäude, während Stone die Schlinge neu justierte und die Falltür wieder schloss.
Das alles war anspruchsvolle Arbeit, die Konzentration erforderte. Er legte seinen Mantel sorgfältig über einen Arm, stieg die Stufen hinunter und ging in einen Waschraum im Gerichtsgebäude, um sich frisch zu machen. Er wusch sein Gesicht, seine Hände und seinen Hals mit Seife und Wasser aus einem Waschbecken, legte einen frischen Kragen und Manschetten aus seiner Tasche an und kämmte seine Haare und seinen Bart. Er widmete sich diesen Details mit der gleichen Sorgfalt, mit der er sich um seine Seile und Scheibengewichte kümmerte. Er war eine Sache des Respekts vor der Bedeutsamkeit der Abläufe.
Während er seine Krawatte zurecht rückte, gab es oben im Zellenbereich einen Tumult. Jemand rief etwas, etwas schlug so heftig auf den Boden, dass sich etwas Putz von der Decke löste und auf seinen Mantel rieselte, den er über eine Stuhllehne gehängt hatte. Dann Stille. Er schüttelte den Mantel, bürstete den restlichen Staub mit den Händen ab und steckte gerade seine Arme in die Ärmel, als Sheriff Connaught eintrat, mit rotem Gesicht, aber ansonsten mit so unbewegter Miene wie immer.
„Potter hat versucht, sich umzubringen“, sagte er.
Stone blickte finster auf sein Spiegelbild im Blechspiegel über dem Waschbecken. „Wie?“
„Er hat einen Nagel in die Finger gekriegt, zwei Zoll lang, ich weiß nicht, woher. Damit hat er auf Nilsen eingestochen, während der ihm die Handschellen anlegte, um ihn nach unten zu bringen. Es ist nur eine kleine Wunde, aber als Nilsen nach dem Nagel griff, hat sich Potter damit in den eigenen Hals gestochen. Er blutet stark. Doc Pullen ist oben. Er war in der Nähe, weil er nach der Hinrichtung die Bescheinigung unterschreiben wird.“
„Ich werde keinen Mann hängen, der halb tot ist. Das sieht unsachgemäß aus.“
„Das wird davon abhängen, ob der Arzt die Blutung stoppen kann. Wenn es sein muss, verschieben wir‘s.“
„Ich werde nächste Woche in Fort Smith erwartet. Wenn es bis morgen nicht geht, muss ich nochmal herkommen.“
Connaught ging hinaus. Stone setzte sich auf den Stuhl und rauchte eine Zigarre. Es war ein Laster, das er sich normalerweise aufsparte, bis seine Arbeit erledigt war, aber er hatte sein Buch im Hotelzimmer gelassen und hasste es, nichts zu tun. Er drückte den Stummel in dem Aschenbecher auf einem verkratzten Ständer aus, als der Sheriff zurückkam.
„Wir machen weiter. Ein Heftpflaster hat gereicht. Er hat die Arterie verfehlt.“
„Gut.“
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Die Exekution fand zwanzig Minuten später als geplant statt. Stone stand auf der Plattform und hörte dem Händler mit der rauhen Stimme zu, der seine Brezeln in der Menge feilbot, als sich die rückwärtige Tür öffnete und Sheriff Connaught mit einer Schrotflinte herauskam. Ein fettleibiger Pfarrer in einem staubigen Talar folgte ihm und las dabei aus einer Bibel – Und ob ich schon wanderte –, und hinter ihm kam der Gefangene mit klirrenden Hand- und Fußfesseln, gestützt von Anders Nilsen und einem anderen Deputy. Potter wirkte ruhiger als Nilsen, dessen linkes Handgelenk bandagiert war. Dr. Pullen, klein und blass, mit einem glänzenden gezwirbelten Schnauzbart wie dem eines Barkeepers, trug seine schwarze Tasche und bildete den Schluss.
Potter verzichtete darauf, etwas zu sagen. Als Stone ihm die Schlinge über den Kopf streifte, sah er sein eigenes Spiegelbild in den Augen des Mannes, zwei Totenmasken in diesem vertrauten Ausdruck von Trotz und Hass. Er platzierte die Windungen unter dem linken Ohr und stellte zufrieden fest, dass das Seil den Kreis aus weißem Pflaster, der auf das weiche Fleisch unter dem Kiefer geklebt war, nicht abscheuerte. Er zog die schwarze Baumwollkapuze aus der Seitentasche seines Mantels und streifte sie über Potters Kopf. Er versuchte nicht mehr, sich die Schwärze in ihrem Inneren vorzustellen. Sie blähte sich mit dem schnelleren Atem des Mannes vor und zurück – das erste Anzeichen von Angst, das er gezeigt hatte, vollkommen verständlich.
Er justierte die Windungen ein letztes Mal – bedeutungslos, eine alte Angewohnheit –, dann trat er von der Falltür zurück, stellte seinen Fuß neben den Hebel und sah den Sheriff an. Connaught zögerte. An seiner Kehle war ein einmaliges Schlucken zu sehen. Dann senkte er seinen Kopf um einen Zehntelzoll. Stone trat gegen den Hebel. Das Scharnier quietschte, die Falltür öffnete sich. Die schwarze Kapuze verschwand aus seinem Sichtfeld. Das Seil straffte sich mit einem scharfen Schwirren, einem sanften Basston, den nur Stone hörte, während er für alle anderen von einem Knall wie bei einem Pistolenschuss übertönt wurde, und darunter das splitternde Knacken am zweiten Halswirbel. Das Seil knarrte und machte eine halbe Umdrehung nach links.
Die Menge atmete aus, alle Menschen im selben Moment. Eine Frau wimmerte. Eine andere Stimme flüsterte ein heiseres Gebet.
Dr. Pullen wartete unter dem Schafott, während der Körper auf den Boden herunter gelassen und die Schlinge entfernt wurde. Durch die quadratische Luke sah Stone zu, wie er sich über den Gefangenen beugte und nach einem Puls tastete. Der Arzt richtete sich auf, schaute auf seine geöffnete Taschenuhr und erklärte, der Tod wäre um 12:21 Uhr eingetreten. Stone schüttelte Connaught die Hand und ging die Stufen hinunter, während Nilsen und der andere Deputy Morse Potters Leichnam in den Sarg aus weißem Kiefernholz legten, der auf dem Boden bereit stand, um mit einem in der Nähe wartenden Wagen zu Potter's Field, dem Friedhof, gebracht zu werden. Er würde später wiederkommen, um sein Seil zu holen.
Zum Mittagessen bestellte er einen sehr großen Salat mit Brot und ein Glas Portwein. Er frühstückte nie am Tag einer Hinrichtung und hatte Heißhunger. Obwohl das Restaurant voller Leute war, die über das sprachen, dessen Zeugen sie gewesen waren, hatte er einen Tisch für sich allein. Niemand kam, um sich hinzuzusetzen. Als sein Salat kam, in einer großen, polierten Holzschüssel, die Blätter weiß und knusprig und vor Feuchtigkeit perlend, inspizierte er ihn sorgfältig, dann zog er mit seiner Gabel und missbilligendem Blick ein Stück Hühnchen heraus und legte es auf den Rand seines Brottellers. Er hatte seit vierundzwanzig Jahren kein Fleisch mehr gegessen.
Thirteen Coils: Copyright © Loren D. Estleman, 2001
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025
Wir danken dem Autor sowie der Dominick Abel Literary Agency und The Buckman Agency für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.
Anmerkung des Übersetzers:
Ausführlich schildert Estleman den Werdegang Oscar Stones in seinem ebenfalls 2001 erschienenen Roman „The Master Executioner“, von dem es bedauerlicherweise keine deutschsprachige Ausgabe gibt. Auch der Roman war 2002 ein Spur-Award-Finalist. Anfang 2025 wurde er bei Wolfpack Publishing neu aufgelegt, wobei die Kurzgeschichte als erster Teil vorangestellt, der Ort des Geschehens nach Idaho verlegt und die Handlung um ein Jahr verschoben wurde.
Einen Lichtblick für deutschsprachige Leser gibt es übrigens: Voraussichtlich im Frühjahr 2026 werden bei dotbooks.de vier Estleman-Romane aus der Page-Murdock-Reihe als E-Books erscheinen.