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Freitag, 11. April 2025

STORY: Die Kutschenkönigin von Buffalo Flat (James Reasoner)


Die Kutschenkönigin von Buffalo Flat

von James Reasoner

(Original: "Gun-Brand of the Stagecoach Queen", 2018 - Übers.: Reinhard Windeler, 2025)


James Morris Reasoner (Jahrgang 1953) erzählt Geschichten und spinnt Westerngarne, solange er zurückdenken kann. Er macht dies seit fast fünfzig Jahren professionell, und in dieser Zeit hat er unter seinem eigenen Namen und Dutzenden von Pseudonymen weit mehr als vierhundert Romane geschrieben. Seine Bücher standen auf den Bestsellerlisten der New York Times, von USA Today und Publishers Weekly. Er begeistert sich außerdem für Western-Pulps, sammelt sie, liest sie und schreibt über sie.

Mit „Die Kutschenkönigin von Buffalo Flat“ erscheint erstmals eine seiner Stories in deutscher Übersetzung. Von dem Cover einer Ausgabe des Lariat Story Magazine aus dem Jahre 1945 ließ er sich inspirieren, etwas zu schreiben, was zur damaligen Zeit an den Verlag Real Adventures Publishing Company hätte verkauft werden können, in dem dieses und andere Pulp-Magazine erschienen.

Tatsächlich veröffentlicht wurde die Story in der Anthologie „The Untamed West“, die 2018 von dem Schriftstellerverband „Western Fictioneers“ herausgegeben wurde, zu dessen Gründungsmitgliedern Reasoner gehört. 


____________________

I.

Angela Elena Devereaux lief zur Tür des Büros, als sie draußen auf der Straße Hufschläge hörte. Sie riss die Tür auf, und ihr langer schwarzer Rock wirbelte um ihre schlanken, honigfarbigen Beine, als sie auf die Straße stürzte.

Staub wallte von den Rädern der Postkutsche auf, als sie die Hauptstraße von Buffalo Flat entlangraste und dabei auf den breiten Lederverstrebungen, die unter ihr verliefen, auf und ab hüpfte. Ein alarmierter Schrei kam über Angels Lippen, als sie die Gestalt ausmachte, die auf dem Kutschbock zusammengesackt war.

Auf den ersten Blick schien der Mann bewusstlos zu sein, doch als die Kutsche näher kam, richtete er sich auf und zog die Leinen an, sodass das Gespann langsamer wurde. Er machte eine Hand frei, winkte mit ihr und rief: „Aus dem Weg! Geht aus dem Weg!“

Die wenigen Leute auf der Straße kamen dieser Aufforderung nach und hasteten zu den Plankengängen. Das Sechsergespann donnerte vorbei. Irgendwie schaffte es der Kutscher, die Pferde vor dem Büro der Buffalo Flat Stagecoach Line zum Stehen zu bringen.

Der Staub wirbelte um Angel herum, stach ihr in die Augen und brachte sie zum Husten, aber sie beachtete es nicht und stürzte auf die Kutsche zu. Ohne sich darum zu kümmern, dass sie einen Rock trug, kletterte sie ohne Mühe auf den Bock. Während der meisten ihrer neunzehn Jahre war sie auf Postkutschen hinauf- oder von ihnen hinuntergeklettert.

„Papa!“ schrie sie, als sie ihre Hände nach dem Kutscher ausstreckte. „Papa, du bist verletzt!“

Frank Devereaux’ Hemd war dunkelrot von Blut. Sein wettergegerbtes Gesicht war blass und schmerzverzerrt. Seine Augenlider waren zugefallen, aber er zwang sich, sie zu öffnen, und krächzte: „Angel … Mädel … Ich hab’s zurück geschafft ... die Kutsche hergebracht …“

„Natürlich hast du das, Papa“, bestätigte sie ihm. „Was ist passiert?“

Dann wurde ihr bewusst, dass es nicht annähernd so wichtig war herauszufinden, was passiert war, wie, sich um Hilfe für ihren Vater zu kümmern. Sie schaute sich um und sah die Menschenmenge, die sich um die Postkutsche angesammelt hatte. Mit rauer Stimme schrie sie: „Jemand soll Doc Cabot holen!“

„Er ist schon auf dem Weg, Miss Devereaux“, versicherte ihr einer der Einwohner der Stadt und zeigte mit einer Handbewegung auf eine rundliche Gestalt, die auf der Straße auf sie zueilte.

„Flynn …“, murmelte Devereaux. „Dieser verdammte … Morgue Flynn … er war’s … er und seine Bande … haben mich überfallen … draußen bei Rattlesnake Wells … aber sie haben mich nicht aufgehalten … sogar als der maskierte Schurke … damit geprahlt hat, wer er ist … Dann hat er mir … eine Kugel verpasst … Die Lieferung haben sie nicht gekriegt …“ 

„Morgan Flynn.“ Angel stieß den Namen aus.

Wenn ihr Vater sterben sollte, würde sie den Mann für das, was er getan hatte, am Galgen baumeln sehen … oder sie würde ihn selbst töten! 

Lariat Story Magazine



II.

Ich fürchte, es wird noch eine Weile auf der Kippe stehen“, sagte Dr. Willard Cabot zu Angel, während er sich mit einem Lappen Blut von den Händen wischte.

Blut ihres Vaters.

„Die Kugel ging glatt durch, was gut ist“, fuhr Cabot fort, „aber Frank hat viel Blut verloren, und ich kann nicht sagen, wie viel Schaden sie in ihm drin angerichtet hat. Ich glaube, sie hat alle lebenswichtigen Organe verfehlt, aber nur die Zeit wird zeigen, ob ich recht habe.“

„Aber wenn Sie recht haben, wird er überleben?“

„Die Chancen dafür stehen gut“, nickte Cabot.

Angel schloss die Augen und holte tief Luft. Sie fühlte noch keine Erleichterung, tatsächlich war sie weit davon entfernt, aber zumindest gab es Grund zu Hoffnung.

„Kann ich ihn sehen?“ fragte sie.

„Für eine Minute. Allerdings ist er bewusstlos, also wird er nicht merken, dass du da bist.“

Cabot führte Angel in das Zimmer mit den weißen Wänden, in dem Patienten untergebracht wurden, wenn sie zu schwer verletzt waren, um das Haus des Arztes zu verlassen. Angel hielt den Atem an, als sie das Gesichts ihres Vaters sah, in das die Schmerzen Furchen gegraben hatten. Sie konnte sich nicht vorstellen, wie er es geschafft hatte, die letzten sieben Meilen von Rattlesnake Wells mit der Postkutsche zurückzulegen, während den ganzen Weg über Blut aus der Schusswunde strömte.

Genau genommen konnte sie es sich vorstellen, korrigierte sie sich. Frank Devereaux hatte es mit purer starrköpfiger Entschlossenheit zustande gebracht. Dieselbe Art von Zielstrebigkeit, die es ihm möglich gemacht hatte, eine Tochter allein großzuziehen, während er eine Postkutschenlinie fast im Alleingang aufgebaut und zum Erfolg geführt hatte.

„Du schaffst das, Papa“, flüsterte sie, als ob er sie verstehen könnte. Vielleicht konnte er das tatsächlich irgendwo tief in seinem Inneren.

In der Tür hinter ihr waren Schritte zu hören. Ein Mann räusperte sich und sagte: „Ich muss mit dir reden, Angel.“

Sie sah sich um und erkannte das markige Gesicht von Sheriff Tom Gavin mit seinem weißen Schnurrbart. 

„Ich bin in einer Minute da, Sheriff“, sagte sie zu ihm.

„Ich will dich nicht drängen, aber je eher sich ein Aufgebot auf die Verfolgung von diesen Hur… diesen Räubern machen kann, desto größer ist die Chance, dass wir sie erwischen.“

Angel nickte. Der Gesetzeshüter zog sich in das vordere Zimmer zurück. Angel sah ihren Vater noch einen Moment lang an und ging dann zu ihm.

„Er hat mir gesagt, dass es die Flynn-Bande war“, berichtete sie. „Sie haben versucht, ihn bei Rattlesnake Wells aufzuhalten, aber er ist aus ihrem Hinterhalt entkommen.“

„Dann werden wir dort die Spur aufnehmen“, sagte Gavin zu ihr. „Gab es Passagiere?“

Angel schüttelte den Kopf. „Auf dieser Fahrt nicht. Er hat nur die Expressbox befördert.“

Gavins Augen verengten sich. „Was war da drin?“

„Danach müssen Sie William Lindsay fragen.“

Die Eingangstür stand offen. Ein Mann erschien darin und fragte: „Mich wonach fragen?“

Angel und Gavin wandten sich beide dem Neuankömmling zu, der einen teuren braunen Tweedanzug trug. Er war ein gutaussehender Mann Ende zwanzig, mit blonden Haaren, der im Moment keinen Hut trug. Ein besorgter Ausdruck lag auf seinem Gesicht.

„Keine Sorge, Mr. Lindsay“, sagte Angel zu ihm. „Ihre Lieferung ist angekommen. Mein Vater hat sie durchgebracht.“

Gavin brummte und sagte: „Ihre Lieferung, ja, Mr. Lindsay? Ich nehme an, das bedeutet, es war Geld, das für Ihre Bank bestimmt war.“

„Das ist mir egal“, antwortete Lindsay mit einer wegwerfenden Handbewegung. „Ich möchte wissen, wie es Frank geht. Wie ist sein Zustand? Wird er durchkommen?“

„Die Chance besteht“, sagte Doc Cabot. „Zu früh, um zu sagen, ob es eine gute Chance ist.“

„Was auch immer er braucht, scheuen Sie keine Kosten, Doktor.“

„Das ist allgemein die Art, wie ich meine Patienten behandle“, sagte der untersetzte medico.

„Ich meine es ernst. Ich werde die Rechnung bezahlen.“

Angel sagte knapp: „Das ist nicht nötig, Mr. Lindsay.“

Er kam einen Schritt näher zu ihr, lächelte und sagte: „Ich habe dir doch gesagt, Angel, du sollst mich William nennen.“

Angel beachtete es nicht und wandte sich wieder an den Sheriff. „Sie haben etwas von einem Aufgebot gesagt. Ich werde mitreiten.“

Gavins buschige weiße Augenbrauen zogen sich zu einem Stirnrunzeln zusammen. Er schüttelte den Kopf und setzte an: „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee ist —“

„Sie wissen, dass ich so gut im Sattel sitzen kann wie irgendein Mann in dieser Stadt“, beharrte Angel, „und ich kann auch mit einer Waffe umgehen. Es gibt hier in der Gegend nicht viele, die mit einem Gewehr besser schießen.“

„Das weiß ich“, sagte Gavin. „Ich habe dich aufwachsen gesehen, seit du ein kleines Mädchen warst, das mir kaum bis zu den Knien reichte, oder nicht? Aber ich bin auch fest davon überzeugt, dass Frank nicht wollen würde, dass du mit irgendeinem Aufgebot mitreitest. Du bleibst hier und hilfst Doc, auf ihn aufzupassen. Ich und meine Deputies werden Morgue Flynn und seine Bande aufspüren.“

„Bis jetzt hatten Sie nie das Glück.“

Gavins Gesicht wurde rot vor Zorn. „Diesmal kriegen wir ihn “, schwor er. „Darauf kannst du dich verlassen.“

Angel sagte kein Wort. Wenn es etwas gab, das sie von ihrem Vater gelernt hatte, dann, dass man sich nicht darauf verlassen konnte, dass irgendein Anderer deinen Job erledigt. Die Schlangen vor seiner eigenen Tür zertrat ein Mann selbst. Und eine Frau tat das auch.


III.

Buffalo Flat war das Versorgungszentrum für ein riesiges Viehzuchtgebiet hier im äußersten Westen von Texas. Die Eisenbahn führte durch Harker City, unten an der Grenze, aber die einzige Möglichkeit, Passagiere und Lieferungen in das Herz des Landes zu bringen, bot die Postkutsche.

Die Strecke verlief von Harker City nach Norden bis Buffalo Flat, und von dort aus verzweigten sich weitere Routen zu den anderen weit verstreuten Ortschaften wie die Speichen eines Rades. Als François Devereaux, ein kürzlich verwitweter Spieler aus New Orleans, mit seiner kleinen Tochter angekommen war, war die Siedlung kaum mehr als eine Stelle, wo sich der Weg etwas nach rechts und links verbreiterte. Aber Frank Devereaux, wie man ihn nannte, war, wie es seiner Natur entsprach, ein Wagnis eingegangen — er hatte die Postkutschenlinie eröffnet —, und die Tatsache, dass Buffalo Flat sich zu einer blühenden Siedlung entwickelt hatte, war zum großen Teil auf Devereaux’ Risikobereitschaft zurückzuführen.

Während dieser Zeit war Angela Elena — von ihrem Vater schon in jungen Jahren „Angel“ genannt, ein Name, der haften blieb — zu einer schönen, tüchtigen jungen Frau herangewachsen. Mit ihrer goldenen Haut und dem rabenschwarzen Haar — Attribute, die sie von ihrer spanischen Mutter geerbt hatte, die sie nie kennen gelernt hatte — war sie so liebreizend, dass Cowboys von nah und fern sie anschmachteten, aber ihr einziges wirkliches Interesse bestand darin, ihrem Vater dabei zu helfen, die Kutschenlinie in Betrieb zu halten.

Sie konnte eine Peitsche knallen lassen, wie ein Maultiertreiber auf ein störrisches Gespann schimpfen und eine doppelläufige Kutscherflinte abfeuern, ohne vom Rückstoß umgeworfen zu werden. Um ihren Vater zu besänftigen, der glaubte, dass Mädchen sich möglichst damenhaft benehmen sollten, trug sie Blusen und lange Röcke, aber sie ließ sich durch diese Kleidung nie davon abhalten, das zu tun, was sie tun wollte.

Sie trug einen langen schwarzen Rock, ein leuchtendrotes Seidenhemd und einen breitkrempigen schwarzen Hut mit straffgezogenem Kinnriemen, als sie am nächsten Morgen in die wie eine Höhle wirkende Scheune der Postkutschenlinie marschierte und verkündete: „Ich übernehme die Fahrt nach Antelope Crossing, Stubby.“

Der kleine Oldtimer mit dem von einem weißen Bart umrahmten Gesicht, der sich für die Firma um die Pferde kümmerte und die Kutschen instand hielt, starrte sie an und sagte: „Davon höre ich zum ersten Mal, Miss Angel. Ich bin mir nicht sicher, dass das so eine gute Idee ist.“

„Ich bin diese Strecke schon ’mal gefahren.“

Stubby Conners schob seinen verbeulten alten Hut zurück und schüttelte den Kopf. „Das war, bevor es diesen üblen Morgue Flynn vom Pecos hierher verschlagen hat und er dafür gesorgt hat, dass jetzt hier die Kacke am Dampfen ist – entschuldige meine Ausdrucksweise.“

„Du vergisst, dass ich in meinem Leben eine Menge unanständiger Flüche gehört habe“, sagte Angel mit einem Lächeln zu ihm. „Ich habe sogar selbst einige benutzt.“

Yeah … wenn dein Pa nicht in der Nähe war, um es zu hören.“ Stubby seufzte. „So wie auch jetzt, schätze ich.“

„Und damit bin ich der Boss.“

„Und damit bist du der Boss“, stimmte der Oldtimer widerwillig zu. „Trotzdem bin ich nicht begeistert von der Idee, dass du die Kutsche zur Kreuzung bringst.“

„Einer muss es tun. Die Linie muss ihren regulären Fahrplan einhalten, sonst verlieren wir den Beförderungsvertrag, das weißt du doch.“

„Gut, dann lass’ mich die Fahrt übernehmen.“ Stubby klopfte an die Seite der rot und gelb angemalten Concord-Kutsche. „Ich habe das schon ’mal gemacht, weißt du.“

Angel lächelte ihn nachsichtig an und schüttelte den Kopf. „Damals warst du noch jünger. Jetzt würden deine Knochen so viel Gerüttel nicht mehr aushalten, Stubby, und außerdem bist du hier zu wertvoll für uns.“

„Scheiß’ drauf, mit diesem Flynn-Schurken, der sich hier in der Gegend ’rumtreibt, ist es einfach zu gefährlich für —“

„Für ein Mädchen?“ fragte Angel, als Stubby mitten in seiner Tirade abbrach.

„Wenn du es genau wissen willst, yeah! Das ist exakt das, was ich gemeint hab’!“

„Tut mir leid. So wird es nicht laufen. Schirr’ das Gespann an.“

„Herrgottsakrament —“

„Das ist ein Befehl, Stubby.“

Der Oldtimer blickte finster drein und murmelte Verwünschungen vor sich hin, aber er begann, die Pferde hinauszuführen und anzuschirren.

Während Stubby damit beschäftigt war, ging Angel in die Sattelkammer, in der auch die Schusswaffen aufbewahrt wurden. Sie griff sich eine der Kutscherflinten mit den abgesägten Zwillingsläufen und klappte sie auf. Sie nahm ein paar Patronen aus einer Schachtel, schob sie in die Waffe und ließ sie dann zuschnappen. Acht weitere Patronen wanderten in eine der großen Taschen an ihrem Rock.

Angel legte die Schrotflinte auf den Sitz der Kutsche und ging dann zurück in die Sattelkammer, um eine Winchester zu holen. Sie lud das Magazin des Karabiners und steckte zusätzliche Patronen in die andere Tasche ihres Rocks. Sie konnte mit einem Revolver umgehen, aber mit Langwaffen war sie besser. Die Winchester kam auf die Bodenplatte des Kutschbocks. 

Inzwischen hatte Stubby das Gespann angeschirrt. Er kratzte sich am Bart und fragte: „Bist du dir wirklich sicher?“

„So sicher, wie es nur geht. Ich werde nicht zulassen, dass diese Linie wegen eines Verbrecherlumpen wie Morgan Flynn über den Jordan geht!“

Last Stagecoach West - Lobby Card


IV.

Trotz ihrer nach außen zur Schau getragenen Zuversicht war Angel ein wenig nervös, als sie nach Norden in Richtung Antelope Crossing fuhr. Abgeflachte Tafelberge und hoch aufragende Felsnadeln erhoben sich hier und da aus der Landschaft. Das Gelände bestand größtenteils aus Weideland, unterbrochen von felsigen Arroyos und sandigen Abschnitten, die fast wüstenartig waren. Es war ein riesiges Land, und Angel liebte es, aber sie wusste auch, dass es voller Orte war, an denen Gesetzlose und andere Abtrünnige sich verstecken konnten.

Wenigstens musste sie sich keine Sorgen um die Sicherheit von Passagieren machen. Da die Flynn-Bande sich hier herumtrieb, waren die Leute um ihre eigene Sicherheit besorgt und reisten nur, wenn es sich nicht vermeiden ließ. Im vergangenen Monat hatten Flynn und seine Revolverwölfe zweimal den Zug überfallen, ein paar Banken in kleinen Siedlungen ausgeraubt und eine beträchtliche Menge gestohlenen Viehs weggetrieben. Sie waren rücksichtslos und schossen sofort, wenn jemand versuchte, ihnen Widerstand zu leisten. Bei ihren Überfällen hatten sie bisher vier Männer getötet.

Angel hoffte, dass ihr Vater nicht der fünfte werden würde.

Bislang hatte Flynn es weder auf die Bank noch auf etwas anderes in Buffalo Flat abgesehen, aber die Banditen hatten überall rund um die Stadt zugeschlagen, und Angel schien es, dass sie immer näherkamen. Jetzt, nach dem Angriff auf die Postkutsche bei Rattlesnake Wells, hielt sie es für unausweichlich, dass die Plünderer bald auch ihr Zuhause ins Visier nehmen würden.

Die Leute hätten eine ganze Kompanie von Texas Rangers gebraucht, um diese Ratten zu beseitigen, aber damit war anscheinend nicht zu rechnen. Texas war zu groß und die Zahl der Rangers zu gering.

Der Staub und das Schwanken der Kutsche störten sie nicht; an diese Dinge war sie gewöhnt. Aber der Staub erschwerte manchmal die Sicht, und so war sie nicht vorgewarnt, als plötzlich rechts vom Weg ein Reiter hinter einigen Felsen hervorsprengte. Er erhob seine Stimme zu einem Ruf, dass sie anhalten sollte, aber stattdessen schlug Angel mit den Leinen auf die Leiber der Zugpferde und trieb das Gespann zu schnellerer Gangart an.

Sie stemmte ihre Füße auf die Bodenplatte und griff nach der Kutscherflinte auf dem Sitz neben ihr. Als sie die Waffe hochhielt, konnte sie das markige Gesicht des Mannes, der versuchte, sie aufzuhalten, gut erkennen. Sie hatte ihn noch nie zuvor gesehen.

Er lenkte sein Pferd scharf zur Seite, als sie den rechten Lauf der Greener abfeuerte. Die Kutsche sauste an ihm vorbei, und Angel wusste nicht, ob die Schrotladung ihn getroffen hatte oder nicht.

Offensichtlich nicht, erkannte sie, als sie über ihre Schulter zurückblickte. Der Reiter hatte die Verfolgung aufgenommen. Er lehnte sich beim Reiten im Sattel nach vorne, um ein kleineres Ziel zu bieten.

Angel murmelte einen der unanständigen Flüche, die sie Stubby gegenüber erwähnt hatte. Sie lehnte sich ebenfalls nach vorne und trieb das Gespann mit der Peitsche zu einem höheren Tempo an. Der Wind zerrte an der Krempe ihres schwarzen Hutes.

Es war nicht wahrscheinlich, dass das Gespann in der Lage sein würde, einen einzelnen Mann zu Pferd abzuhängen, daher überlegte Angel, dass sie ihm den Schneid abkaufen müsste. Sie schlang die Leinen um den Bremshebel und verknotete sie, dann drehte sie sich auf dem Sitz um und hob erneut die Kutscherflinte. Der Reiter wich zur Seite aus, als sie den zweiten Lauf abfeuerte. Erneut fluchte sie, weil sie auch dieses Mal nicht getroffen hatte.

Angel setzte sich hin, klappte das Gewehr auf, ließ die leeren Patronenhülsen herausfallen und lud nach. Während sie damit beschäftigt war, holte der Mann sie ein. Sein Reittier schloss längsseits zur Kutsche auf. Angel machte rechtzeitig wieder eine Drehung, um zu sehen, wie er seinen Sattel mit einem waghalsigen Sprung verließ, der ihn halb auf das Dach der Kutsche trug. Er hielt sich an der um das Dach herum verlaufenden Messingreling fest und kletterte in Sicherheit.

Doch so sicher war er nicht, denn die Zwillingsläufe der Schrotflinte in Angels Händen schwenkten wieder auf ihn zu. Er war jetzt nahe genug, dass sie sehen konnte, wie sich seine Augen als Reaktion auf die Bedrohung weiteten.

Er stürzte auf sie zu, seine rechte Hand schnellte nach vorn, um die Läufe zu packen und nach oben zu schlagen, gerade als Angel beide Abzüge durchzog. Der dröhnende Knall der Kutscherflinte trommelte auf ihre Ohren als wären es riesige Fäuste. Die Schulter des Mannes krachte in sie hinein und stieß sie rückwärts vom Sitz. Sie fiel auf die Bodenplatte, und er landete auf ihr.

Die Winchester lag unter ihr, aber in dieser Position konnte sie sie nicht mit den Händen greifen. Die Schrotflinte war leer. Sie versuchte, ihm den Kolben ins Gesicht zu schlagen, aber er wich aus und riss ihr die Waffe aus den Händen.

Etwas Heißes tropfte auf ihr Gesicht. Sie blickte zu ihm auf und sah, wie Blut aus einer Schnittwunde an seiner Schläfe rann. Eine der Schrotkugeln musste ihn gestreift haben, aber die Verletzung war nicht schlimm genug, um ihn außer Gefecht zu setzen.

Als die Kutsche über eine Bodenunebenheit fuhr und einen gewaltigen Hüpfer machte, fiel der Mann mit seinem ganzen Gewicht und mit genügend Wucht auf Angel, um ihr die Luft aus den Lungen zu pressen.

Nach Luft ringend bemerkte sie, dass sich die Kutsche jetzt schneller bewegte. Sie blickte hinüber und sah, dass die Leinen nicht mehr um den Bremshebel geschlungen waren. Sie und der Angreifer mussten sie losgerissen haben, als sie vom Sitz gestürzt waren, dachte sie.

„Sie gehen … sie gehen durch!“ brachte sie keuchend heraus.

Der Mann hob seinen blutenden Kopf und fluchte. Er stemmte sich hoch, was ihr erlaubte, wieder frei zu atmen, und mit einem tiefen Luftholen füllte sie dankbar ihre Lungen. Er streckte eine Hand in Richtung der Leinen aus, wo sie zwischen die rennenden Pferde gefallen waren, konnte sie aber nicht erreichen.

„Bleiben Sie hier!“ bellte er Angel an.

„Wo zum Teufel … sollte ich sonst hingehen?“ erwiderte sie wütend und immer noch etwas atemlos. „Was haben Sie … warten Sie! Sie sind … loco!“

Ob verrückt oder nicht, er zögerte nicht. Er hechtete vom Kutschbock auf eines der Stangenpferde  und ließ sich dann auf die Deichsel hinuntergleiten. Vorsichtig balancierend arbeitete er sich vorwärts, bis er die Geschirre der beiden Vorderpferde packen und sie zurückziehen konnte. Das Gespann wurde allmählich langsamer und blieb stehen.

Während seine Stiefel immer noch auf der Deichsel standen, drehte er seinen blutenden Kopf in Richtung Angel und sagte: „Sie kleine Närrin! Sie hätten es fast geschafft, uns beide —“

Er brachte den Satz nicht zu Ende, als er sah, dass sie den Winchester-Karabiner auf ihn gerichtet hatte.

„Bleiben Sie genau da stehen oder ich blase ihnen ein Loch in Ihren Leib, Mister“, warnte sie. „Sie hätten es sich zweimal überlegen sollen, bevor Sie versucht haben, mich auszurauben!“

„Sie ausrauben! Ich wollte nur mit Ihnen reden, Sie dumme Gans.“

„Sie haben eine komische Art, das zu versuchen; von hinter einem Felsen so auf mich zuzuspringen. Wissen Sie nicht, dass Morgue Flynn sich in dieser Gegend herumtreibt?“

Er überraschte sie, indem er sie anlächelte und sagte: „Doch, das ist mir bestens bekannt. Wissen Sie, mein Name ist Morgan Flynn.“

Damit verdrehte er seine Augen, und er brach zusammen.


V.

Der Fremde, der behauptete, Morgan Flynn zu sein, fiel beinahe unter die Hufe der Vorderpferde, und so nervös, wie sie ohnehin schon waren, bestand die Gefahr, dass er niedergetrampelt wurde. Angel legte rasch den Karabiner nieder, schnappte sich die Leinen, die sie jetzt, da die Kutsche nicht mehr in Bewegung war, erreichen konnte, und band sie um den Bremshebel fest, damit das Gespann nicht wieder losrasen würde.

Dann sprang sie vom Bock herunter, wobei der lange Rock in die Höhe wehte, und rannte zum vorderen Bereich des Gespanns. Sie konnte sich nach unten beugen und ihre Hände zwischen den Vorderpferden ausstrecken. Es gelang ihr, das Hemd des bewusstlosen Mannes zu packen und ihn in Sicherheit zu ziehen.

Er war großgewachsen und muskulös und ganz gewiss kein Leichtgewicht. Angel war schwer am Keuchen, als sie ihn aus der Gefahrenzone heraus hatte. Sie trat einen Schritt zurück, um ihn zu mustern.

Er war in den Zwanzigern, hatte dichtes, rötlichbraunes Haar und ein glattrasiertes Gesicht. Er sah nicht aus wie ein brutaler Desperado, der sich für eine Karriere aus Stehlen und Töten entschieden hatte, aber man konnte nicht immer anhand ihres Aussehens viel über Menschen sagen. Sie war der beste Beweis dafür, eine junge Frau, die aussah, als sollte sie irgendwo in einem schicken Salon sitzen, anstatt eine Postkutsche zu fahren und mit Gesetzlosen zu kämpfen.

Die Kopfwunde des Mannes hatte ziemlich stark geblutet, was Kopfwunden gerne tun.  Das Stück Schrot hatte ihm wahrscheinlich auch einen ziemlich guten Hieb verpasst.  Eigentlich war es ein wenig überraschend, dass er nicht schon früher ohnmächtig geworden war. Pure Entschlossenheit — oder Starrköpfigkeit — musste ihn bei Bewusstsein gehalten haben.

So ähnlich wie ihr Vater am Tag zuvor, überlegte Angel, und dann schüttelte sie schnell ihren Kopf.

Ihr Vater und dieser Lump von einem Straßenräuber hatten überhaupt nichts gemeinsam. Immerhin hatte er das durchgegangene Gespann zum Stehen gebracht und sie vielleicht vor einem möglichen Unglück bewahrt. Andererseits wäre das Gespann gar nicht erst durchgegangen, wenn er ihr nicht so aufgelauert hätte, wie er es getan hatte, also waren sie vielleicht quitt.

Trotzdem konnte sie nicht einfach dastehen und zusehen, wie er blutete. Sie sah, dass unter seiner Lederweste eine Bandana aus seiner Hemdtasche hervorschaute. Sie zog sie heraus, faltete sie zu einem behelfsmäßigen Verband und kniete sich neben ihn, um ihm das Tuch fest genug um den Kopf zu binden, damit – wie sie hoffte – die Blutung nachlassen oder sogar aufhören würde.

Sie war gerade damit fertig, als sich seine Augenlider flatternd öffneten. Für eine Sekunde konnten sich seine Augen nicht fokussieren, aber dann blieben sie an etwas hängen, und er lächelte.

Angel wurde bewusst, dass er direkt auf ihre Brüste blickte, die sich unter dem roten Seidenhemd hoben und senkten.

„Verdammt“, rief sie aus, als sie hastig aufstand und einen Schritt zurücktrat. Ihr Gesicht wurde rot und heiß. Sie warf einen Blick auf das Halfter an seiner Hüfte, sah, dass es leer war, und schaute sich nach dem Revolver um, der herausgefallen sein musste. Als sie einen Colt entdeckte, der mehrere Meter entfernt auf dem Boden lag, ging sie schnell dorthin und hob die Waffe auf. 

„Sie können ganz unbesorgt sein“, sagte der Mann zu ihr. „Ich fühle mich gerade so schwach und wackelig auf den Beinen wie ein neugeborenes Kalb. Ich werde Ihnen keinen Ärger machen —  egal, wie hübsch Sie sind.“

„Halten Sie die Klappe“, fauchte Angel, während sie den Revolver auf ihn richtete, den sie mit beiden Händen hielt. „Sind Sie wirklich Morgan Flynn?“

„Sie sagt mir, ich soll die Klappe halten, und dann stellt sie mir eine Frage.“

„Reden Sie nicht über mich, als wenn ich nicht hier wäre. Sie sagten, Sie wären Morgan Flynn.“

„Der war ich, und der bin ich.“

„Morgue Flynn, der Outlaw?“

Sein Lächeln verschwand. Er verzog das Gesicht und sagte zu ihr: „Ich habe diesen Namen nie gemocht. Als ich jünger war, haben mich einige Leute Morg genannt, M-O-R-G, die Kurzform von Morgan, und als ich dann anfing, mir einen Ruf zu verschaffen, wurde er zu Morgue geändert. Ich kann den Unterschied immer daran erkennen, wie die Leute es betonen, wenn sie es sagen, obwohl es gleich ausgesprochen wird.“

„Man hat angefangen, Sie wie eine Leichenhalle zu nennen, weil die Leute, die Ihnen in die Quere kommen, am Ende dort landen“, sagte Angel. „Wie viele Menschen haben Sie umgebracht?“

„Das geht Sie verdammt nochmal nichts an“, antwortete Flynn mit einem finsteren Blick.  „Aber keinen, der nicht zuerst versucht hat, mich zu töten, das kann ich Ihnen sagen.“

„Sie sind ein Lügner“, sagte sie rundheraus. „Mein Vater hat nicht versucht, Sie zu töten. Er hat nur versucht, Sie und Ihre Bande davon abzuhalten, das transportierte Geld zu stehlen. Und Sie haben trotzdem auf ihn geschossen!“

„Würde es etwas nützen“, fragte Flynn, „wenn ich Ihnen sagen würde, Miss Devereaux, dass ich Ihren Vater nie zu Gesicht bekommen habe? Und ich kann Ihnen hoch und heilig versichern, dass ich nicht auf ihn geschossen habe!“

Star Western



VI.

Das Letzte, was Angel wollte, war, die Geschichte dieses Mannes zu glauben.  Doch, als er im Schatten der Postkutsche saß und mit ihr sprach, war er auf eine seltsame Weise überzeugend.

„Sie können sich vorstellen, wie überrascht ich war, als ich hörte, dass ich in dieser Gegend alle Höllenfeuer entfache, besonders, weil ich zu der Zeit in San Saba war, ein paar hundert Meilen östlich von hier. Da komm’ ich her, wissen Sie … San Saba.“

„Nein“, sagte Angel knapp. „Das hab’ ich nicht gewusst. Und ich glaube auch nicht, dass es mich interessiert.“

„Ich versuche gerade, es zu erklären“, fuhr Flynn fort. „Dieser Kerl, der der Anführer einer Bande ist und hier die ganze Aufregung verursacht hat … das bin nicht ich. Praktisch seit ich alt genug war, um rittlings im Sattel zu sitzen, hat man mir Sachen angehängt, die ich niemals getan habe, aber das hier ist vielleicht das Schlimmste … weil es ein so hübsches Mädchen wie Sie dazu gebracht hat, mich zu hassen.“

„Sie verschwenden Ihre Zeit mit Komplimenten“, sagte sie zu ihm. „Wenn Sie nicht der Boss dieser Bande sind, wer dann?“

„Tja, das ist eine andere Sache“, sagte Flynn, anstatt die Frage direkt zu beantworten. „Ich bin nie mit einer so großen Bande geritten wie die, von der ich gehört habe. Manchmal habe ich vielleicht einen oder zwei Kumpel dabei gehabt, aber das war alles. Und die meiste Zeit war ich auf eigene Rechnung unterwegs.“

„Eine saubere Rechnung, kann ich mir denken.“ Angels Stimme war ätzend, als sie diesen Kommentar abgab.

„Hören Sie mir zu“, erwiderte Flynn, der verärgert zu klingen begann. „Ich habe Ihnen schon gesagt, dass man mir viele Dinge vorgeworfen hat, die ich nicht getan habe. Ich werde Sie nicht anlügen. Ich bin nicht immer ehrlich und anständig gewesen. Aber wenn ich etwas gestohlen habe, dann meistens von jemandem, der es vorher selbst gestohlen hatte. Und wie ich schon sagte, ich habe nie jemanden getötet, der nicht versuchte, mir das Licht auszublasen.“

Angel verschränkte ihre Arme vor ihrer Brust und sah ihn kalt an. „Jetzt weiß ich, dass Sie lügen“, sagte sie, „denn mein Vater hat mir erzählt, dass Sie damit geprahlt haben, wer Sie sind, bevor Sie auf ihn geschossen haben.“

Einen langen Moment sah Flynn sie an, ohne etwas zu sagen. Dann sagte er: „Ich bin gestern Abend in die Stadt geschlichen und habe von dem Überfall gehört. Deshalb bin ich Ihnen heute hier draußen gefolgt. Ich wollte mit Ihnen sprechen und genau herausfinden, was der Boss dieser wilden Truppe sagte, bevor er auf Ihren Vater schoss.“

„Das habe ich Ihnen doch gesagt. Sie haben damit geprahlt, dass Sie Morgue Flynn sind.“ 

„Nein. Ganz genau.“

Angel runzelte die Stirn. Sie ärgerte sich über Flynn, aber die Frage schien ihm wichtig zu sein. Sie dachte an diesen schrecklichen Moment zurück, als sie ihren blutenden Vater in ihren Armen gehalten hatte, und dann antwortete sie: „Er hat Sie einen maskierten Schurken genannt.“

Flynn nickte, als wäre diese Antwort das, was er zu hören erwartet hatte.

„Jeder, der eine Maske trägt, kann behaupten, Morgan Flynn zu sein“, sagte er. „Das heißt noch lange nicht, dass Mrs. Flynn ihn geboren hat.“

„Was wollen Sie …“ Angels Stimme verklang, als sie seinem Gedankengang folgte. „Sie wollen sagen, dass sich jemand für Sie ausgegeben hat.“

„Macht es viel einfacher, einen Raubüberfall zu begehen und dann aus dem Blickfeld zu verschwinden, wenn die Behörden nach jemand anderem suchen, oder nicht?“

Sie musste zugeben, dass das, was er sagte, einen Sinn ergab, aber es gab absolut keinen Beweis für seine Behauptung. Sie sah keine Möglichkeit, es zu beweisen, es sei denn, der angebliche Hochstapler würde auf frischer Tat ertappt.

„Ich werde Sie fesseln und Sie nach Buffalo Flat mit zurück nehmen“, erklärte sie ihm. „Sheriff Gavin kann alles aufklären.“

„Glauben Sie, ich lasse mir das einfach gefallen, während Sie das tun?“

Sie hob den Revolver, den sie immer noch in den Händen hielt. „Sie vergessen, dass ich alle Waffen habe und nicht Sie. Sie können sich Ihre Füße selbst fesseln, und dann halten Sie Ihre Hände hinter Ihren Rücken, und ich werde sie fesseln.“

„Wie soll ich in die Kutsche steigen, wenn Sie das tun?“

Angel runzelte die Stirn. „Ich schätze, Sie sollten zuerst in die Kutsche steigen und dann Ihre Füße fesseln.“

„Wenn Sie mir so nahe kommen, greife ich nach … der Kanone.“

Sie spürte, wie ihr Gesicht wieder heiß wurde. „Vielleicht schlage ich Sie wieder bewusstlos.“

„Sie haben mir schon in den Kopf geschossen. Wenn Sie mir noch einen überbraten, wird mein Schädel vielleicht zu Brei. Ich könnte sogar dabei draufgehen.“

„Vor ein paar Minuten habe ich versucht, Sie zu töten“, erinnerte sie ihn. „Glauben Sie, ich würde mir deswegen allzu viele Sorgen machen?“

„Auf einen Kerl zu schießen, weil man glaubt, er versucht, einen auszurauben, ist etwas anderes, als ihm den Schädel einzuschlagen, während er hilflos ist. Ich denke dabei nur an Sie, Angel. Ich möchte nicht, dass Sie sich für den Rest Ihres Lebens schuldig fühlen.“

Sie schnaubte und sagte: „Ich verspreche Ihnen, ich werde mich nicht schuldig fühlen, wenn ich einen Outlaw töte.“

„Ich habe noch einen Vorschlag. Müssen Sie nicht die Fahrt nach Antelope Crossing zu Ende bringen?“

„Ja … ich muss einen Postsack abliefern und eine weitere Tasche, die ich Amos Terwilliger persönlich übergeben soll, der dort den Handelsposten betreibt.“

William Lindsay hatte diese zweite, versiegelte Tasche am frühen Morgen in das Büro der Postkutschenlinie gebracht und dafür bezahlt, dass sie an Terwilliger geliefert wurde. Er hatte Angel nicht gesagt, was sie enthielt, aber sie vermutete, dass es sich um die Lohngelder für eine der Ranches nordwestlich der Wegekreuzung handelte. Terwilliger fungierte als inoffizieller Bankier für die Viehzüchter in jener Gegend und hatte sogar einen Safe in seinem Handelsposten.

Angel hatte Lindsay nicht zu dem Frachtgut befragt, weil sie bestrebt gewesen war, dass er das Büro schnell wieder verließ. Sie hatte sich bereits bei Doc Cabot nach ihrem Vater erkundigt und erfahren, dass Frank Devereaux immer noch bewusstlos, sein Zustand aber ruhig und unauffällig war, und sie wollte mit der Arbeit des Tages beginnen.

Auch fühlte sie sich in Lindsays Nähe nicht besonders wohl, denn er hatte deutlich zu erkennen gegeben, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Er hatte sogar ein oder zwei Mal angedeutet, dass er daran interessiert war, sie zu heiraten — ein Gedanke, der Angel überhaupt nicht gefiel.

„Warum begleite ich Sie nicht einfach nach Antelope Crossing?“ fuhr Flynn fort. „Ich kann in der Kutsche mitfahren und ungesehen bleiben. Wenn dann jemand versucht, Sie zu belästigen, bin ich zur Stelle, um zu helfen.“

Sie konnte sich nicht verkneifen auszurufen: „Sind Sie loco geworden? Einem Outlaw vertrauen und ihn in meiner Kutsche mitfahren lassen?“

„Es würde mich nicht wundern, wenn der hombre, der sich für mich ausgibt, es noch einmal bei Ihnen versuchen würde“, sagte Flynn mit einem grimmigen Ausdruck auf seinem Gesicht. „Wenn er das tut, wäre ich gerne dabei, um ihm den echten Morgan Flynn vorzustellen.“

„Was ist mit Ihrem Pferd?“ Das Tier graste in der Nähe.

„Er wird nach einer Weile in mein Lager oben in den Prophets zurückkehren. In dieser Hinsicht ist er ziemlich schlau.“

„Und wenn nichts passiert?“

Flynn breitete seine Hände aus und sagte: „Tja, dann werde ich Sie nach Buffalo Flat zurückbegleiten, und Sie können mich dem Sheriff übergeben, genau, wie Sie’s vorhatten. Nur werde ich Ihnen dann deswegen keinen Ärger machen.“

Angel runzelte die Stirn. Auch wenn an seiner Geschichte, dass sich jemand für ihn ausgab, etwas Wahres dran war, nahm sie an, dass er jetzt log. Dieser Mann würde sich niemals freiwillig dem Gesetz stellen.

Aber er könnte den ersten Teil der Abmachung einhalten und in der Kutsche nach Antelope Crossing fahren. Falls er die Wahrheit über den Hochstapler sagte, könnte ihm das die Gelegenheit geben, den Mann zu stellen und die Maskerade aufzudecken.

„Ich werde Ihnen keine Waffe geben“, sagte sie.

„Wenn diese Schurken uns angreifen, kann ich Ihnen ohne eine Waffe nicht helfen.“

„Das Risiko gehe ich ein“, sagte Angel. „Wenn ich Ärger auf mich zukommen sehe, werde ich eine Waffe durch das Fenster reichen.“

„Das würde jedem, der uns im Blick hat, verraten, dass sich jemand in der Kutsche befindet.“

„So wird’s gemacht“, sagte sie. „Entweder so oder gar nicht.“

Flynn seufzte und nickte. „Einverstanden. Ich bin nur froh, dass ich keine geschäftlichen Vereinbarungen mit dir aushandeln muss, Angel. Du bist ein harter Verhandlungspartner.“

„Es heißt ,Miss Devereaux’. Jetzt ’rein da.“ Sie gestikulierte mit dem Revolver, den sie in den Händen hielt. „Und versuchen Sie keine Tricks. Ich kann eine Leiche genauso gut befördern wie einen lebenden Passagier.“

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VII.

Flynn versuchte weiter, mit ihr zu reden, aber Angel wollte nichts davon hören. Sie konzentrierte sich auf ihre Arbeit als Kutscherin. Sie hatte die Schrotflinte nachgeladen, und sie lag auf dem Sitz neben ihr, in Reichweite, mit Flynns Colt gleich daneben.

Vor ihr türmten sich Hügel auf, die sich aus dem flachen Gelände erhoben. Der Weg schlängelte sich ein paar Meilen lang zwischen ihnen hindurch, bevor das Gelände für den Rest der Strecke nach Antelope Crossing wieder ebener wurde. Wenn Banditen versuchen würden, einen Überfall zu begehen, dann würden sie es wahrscheinlich auf diesem Streckenabschnitt tun.

Aus diesem Grund war Angel besonders wachsam, als die Postkutsche die Hügel erreicht hatte. Falls es Ärger gab, bekäme sie möglicherweise nicht viel Vorwarnung, also überlegte sie einen Moment und nahm dann den Revolver in die Hand. Sie lehnte sich nach links, drehte den Kopf und rief: „Hey, Flynn!“

Yeah, Angel?“

Dieses Mal machte sie sich nicht die Mühe, ihn zu korrigieren. Sie langte einfach mit der Waffe nach hinten, hielt sie in das vordere Fenster und sagte: „Hier. Nur für den Fall.“ 

„Freut mich zu sehen, dass du anfängst, mir zu vertrauen“, sagte er, als er die Waffe entgegennahm.

„Das habe ich nicht gesagt!“

Angel fuhr weiter. Vor ihr wurde ein Bergkamm sichtbar. Der Weg hindurch führte durch einen Einschnitt. Als sich die Postkutsche näherte, musterte Angel eingehend die gut vier Meter hohen Böschungen auf beiden Seiten des Einschnitts. Sie sah keine Anzeichen, dass sich etwas bewegte, weshalb sie nicht langsamer wurde. Vielmehr trieb sie die Pferde zu höherem Tempo an. Sie wollte diesen Einschnitt so schnell wie möglich hinter sich bringen.

Plötzlich tauchten am entfernten Ende des Einschnitts Reiter auf, die den Weg versperrten. Angel drehte sich verzweifelt auf dem Sitz, um hinter sich zu schauen. Vielleicht konnte es ihr noch gelingen, die Kutsche zu wenden und zu fliehen …

Berittene Männer, die sich Bandanas über die unteren Hälften ihrer Gesichter gebunden hatten, waren auch dort hinten, wie sie sinkenden Mutes erkannte. „Wir sitzen in der Falle!“ rief sie verzweifelt, als sie die Leinen anzog.

„Nein!“ rief Flynn aus dem Inneren der Kutsche. „Da vorne rechts ist eine Stelle, wo die Böschung eingestürzt ist. Da kannst du ’rauskommen.“

„Sie sind verrückt! Die Kutsche kann da nicht hochkommen!“

„Doch, kann sie! Es wird ungemütlich, aber du kannst es schaffen, Angel!“

Die Outlaws vor ihr kamen im Galopp näher. Einer der maskierten Männer hob eine Waffe und richtete sie auf sie.

„Bleiben Sie genau da stehen, Lady!“ brüllte er ihr zu. „Es ist Morgue Flynn, der mit Ihnen spricht!“

Heftige Flüche waren aus dem Inneren der Kutsche zu hören. „Lew Thorpe!“ schrie Flynn. „Deine Stimme würde ich überall erkennen, du Mistkerl!“

Die Tür auf der rechten Seite der Kutsche schlug zurück, als Flynn sie aufstieß. Angel hörte, wie sie gegen die Seite der Kutsche prallte. Flynn lehnte sich hinaus und eröffnete das Feuer; zwei schnelle Schüsse gab er in Richtung der heranstürmenden Outlaws ab. Dann steckte er das Schießeisen ein, packte die Reling an der Ecke des Kutschbocks und schwang sich hinaus und hinauf.

Er landete auf dem Sitz neben Angel, zeigte mit dem Finger und schrie: „Da!“

Die Böschung war in der Tat eingestürzt und hatte einen ziemlich steilen Abhang hinterlassen, der mit Geröll bedeckt war. Angel glaubte immer noch nicht, dass das Gespann und die Postkutsche es schaffen könnten, aber beide Banditengruppen hatten inzwischen das Feuer eröffnet, und die Kugeln pfiffen viel zu nahe um ihren Kopf, als ihr lieb war.

„Woher wussten Sie von dieser Stelle?“ rief sie ihm zu.

„Ich erkunde gerne die Gegend und lerne das Gelände kennen, wenn ich irgendwo hingehe, wo ich vorher noch nie gewesen bin!“

„Na, dann sorgen Sie ‘mal dafür, dass die beschäftigt sind!“ rief sie Flynn zu, während sie mit den Leinen arbeitete.

„Mit Vergnügen!“ antwortete er. Die Pistole befand sich wieder in seiner Hand. Sie ruckte und spuckte Flammen.

Angel lenkte die Kutsche in die engste Kurve, die sie jemals genommen hatte. In dem Einschnitt war nicht ausreichend Platz, um es anders zu machen. Die Kutsche schwankte und neigte sich, und eine Sekunde lang dachte Angel, sie würde umkippen und es würde einen Unfall geben, bei dem sie wahrscheinlich beide getötet würden.

Dann richtete sich die Kutsche wieder auf, die Pferde kämpften sich den Hang hinauf, und die Kutsche sprang und hüpfte und schüttelte sich so heftig auf dem holprigen Untergrund, dass Angel dachte, sie würde jeden Moment in ihre Einzelteile auseinanderfallen.

Flynn stieß einen wilden Schlachtruf aus, als er sich umdrehte und den Hang hinunter auf ihre Verfolger schoss. Beide Hände waren jetzt im Einsatz. Als die beiden Revolver dröhnten, rief Angel: „Sie hatten die ganze Zeit noch eine Waffe!“

„In meinem Stiefel!“ erklärte er ihr mit einem flüchtigen, schelmischen Grinsen. „Das ist manchmal ganz praktisch!“

Unter den gegebenen Umständen kam die Kutsche nicht sehr schnell voran, sodass Flynns tödlich präzises Feuer das Einzige war, was die Outlaws davon abhielt, sie einzuholen.

Als die Hämmer beider Revolver auf leere Kammern klickten, sagte Angel zu ihm: „Auf dem Boden liegt eine Winchester!“

„Hab’ ich schon gesehen!“ Flynn steckte einen Revolver ins Halfter und den anderen hinter seinen Gürtel, dann drehte er sich herum und beugte sich nach unten, um den Karabiner zu greifen. Mit ihm kam er wieder hoch, drehte sich abermals der Bande zu und deckte sie mit Blei ein; er schoss so schnell, wie er den Hebel der Winchester betätigen konnte. Der rötlichbraune Haarschopf über dem provisorischen Verband um seinen Kopf flog hin und her.

Erstaunlicherweise blieb die Postkutsche in einem Stück, bis sie das obere Ende des Hangs erreichte und auf dem Kamm ankam. Keines der Pferde war auf den Steinen ausgerutscht oder gestürzt, und es hatte sich auch keines ein Bein gebrochen. Angel trieb sie mit der Peitsche an, damit sie in Bewegung blieben, als sie oben auf dem Kamm entlang fuhr und nach einem Weg zurück nach unten suchte.

Die Banditen stürmten aus der Abbruchstelle heraus und nahmen die Verfolgung auf. Angel hob ihre Stimme, als sie Flynn fragte: „Wie viele sind es?“

„Am Anfang waren es ein Dutzend“, antwortete er, wobei er keine weiteren Schüsse abgab. „Aber ich habe fünf von ihnen erledigt, und drei weitere sind nicht mehr dabei, die lecken jetzt ihre Wunden.“

„Also sind noch vier hinter uns her?“

Yeah, und einer von ihnen ist Lew Thorpe, das miese Stinktier! Wir sind vor ein paar Jahren eine Zeit lang zusammen geritten, bis ich gemerkt habe, dass er loco ist! Es passt genau zu ihm, dass er versucht, es mir heimzuzahlen, indem er so tut, als wäre er ich. Er kriegt die Beute, und mir rückt das Gesetz auf die Pelle!“

„Vielleicht gibt er auf.“

„Nicht Lew! Er ist jetzt zu allem entschlossen. Und er wird wütend sein, weil er ein paar von seinen Männern verloren hat. Er weiß, dass er sich nicht mehr auf die verlassen kann, die er noch hat, wenn er nicht Rache für die anderen nimmt und sich nicht alles schnappt, was in dieser Kutsche von Wert ist.“ Flynn warf Angel einen Blick zu. „Und dazu gehörst auch du!“

Das jagte ihr einen Schauer über den Rücken. Hier draußen an der Grenze waren anständige Frauen selbst in den Händen der abgebrühtesten Outlaws sicher — zumindest meistens. Aber es gab immer Ausnahmen, und offenbar war Lew Thorpe eine davon. 

„Da ist ein Weg!“ rief Flynn. „Wenn wir zurück ins Flache kommen, können wir sie vielleicht abhängen!“

Angel wusste, dass das unwahrscheinlich war. Sie konnte sehen, wie sehr die Flanken ihrer Pferde sich bereits hoben und senkten. In den Tieren steckte nicht mehr viel. Alles, was sie tun konnte, war, es dennoch zu versuchen. Sie steuerte die Kutsche den Abhang hinunter.

„Glaubst du mir jetzt, dass ich deinen Pa nicht überfallen habe? Und auch sonst keinen hier in der Gegend?“ fragte Flynn. „Du siehst doch, dass es die ganze Zeit Thorpe war, oder?“

„Danach sieht es aus, ja“, stimmte Angel widerwillig zu. Flynn mochte unschuldig sein, was die jüngsten Verbrechen betraf — aber er war immer noch ein Gesetzloser.

Als sie bergab fuhren, war ihr Tempo so hoch, dass der Wind Angel den Hut vom Kopf wehte. Er baumelte am Kinnriemen hinter ihr. Sie griff nach ihm, um ihn sich wieder aufzusetzen, als sie sah, dass sich vor ihnen etwas bewegte. 

„Flynn!“

Er drehte seinen Kopf und erkannte dasselbe wie sie: Drei Reiter, die dabei waren, ihnen den Weg abzuschneiden. Er sagte: „Diese verwundeten hombres müssen einen Bogen gemacht und beschlossen haben, doch wieder mitzumischen! Egal, jetzt bleibt uns nichts anderes übrig, als sie anzugreifen. Kannst du die Zügel mit einer Hand halten?“

„Kann ich!“

Er legte den Karabiner auf den Boden, griff in seine Tasche und holte eine Handvoll Patronen heraus. Nachdem er frische Patronen in beide Revolver gesteckt hatte, reichte er Angel einen davon.

„Direkt auf sie zu und aus allen Rohren feuern“, erklärte er ihr grimmig. „Das ist unsere einzige Chance.“

„Was ist mit Thorpe und den anderen Männern hinter uns?“

„Um die machen wir uns Sorgen, wenn wir den Kampf vor uns überleben!“ sagte er zu ihr, und für eine Sekunde erschien wieder dieses verwegene Grinsen auf seinem Gesicht.

Dann schien der Abstand zwischen der Postkutsche und den Outlaws vor ihr sich im Handumdrehen in Luft aufzulösen. Staub wirbelte um das dahinrasende Gefährt, und Pulverrauch stieg aus den Schusswaffen auf, die auf beiden Seiten krachten.

Bebend kam die Kutsche zum Stehen. Angel und Flynn standen mittlerweile Rücken an Rücken auf dem Kutschbock und verschossen alle Patronen in ihren Revolvern auf die Outlaws, die um sie herumritten. Thorpe und die anderen Männer, die sie auf dem Bergkamm verfolgt hatten, donnerten ebenfalls auf die Kutsche zu, doch Flynn ließ seinen leeren Colt fallen, schnappte sich die Kutscherflinte und begrüßte die Reiter mit einer doppelten Ladung Schrot, die zwei der Banditen aus ihren Sätteln fegte.

Angel hatte den Karabiner in ihren Händen und feuerte, bis der Lauf rot glühte. Als das Magazin nahezu leer war, kippte Flynn, offensichtlich erneut getroffen, gegen sie. Sie wollte gerade versuchen, ihn zu stützen, als einer der Outlaws auf das Dach der Kutsche kletterte und auf sie zu sprang.

Sie drehte sich um und schwang die Winchester wie eine Keule in seine Richtung. Der aufgeheizte Lauf traf ihn mit voller Wucht seitlich im Gesicht, riss die Maske zur Seite und versengte seine Haut. Er heulte vor Schmerz und Wut auf und hob seine Pistole, aber Flynn packte ihn, bevor er schießen konnte. Beide Männer stürzten von der Postkutsche.

Angel sah sich um, halb betäubt von der Gewalt, die über die Kutsche hereingebrochen war. Ihr wurde bewusst, dass die Sättel der Pferde der Outlaws alle leer waren. Der Boden war übersät mit menschlichen Körpern in verrenkten Positionen. Der Kampf war vorbei — bis auf den erbitterten Nahkampf zwischen Morgan Flynn und dem letzten der Banditen.

Als Angel vom Bock hinunterschaute, krachte plötzlich ein Schuss, und beide Männer erstarrten. Es war Flynn, der wackelig auf die Beine kam, auf das zerschlagene Gesicht des anderen Mannes hinunterblickte und sagte: „Das geschieht dir recht, Thorpe, weil du versucht hast, mich an den Galgen zu bringen!“

Das Hemd des anderen Mannes war auf der Vorderseite dunkelrot von Blut. Sein Gesicht war schon vom Tod erschlafft. Seine Finger umklammerten kraftlos immer noch seine Pistole, die Pistole, die seinem eigenen Leben ein Ende gesetzt hatte, als es Flynn gelungen war, den Lauf herumzudrücken und seinen Finger an den Abzug zu bringen.

An der Seite von Lew Thorpes Gesicht befand sich eine Stelle, wo die Haut verbrannt war, ein Brandmal von dem Lauf der Winchester, die Angel benutzt hatte, um ihm einen Hieb zu verpassen.  

„Wie schlimm sind Sie getroffen, Flynn?“ fragte Angel mit einer Stimme, die vom Einatmen von so viel Pulverrauch heiser geworden war.

Er sah auf das Blut auf seinem eigenen Hemd hinunter und grinste sie dann an. „Das? Das ist nichts. Nur ein kleiner Kratzer an meiner Seite.“

„Sie haben schon ziemlich viel Blut verloren, erinnern Sie sich?“

Er schwankte plötzlich und sagte: „Also, ich … ich könnte vielleicht tatsächlich ein bisschen Halt gebrauchen.“

Sie sprang von der Kutsche herunter und nahm seinen Arm, um ihn zu stützen, und während sie dies tat, legte er seinen anderen Arm um sie und zog sie damit dicht an sich heran. Sie schnappte überrascht nach Luft, dann senkte sich sein Mund auf ihren, und sie konnte keinen weiteren Laut von sich geben, als er sie küsste.

Als er sie losließ und einen Schritt zurücktrat, fand sie keine Worte, aber er glich das aus, indem er feixte und sagte: „Jetzt, wo du weißt, dass ich nicht derjenige bin, der deinen Pa angeschossen hat, und wir mit diesem Haufen hier aufgeräumt haben, ist es nicht mehr nötig, dass ich dich nach Antelope Crossing begleite. Das kriegst du schon ganz gut alleine hin.“

„Warte … was?“

Er schnappte sich die Zügel eines der Pferde der Outlaws und schwang sich in den Sattel. „Ich möchte dich nicht in Versuchung führen, mich den Behörden zu übergeben“, fuhr er fort. „Es gibt immer noch ein paar Dinge in meiner Vergangenheit, die nicht ans Tageslicht gebracht werden müssen. So oder so, du wirst damit beschäftigt sein, die Kutschenlinie zu leiten, während dein Vater wieder auf die Beine kommt. Aber wir sehen uns wieder, Angel. Ich schätze, darauf kannst du dich verlassen.“

„Warte!“ rief sie ihm zu, als er das Pferd wendete. „Flynn! Morgan!“

Er entbot ihr einen Gruß, indem er mit einem Finger den Verband berührte, den sie ihm zuvor um den Kopf gebunden hatte, und dann galoppierte er in Richtung der fernen Prophet Mountains in die Hügel und war weg.

Angel blieb nichts anderes übrig, als zurück auf die Postkutsche zu klettern, die Leichen der Outlaws, die überall herumlagen, zurückzulassen und nach Antelope Crossing weiterzufahren. Sobald sie nach Buffalo Flat zurückgekehrt sein würde, konnten Sheriff Gavin und der Bestatter herkommen und die Toten einsammeln.

Sie würde dem Gesetzeshüter auch davon berichten, wie Thorpe sich als Morgan Flynn ausgegeben hatte. Das würde Flynns Namen zwar keineswegs völlig reinwaschen, aber es war nicht richtig, dass er für Verbrechen verantwortlich gemacht wurde, die er nicht begangen hatte — auch wenn er in vielerlei Hinsicht ein unerträglicher Angeber war!

Ob unerträglich oder nicht, die Erinnerung an jenen unerwarteten Kuss begleitete sie den ganzen Weg bis zur Wegekreuzung und auch zurück nach Buffalo Flat.


© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.


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