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Freitag, 18. April 2025

STORY: Für einen anderen ein Meer (Vonn McKee)


... für einen anderen ein Meer

von Vonn McKee

(Original: "Another Man's Sea", 2024 - Übers.: Reinhard Windeler, 2025)


Die vielseitig talentierte Verfasserin dieser Geschichte haben wir schon aus Anlass der ersten Short Story, die das AKWA Journal von ihr veröffentlichte, ausführlich vorgestellt.  
„Another Man’s Sea“ erschien im August 2024 in der von Richard Prosch herausgegebenen Anthologie „Through Western Storms“. Und daher wird es auch in ihr am Ende stürmisch, und zwar nicht nur im Hinblick auf das Wetter.  
Tim DeForest, selbst Autor, kommentierte mit verständlichem Überschwang: „Der letzte Absatz ist die in herzzerreißender Weise bittersüßeste Passage, die ich jemals gelesen habe.“ Denn die Geschichte ist wirklich ebenso tieftraurig wie berührend und wunderschön.

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In der kleinen Bar am Wegesrand herrschte reges Gedränge, Menschen rempelten und bahnten sich mit ihren Ellenbogen einen Weg durch den Raum auf einen dünnen Barkeeper mit Halbglatze zu, der flache Gläser halbvoll befüllte und auf die rissige Holztheke knallte. Von Zeit zu Zeit strich er Münzen in die Tasche seiner Schürze, nahm die geleerten Gläser, wischte sie mit einem schmutzigen Handtuch aus und wiederholte den Ablauf … ein Minenarbeiter nach dem anderen und dazwischen ein Penner von der Eisenbahn.

Die Luft, die für Dezember trocken und heiß war, bot wenig Erfrischung, was Sauerstoff oder Bewegung anging, und der pudrige Staub, den sie mit sich führte, verdunkelte die Lampen zu einem schmuddeligen Gelb. Zwei Gläser klirrten, und warmes Nass schwappte auf erhobene Unterarme mit hochgekrempelten Hemdsärmeln.

„Sag’ deiner hübschen Frau, sie soll an Heiligabend am Kamin warten. Der Weihnachtsmann bringt etwas ganz Besonderes. Etwas, mit dem sie nicht –“

Der Rest ging in einem schallenden Gelächter unter, das schließlich in eine derbe Version eines Weihnachtsliedes überging.

Ein alter Mann mit dunklem Gesicht und buschigen Augenbrauen lehnte in sich zusammengesunken an der Adobewand des Schankraums und beobachtete die feiernden Betrunkenen mit trübem Blick. Ab und zu wich er solchen aus, die stolperten oder eine Faust in seine Richtung schüttelten. In seiner eigenen Faust hielt er weder ein Getränk noch ein Geldstück, um sich eines zu kaufen.

Noch elf Tage bis Weihnachten. Aber was bedeutet Weihnachten für dich, Hadji?

Hadji. Er war schon so lange nicht mehr mit diesem Namen angesprochen worden, dass er überrascht war, dass er ihm überhaupt in den Sinn kam. Sein Name war, wie alles andere, was er in dieses trostlose Land mitgebracht hatte, lächerlich gemacht, verstümmelt und entstellt worden. Aber in letzter Zeit, je mehr sich das Alter bemerkbar machte, fielen ihm umso öfter Wörter aus längst vergangenen Zeiten ein – und von Orten, weit entfernten Orten, deren Namen ein Hochgefühl auslösten, wenn er sie auf seiner Zunge formte.

Sie hatten ihn barbarisch genannt.

Sie sind die Barbaren. Ha! Sie haben keine Ahnung von der Schönheit, die ich kenne und die ich gesehen habe.

Er beobachtete die Zecher. Weder interessierten sie ihn noch widerten sie ihn an. Eine Stunde verging. Nach und nach ging den schwer Betrunkenen das Geld für den Alkohol aus oder sie wurden schläfrig und waren nicht mehr in der Lage zu sprechen. Sie schwankten auf die Tür zu, stießen dabei leicht gegen andere Betrunkene und gelegentlich gegen einen Pfosten oder eine Wand und verschwanden in die Nacht, in der man sich immer weniger wie in einem Ofen vorkam, je später es wurde. Als die Tür wieder einmal aufging, um einen abgefüllten Gast hinaus zu lassen, stürzte jedoch eine andere atemlose Gestalt herein. Sie stolperte zum Tresen, hielt die Hände vor sich ausgestreckt sowie Augen und Mund weit aufgerissen.

„Helft … mir!“

Es dauerte einen Moment, bis der Barkeeper den Mann bemerkte, aber schließlich drangen dessen heisere Schreie an sein Ohr.

„Ich – ich habe dieses … ich hab’s gesehen …“

Mit fuchtelnden Armen zeigte er in die Höhe, um etwas von enormer Größe zu beschreiben. „Ich hab’s gesehen … ein riesiges fürchterliches Ding … ein Ungeheuer …“

Der Barkeeper langte über die Theke und legte seine Hände auf die Schultern des verängstigten Mannes. „Na, na. Hol’ erst ’mal Luft, und dann erzähl’ uns – was ist passiert? Was hast du gesehen?“ 

Der Mann, der die staubbedeckte Kleidung eines Minenarbeiters trug, fixierte seinen Blick auf etwas anderes als den Barkeeper, der ihn festhielt. Etwas, das sich ihm wie ein Bild eingebrannt hatte.

„Ich bin … weg von … von meinem Claim. Vor zwei Tagen, nein, vor drei. War fast schon dunkel. Kein Glück gehabt … die ganze Woche. Zwischen hier und den, den …“ Er hielt seine zitternden Hände vor sich aneinander, die Handflächen zeigten nach außen, die Daumen berührten sich.

„Und da war das?“ fragte der Barkeeper. Die Augen des Minenarbeiters starrten immer noch über den Raum hinaus, der ihn umgab.

„Die, die … Gipfel.“ Er hielt wieder seine Hände hoch.

Jemand rief: „Den kenne ich! Eagletail! Eagletail Peak!“

Südöstlich der Stadt gab es einen solchen Gipfel, den die Elemente in die Form der Schwanzfedern eines Adlers gehauen hatten.

„Ist er das, Mann?“ fragte der Barkeeper. „Meinst du den Eagletail Peak?“

Der Minenarbeiter nickte langsam, dann wich er ängstlich zurück, kauerte sich zusammen und schien kleiner zu werden. Die Männer versammelten sich um ihn, hielten ihn mit ihren Händen aufrecht und sprachen ihm mit „Na, na“ und „Ist ja gut“ Mut zu.

Sogar Hadji richtete sich auf und verließ die Wand, an der er den ganzen Abend gelehnt hatte. Er trat näher an den verängstigten Mann heran, neugierig darauf zu erfahren, Zeuge welchen Ereignisses er geworden war.

Der Mann sah nach links und rechts. Endlich schien er sich auf die ungefähr ein Dutzend schmutzigen teilnahmsvollen Gesichter zu konzentrieren, die sich in seiner Nähe versammelt hatten. Seine Geschichte sprudelte mit dramatisch ansteigender Stimme und mit dramatischen Handbewegungen aus ihm heraus.

„Meine Eselin, sie hat sich erschrocken. Schrie wie eine Frau! Aaaaiiiihhh!“ Er legte seine Hände wie einen Trichter an seine Lippen, um das Geräusch nachzuahmen. „Ich konnte sie nicht festhalten. Sie hat sich umgedreht und ist weggelaufen.“

Einer der Zuhörer beugte sich vor. „Bist du ihr hinterher? Bist du auch weggelaufen?“

„Ich konnte mich überhaupt nicht bewegen. War völlig durcheinander. Ich … weiß nicht, warum. Aber dann … habe ich nach vorne geguckt. Und dann hab’ ich’s gesehen …“ Er wackelte mit dem Kopf hin und her und bewegte seine Arme in langsamen Bögen nach vorne, als würde ein Pferd ausgreifende Schritte machen. „Das Biest war riesig. Und ging ganz merkwürdig. Sein Maul … es hatte eine Zunge … aus Feuer!“

Das Publikum holte fast unisono Luft. Die Männer begannen darüber zu reden, was diese Kreatur sein könnte.

„Vielleicht ein Wildschwein?“ sagte einer; „Ein Gabelbock?“ ein anderer.

„Nein, nein, nichts davon“, rief der Minenarbeiter.

„Das war ein Bär. Oder ein Pferd –“

„Oh nein … viel größer!“

Der Barkeeper war von hinter dem Tresen hervorgekommen und hielt dem Minenarbeiter ein Glas vor dessen immer noch zitternde Hände. „Du solltest das trinken. Es wird deine Nerven beruhigen.“

Der Mann sah verwirrt aus, als hätte er noch nie ein Glas Roggenwhisky gesehen, nahm aber einen Schluck. Er pustete. Nach einem zweiten Schluck pustete er wieder, holte tief Luft und atmete aus. Die Spannung in seinen Schultern und in seiner Körperhaltung ließ nach. Alle im Raum waren still und beobachteten, wie die Hände des Mannes das Glas umklammerten, wie er seine Kiefer zusammenpresste und wieder lockerte. Es dauerte eine Weile, bis er wieder sprach.

„Woran ich mich erinnern kann … an den Gestank.“

Von einem der Männer kam ein leises Glucksen.

„Der fürchterlichste Gestank, den ich jemals gerochen habe.“

„Bären stinken“, sagte jemand. „Das muss ein Bär gewesen sein.“

Der Minenarbeiter schüttelte den Kopf. „Das war kein Bär.“

„Was dann?“

Er zuckte die Achseln. „Lange Beine. Langer … ganz langer Hals. Sah so unheimlich merkwürdig aus. Es war … es hatte … rotes Fell.“

Noch mehr Bestürzung und Gerede.

„Und dann … dann kam es auf mich zu! Ohhhh!“ Er taumelte zur Seite und verdrehte die Augen. Jemand stützte ihn und gab ihm einen Klaps auf die Wange.

„Schon gut, Mann.“

„Ohhhhhhh“, stöhnte er, „hätte mich zertrampelt. Ich … bin hinter ein paar … Felsen gekrochen.“ Hadji war sich nicht bewusst, dass er sich bis auf wenige Meter an den Minenarbeiter heranbewegt hatte, um jedes Wort mitzubekommen. Jetzt klingelten ihm die Ohren, und er dachte, er würde ohnmächtig werden.

Muss hier ’raus … kann nicht atmen. Lasst mich … durch … 

Er drängte sich durch den kleinen Menschenauflauf, erreichte die Tür und stolperte auf die Stufen. Er prallte auf die Wüstenluft, die jetzt abgekühlt und schneidend war, wie gegen eine Wand. Hadji stand stocksteif da und blickte die ebene Straße hinunter zum Rand der Stadt und darüber hinaus … bis zum schwarzen Himmel, an dem die schillernden Sternbilder funkelten. Seine Augen fanden die Himmelsrichtung, von der er wusste, dass es Südosten war, die Richtung, in der der Berggipfel lag, der wie die Schwanzfedern eines Adlers geformt war.

Der Gestank.

Hadji schüttelte den Kopf. Lange Beine. Ganz langer Hals. Konnte es sein, dass …?

Jedes Wort des Minenarbeiters wiederholte sich in seinem Kopf. Er schloss die Augen und erinnerte sich an einen anderen Abend in der Wüste vor langer, langer Zeit. Alles war verloren. Alles. So weit entfernt von zu Hause. So allein. Das war die Nacht, in der er alles von sich geworfen hatte, was er gewesen war. Auch die allerletzten Spuren seiner Vergangenheit hatte er weggeworfen – nein, verjagt hatte er sie.

Es hatte rotes Fell.

Hadji fühlte ein Frösteln, das kälter als die Nachtluft war. Die Haare in seinem Nacken sträubten sich, und jede Ader pulsierte vor Adrenalin.

Al-Sharood … der Unfassbare! Er lebt! 

1857

Er beobachtete, wie Beale das Fernrohr an sein Auge hielt und seinen Blick über die trockenen kargen Ebenen schweifen ließ, die mit Felsformationen übersät waren, die wie abgebrochene Zähne aufragten. Weit dahinter lagen niedrige, schroffe Hügel, die in der Ferne lavendelfarben schimmerten. Beale überprüfte seinen Messingkompass und stieß einen Seufzer aus. Er klemmte sich das Fernrohr unter den Arm und machte mit einem Bleistift Eintragungen in ein kleines Tagebuch. Er steckte das Buch in seine Manteltasche und machte eine Drehung, um sich mit entschlossener Miene der müden Gruppe wartender Männer zuzuwenden.

„Noch fünf Meilen. Da vorne ist eine Schlucht. Vielleicht Wasser, vielleicht auch nicht. Aber wir werden dort unser Lager aufschlagen, so oder so.“

In diesem Moment zerriss der schrille Schrei eines Pferdes die sengende Luft. Dann war zu hören, wie ein Mann fluchte, und ein tiefes, gurgelndes Gronnnk. Hadji Ali drehte sich um, gerade rechtzeitig, um zu sehen, wie ein bulliger Soldat, Lawford, an den Zügeln seines scheuenden Braunen zerrte. Die Augen des Tieres waren vor Schreck verdreht und weiß, als es sich bemühte, sich loszureißen. Kaum, dass Lawford den Braunen beruhigt hatte, sprang er aus dem Sattel und ging mit forschem Schritt auf Greek George zu, einen hageren Mann, der das Ende eines Seils hielt.

„Du! Wenn du dieses dreckige Viech nicht von meinem Pferd fernhältst, erschieße ich euch beide!  Das schwöre ich! Bleibt hinten, ihr alle! Ich kann euch auf den Tod nicht mehr ausstehen – euren Anblick und euren Gestank!“

Das Viech am anderen Ende von Greek Georges Seils senkte seinen Kopf und seinen langen Hals hinab auf Menschenhöhe und spuckte einen faustgroßen Klumpen schaumigem weißen Schleims aus. Er klatschte auf Lawfords Stirn und tropfte in klebrigen Fäden in Richtung seiner Augen. Der Soldat wischte ihn mit den Ärmeln seines Mantels weg, stampfte wild auf und fluchte.

Hadjis und Greek Georges Blicke trafen sich, beide unterdrückten ein Grinsen. Ein lautes Knacken erregte ihre Aufmerksamkeit. Mit gerunzelter Stirn hielt Beale das zusammengeschobene Fernrohr in seinen Händen.

„Aufgesessen, Lawford“, sagte er. „Wir sind seit zwei Wochen unterwegs. Sie sollten inzwischen wissen, wie diese Art von Konfrontation ausgeht.“

Innerhalb weniger Minuten war die bizarr aussehende Karawane wieder in Bewegung, mit dem schneidigen Ned Beale an der Spitze, ungefähr fünfzig berittenen Männern hinter ihm, gefolgt von einem halben Dutzend Kameltreibern, die sich entlang einer Reihe von zweiundzwanzig ungeschlachten Lasttieren verteilten, die alle mit Packen und Wasserfässern beladen waren. Als der Trupp einen ebenen Sandstreifen überquerte, löste sich Beale aus der Formation und winkte die Kolonne weiter. Er wendete sein Pferd und ließ sich an das Ende der Reihe zurückfallen. Als die Kameltreiber ihn passierten, lenkte er seinen Wallach neben ein schwerfälliges Dromedar namens Maya, allerdings in respektvollem Abstand. Hadji ging nebenher, die lockeren Hosenbeine seines türkischen Şalvar flatterten in der heißen Brise. 

„Hi-Jolly!“ rief Beale und benutzte dabei die von den Amerikanern entstellte Version von Hadji Alis Namen. „Erklär’ mir ihre Gangart. Mir ist aufgefallen, dass sie ihre Füße senkrecht nach oben anheben, anstatt sie vorwärts durch den Sand zu ziehen.“

Ein Wandgemälde in Barstow, California, an der Route 66

Hadji hatte schon so lange mit Kamelen zu tun gehabt, dass ihm nur das Ungewöhnliche auffiel. Ein Hinken oder ein Schonen eines Hufs wegen eines zwischen den Zehen steckenden Steins.

„Ja, Leutnant.“ Er hatte gehört, dass die anderen Männer Beale mit seinem früheren militärischen Rang angesprochen hatten. „Das haben Sie gut beobachtet. Darum wirbeln sie keinen Staub auf, wie es Pferde und Menschen tun.“

Beale nickte. „Ich muss sagen, ich bin inzwischen von diesen großartigen Geschöpfen fasziniert. Sie gedeihen in der Hitze und ernähren sich, indem sie an Pflanzen knabbern, die ich nicht als kaubar, geschweige denn als nahrhaft bezeichnen würde. Ja, an der letzten Wasserstelle schienen sie kaum daran interessiert zu sein anzuhalten, um zu trinken, während die Pferde völlig erschöpft waren. Und schau dir das an! Das müssen über achthundert Pfund sein, die auf dem Rücken von der da festgeschnallt sind. Einfach herrlich.“

Beale warf einen Blick nach vorn, als wollte er die Richtung überprüfen.

„Zum Teil auch dank der Dienste dieser seltsamen, nützlichen Viecher“, sagte er, ,,wird Präsident Buchanan seine Wagenstraße quer durch diese, hmmm … diese elende verdammte Wüste bekommen. Die Erkundungsexpedition wäre ohne sie vielleicht unmöglich gewesen.“

Hadji Ali zuckte die Achseln. „Sie fühlen sich hier zu Hause, genau wie ich. Was für den einen Mann eine Wüste ist, Leutnant …“ – er strich mit seinem Arm über den Horizont – „ist für einen anderen ein Meer.“

Der Leutnant lächelte. Er ritt schweigend und beobachtete Mayas lockere, leichte Schritte. Hadji amüsierte sich über die Bewunderung des Mannes und begann selbst, sich auf die Bewegungen des Kamels zu konzentrieren. Ihr Kopf und ihr Hals wippten bei jedem Schritt so unbekümmert, als würde sie zum Vergnügen einen Nachmittagsspaziergang machen und sich nicht mitten auf einer Wanderung von mehr als tausend Meilen befinden. Wenn Maya es wüsste, dachte Hadji, würde es für sie keinen Unterschied machen.

Sie ging einfach, weil es das war, wozu sie geboren war.

****

Er hatte weder ein Maultier noch ein Pferd.

Und hier gibt es auch keins, das zu stehlen sich lohnen würde.

Hadji ließ seinen Blick über die Reihe von klapperigen Eseln und sonstigen Reittieren schweifen, die vor der Taverne angebunden waren. Die Nacht war klar und der Mond hell. Der Minenarbeiter sagte, es wäre drei Tage entfernt. Hadji würde es in zwei schaffen, vielleicht sogar in weniger. Er würde zu Fuß dorthin gehen und laufen, wenn es möglich war. Es spielte keine Rolle, dass sein Körper mehr als siebzig Jahre lang Entbehrungen ertragen hatte. Er war zäh. Da konnte man jeden Soldaten oder Frachtführer fragen, der mit ihm zusammengearbeitet hatte.

Er eilte zu der Hütte, in der er schlief und seine wenigen Habseligkeiten aufbewahrte. Sie war ein Lagerraum gewesen, der zu einer Mine gehörte, die vor Jahren aufgegeben worden war. Mittlerweile neigte sie sich bedenklich und bestand sie nur noch aus einem Dutzend krummer Wandbretter voller Risse, die an verrosteten Nägeln hingen.

Drinnen durchsuchte Hadji einen Haufen und fand seine Feldflasche. Eine Dose mit weißen Bohnen und ein Messer vom Regal wanderten in einen zerschlissenen Rucksack. Er verharrte und suchte den Lehmboden ab, der in blassen Streifen vom Mond erhellt wurde. Er nahm seinen Gebetsteppich, der zusammengerollt in der Ecke stand, befestigte ihn an den Lederschnüren seines Rucksacks und stahl sich davon. Er ging an der kleinen Ansammlung von Gebäuden vorbei, die jemand einfallslos Quartzsite genannt hatte, vorbei an der Taverne, wo die letzten Gäste sich an der Tür aufhielten. Hadji blieb an einem Wassertrog stehen, um die Feldflasche aufzufüllen, schaute vorsichtig über seine Schulter und schlich dann die im Schatten liegende Straße entlang und hinaus in die raue, von Steinen übersäte Weite der Wüste.

****

Etwas weckte ihn, aber er wusste nicht, was. Hadji rieb sich die Augen und setzte sich auf. Er sah nichts als Felsen und windgepeitschten Sand, der mit glitzernden Quarzsplittern gesprenkelt war. Skelettartige Ocotillostängel rasselten bei jedem Windstoß. Er erinnerte sich nicht daran, am Fuße des knorrigen Saguaro Schutz gesucht zu haben, der über ihm aufragte. Sein Blick wanderte nach Osten, wo die Bergwände rot-orange glühten. Sonnenuntergang!
Hadji wandte sich dem Horizont im Westen zu. Die feurige Sonnenscheibe war zur Hälfte hinter den Hügeln versunken. Er suchte wie wild nach seinem Rucksack und fand ihn einige Meter entfernt unter einem dürren Kreosotbusch. In großer Eile krabbelte er zu ihm hinüber und löste die Schnüre, damit er den Gebetsteppich greifen konnte. Als das geschmolzene Rot im Westen an Kraft verlor, breitete Hadji den Teppich auf dem Sand aus, um das Mahghrib zu beten. Wie viele Tagesgebete hatte er auf dieser Reise versäumt?

Seit lange vor dem Morgengrauen war er unterwegs gewesen, langsamer und schneller, schneller und langsamer, fast ohne einmal anzuhalten. Spät am Nachmittag musste ihn die Erschöpfung übermannt haben. Er hatte keine Erinnerung daran, sein Gepäck fallen gelassen oder sich hingelegt zu haben.

Hadji erhob sich vom Gebetsteppich und kramte die Bohnen und das Messer aus dem Rucksack. Er öffnete die Dose und brach ein Blatt von einer Agave in der Nähe ab, um es als Löffel zu verwenden. Seit dem Vortag hatte er nichts mehr gegessen, und die Bohnen waren, obwohl nicht aufgewärmt, ein Festmahl für seinen leeren Magen. Als er fertig war, nahm er einen langen Schluck aus der Feldflasche und stand auf.

Im Dunkeln würde er Al-Sharood niemals finden. Aber für kurze Zeit gab es noch ausreichend Licht, um weiterzugehen. Hadji drehte sich langsam einmal im Kreis und suchte die Landschaft ab. Er trank nochmals und verstaute die Feldflasche. Hadji legte die Hände wie einen Trichter vor den Mund, blickte zu den Bergen hinüber und gab einen teils gesungenen und teils ausgestoßenen Schrei von sich, Alheda'a … den für jeden Kameltreiber einzigartigen Kamelruf. Die bebenden, uralten Töne aus Hadjis Heimatland erschallten in all ihrer Ursprünglichkeit und Klarheit über der Wüste.

Wird sich Al-Sharood erinnern?

Er wiederholte den Ruf immer und immer wieder, aber kein Kamel erschien. Der Wind trug keine Antwort herüber, kein Grunzen und kein Brüllen.

Hadji warf sich den Rucksack über die Schulter und setzte seinen Weg zu der noch viele Meilen entfernten Bergkette fort. Auf den gespaltenen Gipfel zu, der die Form der Schwanzfedern eines Adlers hatte.

Ich komme, alter Freund. Ich komme.

1869

Gila Bend. Ein Ort, so gut wie jeder andere.

Hadji Ali ritt auf Maya und führte ein mit Seilen miteinander verbundenes weiteres Dutzend Kamele in die dunkler werdenden Berge von Sonora. Was Wüsten anging, war sie gastfreundlicher als die meisten, die er gesehen hatte. In den Vertiefungen und auf den felsigen Klippen gab es reichlich Futter und Schutz. Es war das Beste, was er für sie tun konnte. Dennoch wuchs seine Verzagtheit mit jedem Schritt. Er blickte zurück auf die Reihe der einhöckerigen Dromedare und der Trampeltiere, deren zwei zottelige Höcker beim Gehen wackelten. Braun, gelbbraun, gelb, rotbraun. Die frühe Dämmerung dämpfte ihre Farben, aber er kannte sie auswendig. Sie waren allesamt alte Freunde für ihn.

Die Kamele bewährten sich auf Edward Beales Expedition zur Erkundung einer Wagenstraße. Doch dann war der Bürgerkrieg gekommen, und der Fokus der Regierung verlagerte sich von der Erforschung auf das Überleben, als das Land in Nord und Süd zerrissen wurde. Einige Kamele wurden in die Wildnis entlassen, andere an potenzielle Frachtführer verkauft. Hadji Ali war einer der ersten Käufer in der Schlange.

Er lieferte Salz und andere Vorräte an Bergbaulager. Wasser an Postkutschenstationen. Beförderte Post. Aber genau wie er passten die Kamele nie richtig in die Umgebung. Pferde hatten Angst vor ihnen. Ebenso Maultiere, Esel und Schweine. Wie oft hatten sie schon für Chaos und Zerstörung gesorgt, nur weil sie durch eine Stadt oder auf einer Postkutschenroute gingen?

Im Gegensatz zum weichen Sand der Wüste, aus der sie kamen, war dieses Land steinig und hart für die Hufe der Kamele. Hadji fertigte Schuhe aus Sackleinen an, aber sie halfen nur wenig.

Das großartige Kamel-Experiment der US-Armee war ein Fehlschlag. Es gab jetzt eine Eisenbahn, die den Osten mit dem Westen verband. Die Regierung brauchte seine nützlichen Tiere nicht mehr, um bei der Erkundung von Routen zum Pazifik zu helfen.

Sie rasteten in einem breiten Tal, wo Unmengen von Salbeibüschen die Rauheit des Landes milderten. Schwaden von Wildblumen des späten Frühlings blühten zwischen den riesigen Saguaros. Goldene Mohnblumen, violetter Eulenklee. Sogar die stacheligen Polster des Feigenkaktus zu seinen Füßen trugen hübsche Blüten in Rosa oder Gelb.

Hadji stieg ab und rief die Kamele zu sich. Einem nach dem anderen löste er die Seile und nahm er ihnen die Halfter ab. Er rieb ihnen die Nasen und Ohren und sprach ihre Namen aus, während er ging.

„Ach ja, du warst immer die Königin der Karawane, schöne Maya. Es war mir eine Ehre, dir zu dienen. Soughan, Tayyara … meine schnellsten Kamele. Ihr könnt jetzt soweit laufen, wie ihr wollt. Oh, weiser Salouf, der selbst im trockensten Land immer Trinkwasser finden konnte. Aklu, gab es überhaupt etwas, das du nicht fressen würdest? Ha, sieh dir all diese Blumen an, an denen du knabbern kannst! Aber friss nicht den Kaktus, hörst du?“

Die Kamele antworteten, indem sie ihn mit ihren Nasen anstupsten und freundlich grunzten, und sie blieben in der Nähe, obwohl sie vom Seil befreit waren. Hadji setzte seinen Weg entlang der Reihe fort.

„Al-Sharood, groß und rot, immer so schwer einzufangen! Du bist jetzt frei, mein Ausreißer.“

Als das letzte Kamel freigelassen dastand, stellte Hadji sich auf einen flachen Felsen.

„Ihr könnt jetzt gehen, meine Getreuen. Yadhhab! Geht!“ Er wedelte mit den Armen, dann klatschte er laut in die Hände. „Yadhhab!“

Sie liefen nicht los, sondern drehten sich um, immer nur ein paar zur gleichen Zeit, und entfernten sich vom Kreis der Herde. Hadji winkte und rief immerzu, und schließlich trabte Tayyara in eine Senke und verschwand aus dem Blickfeld. Die übrigen zerstreuten sich, meist in die Richtung, in die Tayyara gegangen war.

Hadji blieb noch etwas länger auf dem Felsen und beobachtete sie. Als er sich sicher war, dass sie nicht mehr zurückschauten, drehte er ihnen den Rücken zu und machte sich auf den Weg zu seinem Lager. Um nicht von Verzweiflung erdrückt zu werden, zwang er sich, nur auf die Geräusche um ihn herum zu achten … das stakkatoartige Zirpen des Kaktuszaunkönigs, die zitternden Schreie von Turmfalken über ihm, das aufgeregte Gespött eines Regenpfeifers, als Hadji in der Nähe seines Nestes auf dem steinigen Boden ging. Das Knirschen seiner Stiefel, das Keuchen seiner Atemzüge, ein und aus. Die Laute des Alleinseins.

****

Er taumelte jetzt mehr, als dass er ging, und nachdem er in der Dunkelheit in einen Feigenkaktushaufen nach dem anderen gestolpert war, nahm er die Stiche ihrer Stacheln kaum noch wahr. Seine Atemzüge waren schwer und unregelmäßig, und seine Lungen brannten jedes Mal, wenn er die kalte Luft einsog.

Sollte anhalten und mich ausruhen … werde ihn so auf gar keinen Fall finden. Noch eine Meile …

In lichten Momenten dachte er an die Wendungen in seinem Leben seit dem Abend, an dem er die Kamele freigelassen hatte. Er hatte sich als Goldschürfer versucht. Die Armee setzte ihn ab und zu als Maultierfrachtführer ein. Und dann war da noch Gertrudis. Er erfuhr nie, warum sie einwilligte, ihn zu heiraten. Nach neun Jahren und drei Kindern konnte er das häusliche Leben nicht länger aushalten und verließ er seine Familie – keine Entscheidung, auf die er stolz war.

Wann habe ich dich das letzte Mal gesehen, süße Gertrudis? Vor drei Jahren? Vor vier? Tucson. Ich habe dich angefleht, mich zurückzunehmen. Natürlich hast du nein gesagt. Ich mache dir keine Vorwürfe, mein Schatz. Ich bin deiner Liebe oder deiner Vergebung nicht würdig.

Hadjis alter Körper schrie nach Ruhe. Er kam an einen Felsvorsprung und blieb stehen. Als er in seinem Rucksack kramte, fanden seine Finger ganz unten ein paar Schwefelhölzer. Er sammelte abgestorbene Hartholzzweige, hatte bald ein Feuer am Brennen und grub neben den Felsen ein flaches Bett in den Sand. Das Feuer würde nicht die Nacht brennen, aber zumindest würde er eine Weile warm schlafen.

Als er die Augen schloss, wanderten seine Gedanken von der Vergangenheit in die Gegenwart, alles eine verschwommene Zeitlinie. Es gab kein Damals oder Heute. Es gab nur diesen Moment unter diesen Sternen, neben diesem knisternden Feuer.

Ach, Al-Sharood, wie ist es dir im Laufe der Jahre ergangen? Auch du bist jetzt ein alter Mann. Bist du einsam? Bist du, wie ich, dazu verdammt, wie ein Schiff, dessen Anker sich gelöst hat, auf diesem Meer aus Sand umher zu treiben?
 
****

Ein Windstoß blies Sand in Hadjis Gesicht. Wach geworden öffnete er die Augen halb und hielt seinen Unterarm vor sie.

Im Dezember? Es war spät für einen Sandsturm, aber die Hitze der letzten paar Tage und die Kälte, die über Nacht einzog, waren eine deutliche Einladung für einen Haboob. Hadji war stolz darauf, dass die Einheimischen den arabischen Namen verwendeten.

Schon wehte Sand gegen seinen Körper, und seine Zähne knirschten und seine Augen schmerzten. Er stand auf, schüttelte sich und zog sich den Rucksack über die Schulter. Er konnte die Berge nicht sehen, aber da er wusste, dass der Wind aus dem Westen kam, begann er, mit dem Rücken zum Wind zu gehen. Innerhalb einer Stunde wurde der Sturm schlimmer, und im Wirbel des auf ihn einprasselnden Sandes verlor er die Orientierung. Mit ausgestreckten Händen schritt er vorsichtig voran, in der Hoffnung, dass er sich in einer geraden Linie bewegte. Sein einziger Segen war, dass die Wucht des Windes, sofern sie ihn nicht zu Boden warf, seinen müden Körper vorwärts beförderte.

Seine Finger berührten Gestein, obwohl er es nicht sehen konnte. Er benutzte beide Hände, um seinen Weg zu ertasten. Er erkundete die Oberfläche erst auf der rechten, dann auf der linken Seite. Es war ein einzelner Felsbrocken, dachte er, und er klopfte auf ihn, bis er rechtwinkelig um eine Ecke führte. Hadji folgte der Kontur des Felsbrockens und stellte erleichtert fest, dass er nochmals um eine Ecke führte und somit in seiner Aushöhlung Schutz auf der dem Wind abgewandten Seite bot.

Das Heulen des Windes war nicht weniger geworden, aber wenigstens wurde er nicht mehr von Sand und Wüstenteilchen verschlungen. Hadji spuckte den Sand aus, der in seinem Mund backte, und nahm einen Schluck aus der fast leeren Feldflasche. Sein Atem kam in kurzen keuchenden Stößen. Er sackte gegen den Felsen und bedeckte sein Gesicht mit den Händen, dann ließ er sich auf sein Gesäß sinken. Er wusste, dass er nicht mehr weitergehen konnte.

Sein Kopf und seine Brust schmerzten, und ein schrilles Klingeln erfüllte seine Ohren. Irgendwie wusste er, dass er nicht mehr lange bei Bewusstsein bleiben würde.

Was sollte er tun, was sollte er tun?

Es war, wie es sein sollte. Er war in der Wüste geboren worden, wenn auch weit weg von diesem Ort, und er hatte sein Leben damit verbracht, durch ihre Schluchten, Senken und Dünen zu wandern. Sie waren eins, er und der Sand und die Sonne und der Wind. Jetzt würde er ihnen seinen Körper anvertrauen.

Hadji hob die Feldflasche auf und trank den letzten Schluck Wasser, um sich auf sein Sterbegebet vorzubereiten. Doch bevor er sich nach Osten hinkniete, versuchte er die Wand aus braunem Staub mit seinem Blick zu durchdringen. Ein letztes Bestreben regte sich tief in seinem Innersten. Er holte tief Luft, hielt wieder die Hände wie einen Trichter an den Mund und ließ seinen Kameltreiberruf heraus, den, der ihm allein zueigen war, den nur seine Kamele kannten.

Zuerst das Stakkato, ah uh eh eh eh eh, dann das uralte Klagelied, das er von seinem Vater gelernt hatte. Seine Stimme war schwach und ein wenig rau, aber er sang es trotzdem … zweimal, dreimal … eine zitternde, eindringliche Melodie mit Worten in einer Sprache, die er kaum gehört hatte, seit er vor fast fünfzig Jahren sein Zuhause verlassen hatte. Der Ruf wurde vom unaufhörlichen Wind verschluckt, aber Hadji spürte, wie sich Frieden über ihm ausbreitete, weil er ihn gesungen hatte. 

Mit zitternden Händen band er den Gebetsteppich los und rollte ihn auf dem Sand aus. Er konnte nur Bruchstücke des Gebets hören, denn seine Worte wurden vom Sturm weggefegt.

Ich habe Allah als meinen Herrn angenommen. Ich glaube, dass die Stunde des Jüngsten Gerichts gewiss kommen wird, an der es keinen Zweifel gibt; und dass Allah alle, die in ihren Gräbern sind, auferwecken wird. Ich glaube, dass die Abrechnung über unsere Taten die Wahrheit ist. Alles Lob gebührt Allah, dem Herrn des Universums.

****

Ein warmer Lufthauch kitzelte Hadjis Nacken, dann eine Berührung … weich und zärtlich wie der Kuss eines Kindes. Mit immer noch geschlossenen Augen hob er seinen Kopf. Dann berührte die sanfte Wärme seine Stirn.

Du heißt mich zu Hause willkommen, Allah!

Hadji faltete seine Hände und öffnete langsam die Augen, im Ungewissen darüber, welche himmlische Pracht er gleich zu Gesicht bekommen würde. Stattdessen schwebte nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht eine große samtige Schnauze. Nasenlöcher in Form von Schlitzen trafen auf eine vertikale Linie, und diese bildeten zusammen ein Ypsilon, das zu einem rautenförmigen Maul hinunterführte, das sich zu etwas krümmte, das wie ein Lächeln aussah.

Das Lächeln eines Kamels.

Die Luft war noch immer braun und voller Staub, und Hadji blinzelte zu dem Gesicht und zu der Gestalt, die undeutlich über ihm sichtbar wurde. Er war sich sicher, dass es ein Traum sein musste. Dann, in einer Pause zwischen zwei Windböen, strömte eine Welle schweren, moschusartigen Geruchs herein. Dies war kein Traum.

Hadji schlang seine Arme um den Hals des Kamels und bemühte sich, auf die Beine zu kommen. Er lachte und weinte zugleich. Ja, er war verfilzt, vernarbt und nicht gut genährt, aber es war ohne jeden Zweifel Al-Sharood! Hadji streichelte das rote Fell, das in Fetzen über dem Hals und dem Leib des Kamels hing, und untersuchte ihn, so gut er konnte. Eine kahle Stelle von der Größe eines Tellers befand sich auf der Schulter… eine alte Verletzung, die verheilt war. Seine Schnauze war vom Alter weiß geworden, und an allen vier Beinen waren narbige Streifen zu sehen.

„Wir bieten schon einen bedauernswerten Anblick, wir beide“, sagte Hadji und kicherte. Ihm wurde bewusst, dass er sich nicht nur aus Freude an Al-Sharoods Hals festhielt, sondern auch, um einen Halt zu haben. Er war bis ins Mark erschöpft, und diese Erschöpfung durchdrang alle seine Glieder, und ihm war schwindelig. Hadji bückte sich, ergriff den Gebetsteppich und rollte ihn pflichtbewusst zusammen. Er legte ihn auf den Rucksack.

Ohne dass er sich bewusst dazu entschlossen hatte, sackte Hadjis ausgelaugter Körper in sich zusammen. Mit dem Rücken gegen den Felsbrocken blieb er sitzen. Er schien nicht genug Luft bekommen zu können.

Al-Sharood kam näher und stupste wieder an Hadjis Stirn. Seine Vorderbeine knickten nach vorne ein, und er senkte den vorderen Teil seines Leibs auf den Boden ab. Das Kamel stöhnte und grunzte, als seine Gelenke sich beugten. Als nächstes knickten die Hinterbeine unter dem Leib ein, und das Kamel lag nun flach auf dem Bauch im Sand. Er streckte seinen langen Hals nach vorne und legte seinen gewaltigen Kopf auf Hadjis Schoß.

„Mein hübscher Ausreißer. Es ist … so wunderbar, dich zu sehen, mein Junge.“ Er streichelte das Fell an Al-Sharoods Wange.

„Nicht gerade ein gutes Benehmen von dir … diesem alten Minenarbeiter einen Schrecken einzujagen. Eine Zunge aus Feuer! Er hatte große Angst … war gar nicht mehr bei Sinnen.“

Er wusste, dass er nicht sprechen sollte, nicht sprechen konnte.

Die Wucht des Haboob hatte etwas nachgelassen, aber Hadji wusste, dass sie wieder zunehmen könnte. Er wusste auch, dass er diesen Ort nicht lebend verlassen würde. Aber sein Herz floss über.

Hadjis Arme umschlossen Al-Sharoods riesigen Kopf, und er streichelte weiterhin kraftlos das Gesicht und die Ohren des Kamels. In beiden müden alten Körpern wurden Atem und Herzschlag langsamer.

Es war, wie es sein sollte. Sie waren ebenso ein Teil der Wüste wie die Felsen und der Sand. Sie hatten viele Stürme erlebt und wussten, dass sie immer irgendwann ein Ende nehmen. Hadji beruhigte das Kamel mit Worten, an die nur sie sich erinnerten, und Al-Sharood schmiegte sich enger an seinen alten Meister und Freund, während beide darauf warteten, dass ein allerletzter Sturm vorüberzog.

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken der Autorin für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.

Grabmal von Hadji Ali

Anmerkung des Übersetzers:
Die vorliegende Geschichte beruht auf wahren Geschehnissen. Nicht nur die Beale-Expedition hat tatsächlich stattgefunden, auch Hadji Ali hat tatsächlich gelebt. Vermutlich 1828 wurde er als Sohn griechisch-syrischer Eltern in Smyrna, dem heutigen İzmir, geboren. Als junger Erwachsener konvertierte er zum Islam und änderte seinen Namen von Philip Tedro zu Hadji Ali. Dieser Name wurde in Amerika tatsächlich zu „Hi-Jolly“ verballhornt. Die Heirat mit Gertrudis Serna fand 1880 in Tucson, Arizona, statt. Im Dezember 1902 starb er zwischen Wickenburg, Arizona, und dem Colorado River. Der Legende nach fanden zwei Cowboys ihn zusammen mit einem entlaufenen Kamel, um dessen Hals er seine Arme gelegt hatte, als offensichtliche Opfer eines Sandsturms.
Im Jahre 2019 hatte die aus Serbien stammende Schriftstellerin Téa Obreht Hadji Ali bereits zum Vorbild für eine der Figuren ihres Romans „Inland“ (dt.: Herzland; 2021) genommen.