*** Nichts verpassen! Der NEWSLETTER (Kontaktformular, rechts unten) informiert zuverlässig über das, was hier neu ist.***

Freitag, 8. August 2025

STORY: Die Kutschenkönigin lässt die Kugeln hageln I (James Reasoner)


Die Kutschenkönigin lässt
die Kugeln hageln

von James Reasoner 
- Teil 1 von 2 -

(Orig. „Bullet Trap for the Stagecoach Queen“, 2022; Übers.: Reinhard Windeler)


Angel, die „Kutschenkönigin von Buffalo Flat“, ist erneut auf den Bock der Postkutsche ihres Vaters geklettert. Sie lenkt das Gespann über eine staubige Route und direkt in ihr zweites Abenteuer. Ein Verwundeter liegt mitten auf ihrem Weg… 

James Reasoner (Jahrgang 1953), den wir schon aus Anlass der ersten Episode näher vorgestellt haben, bietet abermals eine actionbetonte, stilistisch an die Pulps der 1940er Jahre angelehnte Western-Story. Der Nachfolger von „Gun-Brand of the Stagecoach Queen“ wurde 2022 in der von Richard Prosch herausgegebenen Anthologie „Over Western Trails“ veröffentlicht und wird hier in zwei Teilen erstmals dem deutschsprachigen Publikum präsentiert. 


 

______________________________

I
Der Fremde auf dem Weg 

Die Sonne schien Angela Elena Devereaux ins Gesicht, sodass sie, obwohl die breite Krempe ihres schwarzen Hutes Schatten spendete, kaum etwas erkennen konnte.

Aus diesem Grund bemerkte sie den Mann, der vor ihr auf dem Weg lag, erst, als es beinahe zu spät gewesen wäre. Angel, wie ihr Vater sie schon als kleines Mädchen zu nennen angefangen hatte, zog mit aller Kraft an den Leinen und bremste das Sechsergespann, das vor der Postkutsche angeschirrt war, ab, während sie es gleichzeitig nach rechts lenkte, sodass die Pferde den ausgestreckten Körper verfehlten.

Das taten auch die Räder der Kutsche, aber nur so gerade eben. Das Gefährt kam ein wenig ins Schlingern, als die rechten Räder von der befestigten Schotterpiste zwischen Buffalo Flat und Moss City in den weichen Sand gerieten. 

Angel riss das Gespann zurück in die andere Richtung. Die Kutsche hatte noch genug Schwung, um die Räder aus dem Sand herauszuziehen. Wieder auf der Straße, brachte sie die Postkutsche schließlich zum Stehen.

Dann langte sie hinunter auf die Bodenbretter zu ihren Füßen und packte die doppelläufige Kutscherflinte, die dort lag. Es war bekannt, dass es Outlaws gab, die vortäuschten, dass jemand verletzt war, um eine Postkutsche dazu zu bringen anzuhalten, woraufhin die ganze Bande aus ihrem Versteck springen würde.

Falls jemand das versuchen sollte, wollte Angel ihn mit einer Ladung Schrot empfangen.

Tatsache war, dass es hier draußen im offenen ebenen Gelände keine guten Plätze zum Verstecken gab. Ein paar struppige Mesquites, hier und da einmal ein Felsen, das war es eigentlich schon.

Außerdem hatte Angel, auch wenn sie zu beschäftigt gewesen war, um genau darauf zu achten, nicht gesehen, dass der Mann sich bewegt hatte, als die Räder nur Zentimeter von ihm entfernt vorbeigerattert waren. Wenn er nur so getan hätte als ob, hätte er eine Reaktion gezeigt, als er beinahe überrollt worden wäre. Da war sie sich sicher.

Was bedeutete, dass er tatsächlich verletzt war … oder tot.

Angel wartete noch ein paar Minuten, um sicherzugehen, dass dies wirklich kein Trick war. Dann sprang sie, immer noch mit der Kutscherflinte in der Hand, behende vom Kutschbock und ging vorsichtig auf den Körper zu. 

Es war ungewöhnlich, eine junge Frau eine Postkutsche lenken zu sehen, aber als Tochter von François Devereaux, dem Gründer der Linie mit Hauptsitz in Buffalo Flat, war Angel mit Kutschen und Pferden aufgewachsen. Sie verstand so viel davon wie die meisten Männer, wenn nicht mehr.

Sie war ziemlich viel unterwegs gewesen, seit ihr Vater vor einigen Monaten bei einem versuchten Überfall verwundet worden war. Frank, wie er genannt wurde, erholte sich, aber Angel übernahm immer noch einige der Fahrten, die Devereaux normalerweise selbst gemacht hätte.

Zuerst hatte er darauf bestanden, dass sie wie eine anständige junge Dame Röcke trug, auch auf dem Kutschbock, aber schließlich hatte sie ihn überzeugt, sie Hosen tragen zu lassen, mit dem Argument, dass sie in gewissen Situationen sittsamer waren. Wahrscheinlich hatte er nicht damit gerechnet, dass sie sich für eine Wildlederhose entscheiden würde, die ihre schlanken Hüften und Beine betonte, an den Seiten dekorative Fransen hatte und die sie in ihre hochschäftigen braunen Stiefel steckte.

Heute trug sie dazu ein dunkelblaues Flanellhemd. Ihre Haare, die ihr, wenn sie sie offen trug, schwarz wie die Nacht in dichten Wellen um die Schultern fielen, waren unter dem schwarzen Hut hochgesteckt. Eine dünne Schicht Straßenstaub bedeckte ihr honigfarben gebräuntes Gesicht.

Der Mann, der auf dem Weg lag, stöhnte und bewegte sich leicht, er war also doch nicht tot. Aber er musste bewusstlos gewesen sein, um nicht zu zucken, als die Räder der Postkutsche so nahe an ihm vorbeirollten.

Gut fünf Meter entfernt blieb Angel stehen. Sie richtete die Kutscherflinte auf ihn und sagte: „Hey! Können Sie mich hören?“

Der Mann antwortete nicht. Vielleicht war er wieder ohnmächtig geworden. Er lag mit dem Gesicht nach unten, den linken Arm seitlich neben sich und den rechten Arm vor sich ausgestreckt, als würde er nach etwas greifen. Er trug eine schwarze Hose und eine schwarze Jacke. Die Kleidungsstücke waren grau vom Staub.

Angel verkürzte den Abstand zwischen ihnen um die Hälfte und sprach etwas lauter. „Hey! Mister!“

Nichts. Sie schnaubte frustriert, stand einen Moment mit gerunzelter Stirn in Gedanken da und ging dann den Rest des Weges zu ihm. Sie hakte die Spitze ihres rechten Stiefels unter seine Schulter und drehte ihn auf den Rücken. Ihr Finger lag fest am Abzug der Kutscherflinte. Sie war bereit zu feuern, falls er irgendetwas versuchen sollte.

Von ihm ging keine Gefahr aus, das sah sie sofort. Seine Jacke öffnete sich und enthüllte einen großen, dunklen Blutfleck auf der rechten Seite seines weißen Hemdes. Seine Augen waren geschlossen. Sie kam zu dem Schluss, dass er entweder eine Schuss- oder eine Stichwunde hatte. Sie versuchte nicht, das Hemd hochzuziehen, um zu sehen, was von beiden es war, aber diese Erkenntnis veranlasste sie, sich nochmals umzusehen.

Die Verletzung hatte er sich ja kaum selbst zugefügt. Jemand anderes hatte es getan. Und dieser Jemand könnte immer noch in der Nähe sein.

Sie sah jedoch nichts Außergewöhnliches, außer einem dunklen Klumpen mehrere hundert Meter östlich vom Weg. Sie konnte nicht erkennen, was es war.

Rasch ging sie zurück zur Postkutsche und holte ein Fernrohr aus dem Stauraum unter dem Fahrersitz. Sie schob das Teleskop auseinander und nahm das Objekt, das sie entdeckt hatte, in Augenschein. Durch das Glas konnte sie erkennen, dass es sich um ein regungslos daliegendes Pferd handelte.

„Also hat jemand auf dich geschossen und dir das Pferd unter dem Hintern weggeschossen“, sagte sie laut und dachte über die Entdeckung nach, die sie gemacht hatte. Es war auch eine unerfreuliche Entdeckung, denn sie wusste, dass sie nicht einfach weiterfahren und einen verletzten Mann so liegenlassen konnte.

Sie legte die Kutscherflinte auf die Bodenbretter, öffnete die Tür auf der linken Seite und ging zu dem Mann zurück. „Sie haben es zu Fuß bis hierher geschafft, bevor Sie zusammengebrochen sind“, sagte sie zu ihm, als sie ihm unter die Arme griff. Mit einem angestrengten Brummen begann sie, ihn zur Kutsche zu zerren. „Aber warum hat der, der auf Sie geschossen hat, Ihnen nicht einfach den Rest gegeben?“

Das war eine gute Frage. Vielleicht konnte der Bursche sie beantworten, wenn er überlebte. Die Kutschenstation am Razorback Ridge war nur ein paar Meilen entfernt. Angel könnte dort Hilfe bekommen.

Mit viel Mühe und Stöhnen hob sie den verwundeten Mann hoch und lehnte seinen Oberkörper in die offene Tür. Dann nahm sie seine Beine, stemmte ihn hoch und schob ihn hinein. Heute gab es keine Fahrgäste, also hatte er viel Platz auf dem Boden.

Angel nahm ihren Hut ab, ließ ihr Haar um ihre Schultern fallen und wischte sich Schweiß und Staub aus ihrem Gesicht. Dann schob sie die Haare zurück unter den Hut, kletterte auf den Bock und nahm die Leinen wieder in die Hand. 

Alte Postkarte, um 1915


II

Razorback Ridge

Die Razorback-Ridge-Station war nach der Felsformation benannt, die sich hinter ihr erhob, so rau und schartig wie der Rücken eines Schweins, dem sie ähnelte. Der Weg bog dort nach Süden ab, führte um den Bergrücken herum, ehe er für den Rest des Weges nach Moss City wieder nach Westen abbog.

Eine Quelle am Fuße des Bergrückens lieferte Wasser und ermöglichte es, dass genügend Bäume wuchsen, sodass Oliver Carlson, der die Station betrieb, Holz für den Bau einer Scheune und eines Stangencorrals hatte. Das eigentliche Stationsgebäude bestand aus Lehmziegeln.

Es war ein einsamer Ort, aber Carlson, ein alter Junggeselle, schien stets zufrieden mit dem Leben zu sein, das er sich hier eingerichtet hatte. Meistens arbeiteten ein paar junge Mexikaner von der Grenze als Knechte für ihn.

Als Angel sich der Station näherte, sah sie einen Buggy davor stehen. Das war ungewöhnlich. Die Knechte kamen aus der Scheune, um sie zu begrüßen. Carlson kam aus dem Stationsgebäude und hob eine Hand.

Howdy, Miss Devereaux“, rief der schlaksige, kahl werdende Oldtimer. Ein grauer Schnurrbart hing ihm um den Mund. „Sie sind ein paar Minuten zu spät, das sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Hatten Sie ein Problem?“

„Ich nicht, aber jemand anderes“, antwortete Angel, als sie am Hebel zog, um die Bremse anzuziehen. Sie zeigte mit einem Daumen über ihre Schulter. „Ein verletzter Mann liegt in der Kutsche. Hab’ ihn vor ein paar Meilen aufgegabelt; lag da bewusstlos auf dem Weg.“

„Das ist ja ’n Ding“, murmelte Carlson, als er eilig näher kam. „Verletzt, sagen Sie?“

Angel stieg vom Kutschbock. „Ja, hat etwas abgekriegt. Ich weiß nicht, ob von einer Kugel oder ’nem Messer. Ich tippe auf ’ne Kugel. Wenn jemand so dicht bei ihm gewesen wäre, um auf ihn einzustechen, dann hätten die die Sache auch zu Ende gebracht und ihm den Rest gegeben.“

„Das sollte man meinen“, sagte Carlson, als er die Tür öffnete und in die Kutsche schaute.

„Außerdem war sein Pferd tot, ein paar hundert Meter neben dem Weg; muss erschossen worden sein.“ Angel nickte in Richtung ihres bewusstlosen Passagiers. „Kennen Sie ihn?“

Carlson betrachtete eingehend das Gesicht des Mannes, das ihm zugewandt war, und schüttelte den Kopf. „Nie gesehen, den Hombre. Eduardo! Pablo! Der Gespannwechsel kann erst ’mal warten. Kommt und helft mir, diesen Burschen nach drinnen zu bringen.“

Zu viert — natürlich packte Angel mit an und nahm ein Bein — trugen sie den verwundeten Mann innerhalb kürzester Zeit in das Stationsgebäude. Eine Frau, die an einem der Tische saß, an denen Postkutschenpassagiere Bohnen, Chili und Maisbrot aßen, die sie während ihrer Zwischenstopps bei Carlson kauften, erhob sich überrascht.

„Angela Devereaux, sind Sie das, die da Hosen wie ein Mann trägt?“ fragte sie. Ihrem Gesicht war die Missbilligung deutlich anzusehen.

„Die bin ich, Mrs. Stokes“, sagte Angel. Sie hatte die Frau, die mittleren Alters war, als Dorothy Stokes erkannt, die Frau eines Ranchers namens Henry Stokes, der nach Norden hin ein großes Anwesen besaß. Das Ehepaar kam von Zeit zu Zeit nach Buffalo Flat, um Freunde zu besuchen und Vorräte zu besorgen. Daher kannte Angel sie.

„Ich habe gehört, dass Sie schon öfters die Postkutsche gefahren haben. Also nehme ich an, dass es bequem für Sie ist, sich so anzuziehen; aber ich finde es immer noch skandalös. Wen haben Sie da mitgebracht?“

„Einen verletzten Mann, Miz Stokes“, sagte Carlson. „Angel — Miss Devereaux — hat ihn unterwegs gefunden.“

Sie hoben den Mann auf einen der grob gezimmerten Tische. Carlson versuchte, seine Kleidung so weit zu lockern, dass er an die Wunde gelangen konnte, aber Mrs. Stokes trat hinzu und sagte: „Um Himmels willen, holen Sie mir ein Messer, und dann machen Sie Platz. Ich habe mich schon um so einige Verletzungen gekümmert. Als Henry und ich hier angekommen sind, gab es keinen Arzt zwischen San Antonio und El Paso, also haben wir ziemlich schnell gelernt, selbst zurechtzukommen, das kann ich Ihnen sagen.“

Carlson zog ein Klappmesser aus seiner Tasche und übergab es, dann machten sie alle Platz, um Mrs. Stokes freie Hand zu lassen. Bald hatte sie die blutige Kleidung weggeschnitten und ein runzeliges Loch in der Hüfte des Mannes enthüllt, ziemlich weit vorne, und ein weiteres in seinem Rücken, beide auf der rechten Seite.

„Die Wunden sind eindeutig von einem Schuss“, sagte Carlson.

„Die Wunde ist nicht tief, ein glatter Durchschuss. Die Kugel könnte eine Rippe gebrochen haben, aber das ist schwer zu sagen. Hauptsächlich ist er ohnmächtig geworden, weil er soviel Blut verloren hat. Geben Sie mir den Krug, den Sie hinter der Theke haben, Mr. Carlson, und sparen Sie es sich zu behaupten, dass da keiner ist. Ich werde die Wunden reinigen und verbinden, und dann können wir nur noch abwarten, was passiert.“

Die beiden jungen Knechte, Eduardo und Pablo, gingen wieder nach draußen, um mit ihrer Arbeit weiterzumachen, während Mrs. Stokes die Wunden versorgte. Als sie fertig war, machte sie einen Schritt zurück und fragte: „Wie geht es Ihrem Vater, Miss Devereaux?“

„Jeden Tag etwas besser“, antwortete Angel. „Doc Cabot sagt, er wird sich vollständig erholen. Es braucht nur etwas Zeit.“

„Freut mich, das zu hören.“ 

„Warten Sie hier auf die Kutsche, Mrs. Stokes?“

„Allerdings. Ich will meine Schwester in Moss City besuchen.“

Angel ging zum Tisch hinüber, um sich den bewusstlosen Mann anzusehen. Die Anspannung schien etwas aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

„Tja, es geht weiter, sobald die Jungs die Gespanne gewechselt haben —“

In diesem Moment wurde die Tür geöffnet, und Pablo kam hereingerannt. „Señor Carlson, da kommen Reiter!“ sagte er. „Acht Männer. Bewaffnet!“

Angel wandte sich vom Tisch ab. Die meisten Männer hier draußen in West-Texas trugen Waffen, aber trotzdem wünschte sie, sie hätte ihre doppelläufige Schrotflinte nicht auf der Postkutsche liegen gelassen.

Ohne Vorwarnung umfasste eine Hand ihr Handgelenk, und eine heisere Stimme krächzte: „Einer … muss mir … einen Colt geben.“


III

Blutige Dienstmarken

Da Angel über ein kühles und ausgeglichenes Nervenkostüm verfügte, machte sie bei der unerwarteten Berührung keinen Satz, obwohl sie sicher eine Sekunde lang drauf und dran war. Sie blickte auf den verletzten Mann hinunter und fragte: „Wie lange sind Sie schon wach?“

„Lange genug, um zu wissen… dass wir alle in Schwierigkeiten stecken.“

Der Mann versuchte sich aufzusetzen.

Lobby card (Ausschnitt) zum Western 'Stagecoach Raids'

„Du meine Güte!“ sagte Mrs. Stokes. „Dafür sind Sie zu schwer verletzt, junger Mann.“

„Sie haben nicht … verstanden, Ma’am. Das da draußen … ist … Sam Kyle.“

„Sam Kyle, der Marshal?“ fragte Carlson. „Der ganze Städte zur Räson gebracht hat?“

Der Verletzte sackte zurück, obwohl er es offensichtlich nicht wollte, aber seine geschwächten Muskeln trugen ihn nicht länger.

„Marshal!“ wiederholte er verächtlich. „Spielt keine Rolle  ... dass er eine Dienstmarke trägt. Er ist der größte Verbrecher … der Ihnen jemals begegnen wird …“

Carlson sagte: „Ich habe gehört, dass man Kyle drüben in Bishop als Marshal angeheuert hat. Dieses Rattennest musste schon lange ausgemistet werden.“

„Kyle … hat ausgemistet … stimmt schon. Er und seine Bande … haben alle Bishops umgebracht … alle bis auf einen … und selbst die Macht übernommen … haben jeden… aus dem Weg geräumt … der ihnen in die Quere gekommen ist. Sie haben ... die ganze Stadt … in die Knie gezwungen. Alle Geschäfte … müssen an sie zahlen.“

„Davon habe ich noch nichts gehört“, sagte Carlson. „Und Sie, meine Damen?“

„Ich auch nicht“, sagte Mrs. Stokes. „Aber aus der Gegend kriegen wir nicht viele Neuigkeiten.“

„Ist bei uns nicht anders“, sagte Angel. „Bishop liegt auf keiner unserer Routen.“

Allerdings wusste sie, dass es die Stadt gab. Sie war von einem mürrischen alten Rancher namens Vint Bishop gegründet worden. Er galt als Viehdieb, aber die Texas Rangers hatten nie handfeste Beweise gegen ihn sammeln können. Er hatte vier oder fünf Söhne, die ebenso rau und zwielichtig waren wie er, und die Siedlung, die seinen Namen trug, war als weit offenes und gesetzloses Gebiet bekannt.

Sie konnte verstehen, warum die ehrbaren Bürger — oder diejenigen, die ehrbar sein wollten — sich zusammentaten und einen für sein Geschick im Umgang mit Schusswaffen berühmten Marshal anheuerten, um in der Stadt aufzuräumen.

Pablo trat nervös von einem Fuß auf anderen und sagte: „Señor … die Reiter …?“

„Ich geh’ ’mal ‘raus und sehe nach, was die wollen“, sagte Carlson.

Der Mann auf dem Tisch stöhnte, sagte aber nichts weiter.

Carlson schluckte schwer und machte sich auf den Weg zur Tür. Angel folgte ihm. Er schaute über seine Schulter und sagte: „Vielleicht bleiben Sie besser hier drin, Miss Devereaux.“

„Ich will wissen, was los ist“, sagte Angel und ignorierte den Vorschlag. Sie folgte dem Oldtimer nach draußen.

Pablo kam als Letzter und ging rasch zur Postkutsche, wo Eduardo war. Angel musterte die Reiter, sah, dass sie noch ungefähr fünfzig Meter entfernt waren, und sagte leise: „Pablo, wirf mir die Kutscherflinte ’rüber.“

Señorita?

„Tu, was sie sagt, Pablo“, sagte Carlson zu dem jungen Knecht.

Pablo warf einen Blick auf die Reiter, griff dann nach der Kutscherflinte und warf sie Angel zu. Sie fing sie geschickt auf.

„Meine Winchester liegt auch da auf dem Kutschbock, falls Sie sie brauchen, Mr. Carlson.“

„Großer Gott, Mädel“, sagte er fast unhörbar. „Diese Burschen sind zu acht. Und sie vertreten das Gesetz, laut dem, was der Hombre da drinnen gesagt hat.“

„Gesetzesvertreter mit blutigen Dienstmarken“, sagte Angel. „Aber wir haben keine Beweise dafür, dass er die Wahrheit sagt. Ich denke nur, dass es nicht schaden kann, auf Ärger vorbereitet zu sein.“

„Vorbereitet, sicher, aber nicht darauf aus.“

Angel wusste, dass er Recht hatte. Sie hatte schon immer eine draufgängerische Ader gehabt. Diese musste sie jetzt im Zaum halten, bis klar wurde, wie sich die Dinge entwickeln würden.

Pablo und Eduardo waren mit dem Gespannwechsel fertig gewesen, bevor sie die Reiter bemerkt hatten, die sich auf die Station zubewegten. Angel und Carlson blieben hinter den frischen Pferden stehen, als die Neuankömmlinge nicht weit entfernt die Zügel anzogen.

Ein Mann war ein wenig voraus, und er machte den Eindruck, als wäre das sein angestammter Platz. Groß und schlank, in einem grauen Tweed-Anzug, mit einem braunen Hut, der seinem dunkelgebräunten, falkenartigen Gesicht vor der sinkenden Sonne Schatten spendete.

Er nickte und sagte: „Howdy. Mein Name ist Sam Kyle.“ Mit seiner linken Hand schob er seine Jacke auf der linken Seite ein wenig zurück, sodass die an seiner Weste befestigte Dienstmarke sichtbar wurde. „Marshal, drüben in der Stadt Bishop. Vielleicht haben Sie schon von mir gehört.“

„Ja, Sir, Marshal, natürlich haben wir das“, antwortete Carlson. Er ging nicht näher darauf ein, was sie gehört hatten.

„Meine Deputies und ich suchen einen Flüchtigen.“

Angel warf einen Blick auf die „Deputies“. Auch sie trugen Dienstmarken, aber das war das Einzige an ihnen, das darauf hindeutete, dass sie Ordnungshüter waren. Als waffentragende Hombres mit ungehobelten, überwiegend unrasierten Gesichtern sahen sie für Angel wie Outlaws aus.

Das war zumindest ein Punkt, der vielleicht für die Geschichte sprach, die der verletzte Mann im Stationsgebäude erzählt hatte.

„Was für ein Flüchtiger ist das, Marshal?“ fragte Carlson. Angel bewunderte das ruhige, unaufgeregte Auftreten des Oldtimers, der sich nichts anmerken ließ.

„Ein Kerl namens Dan Bishop. Der Letzte aus dem Bishop-Clan bei uns. Gesetzlose, ausnahmslos, und Danny Boy ist der Einzige, der dem Zugriff der Justiz entkommen ist … bis jetzt. Das wollen wir ändern. Er ist ziemlich jung, ungefähr fünfundzwanzig, hat dunkle Haare und trug einen schwarzen Anzug, als er zuletzt gesehen wurde. Gibt vor, ein Berufsspieler zu sein, aber er ist genau so ein Gauner wie der Rest seiner Sippschaft.“

„Was ist mit den anderen passiert?“

Sam Kyle sah aus, als ob ihn die Frage verärgerte, aber er sagte: „Sie wurden in gesetzeskonformer Weise gehängt – oder erschossen, wenn sie sich der Festnahme widersetzten. Die Entscheidung lag bei ihnen.“

„Sie haben sie vor Gericht gestellt, oder?“

Einer der Männer hinter Kyle kicherte deswegen. Der Marshal drehte den Kopf und funkelte den Deputy eine Sekunde lang an, dann blickte er wieder Carlson an und sagte: „Gerichtsverfahren waren nicht nötig. Die Anklagepunkte gegen sie waren unwiderlegbar. Aber die Hinrichtungen wurden rechtmäßig von ordnungsgemäß ernannten Vertretern des Gesetzes durchgeführt.“

Carlson nickte. „Verstehe.“

Mit sichtlichem Bemühen, sich zu beherrschen, sagte Kyle: „Was ich wissen möchte, Mister, ist, ob Sie Dan Bishop gesehen haben. Hat er sich hier blicken lassen? Er wäre zu Fuß gewesen, also könnte er versucht haben, ein Pferd zu stehlen.“

Carlson schüttelte den Kopf und sagte: „Ich habe keinen gesehen, der so aussieht, Marshal, und uns fehlen auch keine Pferde. Abgesehen von der Postkutsche ist heute niemand gekommen.“

„Zu wem gehört dann dieser Buggy?“ fragte Kyle scharf.

„Zu mir“, verkündete Dorothy Stokes, während sie aus der Tür des Stationsgebäudes kam. „Meine Mutter und ich sind Passagiere der Postkutsche, die nach Moss City fährt.“

Neben ihr schlurfte eine gebeugte Gestalt in einem schwarzen Kleid, die einen schwarzen Hut und einen Schleier trug, der die Gesichtszüge darunter verbarg.


IV

Rauch

Kutscher“, fuhr Mrs. Stokes in befehlsmäßigem Ton fort, „helfen Sie mir, Mutter in die Kutsche zu bringen.“

Kyle runzelte die Stirn und ließ sein Pferd einen Schritt nach vorne gehen. „Ma’am, wer, bitte schön, sind Sie?“

„Ich bin die Frau von Henry Stokes. Sie haben wahrscheinlich schon von der Ranch meines Mannes gehört, der Diamond Bar.“

„Ja, Ma’am, ich glaube schon.“ Kyles Stirnrunzeln vertiefte sich. „Sie und Ihre Mutter wollen nach Moss City, sagten Sie?“

„Das stimmt. Eine ihrer lieben alten Freundinnen dort ist gestorben, möge sie in Frieden ruhen. Wir sind auf dem Weg zur Beerdigung, daher wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie uns nicht aufhalten würden, junger Mann.“

„Sie werden Moss City erst nach Einbruch der Dunkelheit erreichen“, merkte Kyle an. „Ungewöhnliche Zeit für eine Beerdigung.“

„Deshalb findet sie auch morgen früh statt. Aber ich möchte, dass Mutter, wenn sie dort ankommt, noch eine Gelegenheit hat, sich auszuruhen, bevor sie dieses Martyrium durchmachen muss.“

Kyle dachte noch ein paar Herzschläge lang darüber nach und nickte dann schließlich. „Mein Beileid an Sie und Ihre Mutter, Ma’am. Wenn Sie Hilfe brauchen …“

„Der Kutscher und ich schaffen das schon, vielen Dank.“

Angel musste nicht genauer hinsehen, um zu wissen, wer hinter diesem Schleier steckte. Es gefiel ihr nicht, unbewaffnet zu sein, aber sie legte die Kutscherflinte auf die Bodenbretter und drehte sich um, um den anderen Arm der schwarzgekleideten Gestalt zu ergreifen. Sie hörte röchelnden Atem und wusste, dass Dan Bishop Mühe hatte, in die Kutsche zu gelangen.

Wenn sie ihn von hier weg und weiter nach Moss City bringen könnten, wäre er vielleicht in Sicherheit. Sie könnte ihn dem dortigen Marshal übergeben, und der konnte aufklären, wer wirklich ein Verbrecher und wer ein Flüchtiger war.

Doch nach dem, was Sam Kyle über die Hinrichtungen gesagt hatte, neigte sie sogar noch mehr dazu, Dan Bishop zu glauben. 

Die Kutschentür auf der linken Seite war nicht geschlossen worden, nachdem sie geöffnet worden war, um Bishop aus dem Gefährt zu holen. Mrs. Stokes sagte: „Da geht’s eine Stufe hoch, Liebes. Schaffst du das?“

Bishop nickte.

Er hob einen Fuß, und Angel sah, dass er immer noch seine Stiefel trug, keine Damenschuhe. Aber die Kutsche befand sich zwischen ihm und den Männern, die ihn töten wollten, sodass diese es nicht sehen konnten. Angel und Mrs. Stokes wuchteten und stemmten Bishop hoch, und dieser streckte seine Hände, die in Handschuhen steckten, die ihm zu klein waren, aus, um den Türrahmen zu fassen und sich hineinzuziehen. Halb setzte er sich, halb fiel er auf die Sitzbank in Fahrtrichtung.

Mrs. Stokes stieg ein und nahm auf der anderen Sitzbank Platz. Sie nickte Angel zu, die die Tür fest zudrückte.

Da sie sich hinter den Pferden befunden hatte, hatten Kyle und seine Deputies wohl nicht bemerkt, dass sie eine Frau war, doch als sie jetzt auf den Kutschbock kletterte, gab es an dieser Tatsache keinen Zweifel. Kyle sah überrascht aus, aber er hob seine linke Hand und kniff in die Krempe seines Hutes, während er ihr zunickte.

„Ich habe gehört, dass eine Frau hier in der Gegend Postkutschen fährt, aber ich glaube nicht, dass sich unsere Wege schon einmal gekreuzt haben, Ma’am.“

Miss“, sagte Angel betont, „und wenn es Ihnen nichts ausmacht, Marshal, muss ich es nach Moss City schaffen, bevor es zu spät wird.“

„Selbstverständlich.“ Kyle machte eine Geste, dass sie losfahren konnte.

Angel nahm die Leinen auf, löste die Bremse und sprach das Gespann an, als sie die Pferde in Bewegung setzte. Geschickt wendete sie die Kutsche und machte sich auf den nach Süden abbiegenden Weg.

(Schluss folgt in Kürze)

© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung und für die Auswahl des deutschen Titels.