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Freitag, 15. August 2025

STORY: Die Kutschenkönigin lässt die Kugeln hageln II (James Reasoner)


Die Kutschenkönigin lässt
die Kugeln hageln

von James Reasoner 
- Teil 2 von 2 -

(Orig. „Bullet Trap for the Stagecoach Queen“, 2022; Übers.: Reinhard Windeler)


Im ersten Teil findet die unerschrockene Angel einen angeschossenen Mann, wuchtet ihn in die Postkutsche und bringt ihn zur Station am Razorback Ridge. Hier versorgt die gerade anwesende Ranchersfrau Dorothy Stokes die Wunden, und wir erfahren, dass Dan Bishop von dem Outlaw-Marshal Sam Kyle und seiner Bande verfolgt wird. Mit einer List gelingt es Mrs. Stokes und Angel, zusammen mit Bishop die Station zu verlassen. Aber die Überschrift des vierten Kapitels, in dem wir uns gerade befinden, lautet „Rauch“ und lässt nichts Gutes ahnen …

______________________________


Zu gerne hätte Angel nach hinten geschaut, um zu sehen, ob Kyle und die anderen der Kutsche folgten, aber sie dachte, es würde besser aussehen, wenn sie es nicht tat.

Sie brachte die Pferde auf ein gutes Tempo und ließ die Razorback-Ridge-Station hinter sich.

Die breiten Lederverstrebungen, die unter der Postkutsche verliefen, sorgten für eine recht komfortable Fahrt, aber dennoch nahm sie an, dass Dan Bishop wahrscheinlich unter dem üblichen Rütteln und Schütteln litt. Doch wichtiger war, dass sie etwas Abstand zwischen sich und Sam Kyle brachten.

Nach ein paar Meilen lief der Bergrücken aus, und der Weg bog wieder nach Nordwesten ab. Wenn es nicht die Quelle gegeben hätte, hätte die Route den Bergrücken komplett umgangen, aber Wasser gab es hier in West-Texas nicht so häufig, dass man eine Quelle unbeachtet lassen konnte.

Angel blickte über ihre rechte Schulter zurück, um zu sehen, ob sie Staubwolken entdecken konnte, die darauf hindeuteten, dass Kyle der Kutsche folgte.

Stattdessen sah sie etwas anderes, etwas, das sie die Leinen anziehen ließ.

„Was gibt’s?“ rief Mrs. Stokes aus dem Inneren der Kutsche, als sie merkte, dass diese langsamer wurde.

„Rauch“, sagte Angel. „Schwarzer Rauch, wie von einem brennenden Gebäude.“

Die aus Adobe errichteten Wände des Stationsgebäudes selbst würden nicht brennen, wohl aber das Holzdach. Und auch die Scheune. Als sie auf die schwarze Rauchsäule blickte, die in den Himmel stieg, konnte sie anhand der Richtung erkennen, dass sie von der Kutschenstation stammte. Ihr sank das Herz.

Die Tür ging auf, und Mrs. Stokes trat heraus. Auch sie blickte über den Bergrücken zurück und sagte mit gedämpfter Stimme: „Oh nein.“

„Ich habe keine Schüsse gehört“, sagte Angel, „aber wahrscheinlich hätte ich bei dem Krach, den die Kutsche und das Gespann gemacht haben, nichts hören können. Aber ich weiß, dass Oliver Carlson nicht tatenlos zusehen würde, wie diese Männer die Station niederbrennen. Er würde versuchen, sie daran zu hindern …“

„Und sie würden ihn abknallen“, beendete Dan Bishop aus dem Inneren der Kutsche den Satz, als Angels Stimme verstummte. „Ihn und die beiden Jungs, die für ihn arbeiten.“

Angel stieg vom Kutschbock, damit sie einen Blick in die Postkutsche werfen konnte. Bishop hatte den Hut und den Schleier abgenommen, trug aber immer noch das schwarze Kleid über seiner blutbefleckten Kleidung. Sein Gesicht war blass, aber er machte einen kräftigeren Eindruck als noch vor Kurzem.

„Diesem Oldtimer muss irgendwie etwas rausgerutscht sein“, fuhr Bishop fort, „woraus Kyle erkannt hat, dass ich doch da gewesen bin. Kyle hätte keine Zeit damit verschwendet, den alten Mann zum Reden zu zwingen. Er ist schlau. Böse, aber schlau. Er wäre darauf gekommen, dass ich mich als Mrs. Stokes’ Mutter ausgegeben hatte. Sie werden jetzt hinter uns herreiten.“

„Warum dann noch den armen Mr. Carlson und diese Jungs töten?“ fragte Frau Stokes. „Warum die Station anzünden?“

„Damit ich weiß, dass er kommt. So ein krankes, sadistisches Ungeheuer ist er.“ Bishop hob eine zitternde Hand und drückte sie an seine Schläfe. „Wir müssen weiter, aber es wird nichts nützen. Mit der Kutsche kann das Gespann Kyle und seinen Männer zu Pferde nicht entkommen.“

„Wenn wir auf dem Weg bleiben, nicht“, sagte Angel. „Aber es gibt andere Möglichkeiten.“

Sie warf noch einmal einen Blick auf den dunklen Rauch, der jetzt rötlich-schwarz zu sein schien, weil er die letzten Strahlen der untergehenden Sonne einfing.

Die Sonne würde bald verschwunden sein, und die Dunkelheit würde zu ihrem Verbündeten werden.


V

Verschanzt

Ich behaupte nicht, dass meine Familie ein Haufen Heiliger war“, sagte Dan Bishop etwas später. „Mein Vater war ein Viehdieb, so wie es alle immer gesagt haben. Ein paar von meinen Brüdern haben auch in mondlosen Nächten Vieh weggetrieben. Aber ich habe es nie gemacht, und mein nächstältester Bruder Curt auch nicht.“ Er hielt inne. „Ich bin der Jüngste … ich meine, ich war der Jüngste in der Familie. Jetzt bin ich der Einzige, der noch übrig ist.“

Dorothy Stokes sagte: „Es tut mir leid, dass Sie Ihre Familie verloren haben, junger Mann. Ich bin froh, dass wir Ihnen helfen konnten, diesen schrecklichen Gesetzlosen zu entkommen, die sich selbst Gesetzeshüter nennen.“

Bishop lachte leise und humorlos. „Ich denke, genau genommen sind Kyle und seine sogenannten Deputies tatsächlich Gesetzeshüter. Die aufrechten Bürger der Stadt haben sie in gutem Glauben engagiert. Sie wussten nicht, dass sie einen Haufen Klapperschlangen in ihre Häuser ließen.“

„Ich wette, ihnen dämmert es langsam“, warf Angel ein, die ein paar Meter entfernt mit dem Rücken zu ihnen stand und in die Nacht spähte, während sie die Winchester schussbereit schräg vor ihrem Oberkörper hielt.

Sie hatte die Postkutsche neben einer Ansammlung von runden Felsbrocken und flachen Felsplatten zum Stehen gebracht. Bishop und Mrs. Stokes saßen auf einer dieser Platten. Bishop hatte das Kleid ausgezogen, das Mrs. Stokes ihm gegeben hatte, damit er sich verkleiden konnte. Es war reines Glück, dass sie ihre Reisetasche mit mehreren Kleidungsstücken zum Wechseln darin mit in das Stationsgebäude genommen hatte, während sie auf die Ankunft der Postkutsche gewartet hatte.

Bishop nippte an einem silbernen Flacon, der ebenfalls aus Mrs. Stokes’ Reisetasche stammte. Angel war ein wenig überrascht, dass die ältere Frau Whiskey bei sich hatte, aber auch er hatte sich als nützlich erwiesen, denn er hatte Bishop aufgemuntert und ihm die Kraft gegeben, die er brauchte, um das Täuschungsmanöver durchzuführen.

„Sie wissen, dass das nicht verhindern wird, dass die uns finden, Miss Devereaux“, sagte er. „Wenn die die Kutsche nach ein paar Meilen nicht eingeholt haben, wird Kyle sich denken, dass Sie vom Weg abgebogen sind. Er wird warten, bis es morgen früh hell genug ist, dann wird er umkehren und unsere Spuren finden.“

„Ich weiß“, sagte Angel, „aber er muss bis zum Morgen warten, denn heute Nacht ist kaum ein Mond zu sehen, und das ist das Wichtige. Dann haben wir Zeit, um einen guten Vorsprung herauszuholen.“

„Und wohin? Es war schon schwer genug, mit der Kutsche über offenes Land zu fahren.“ 

„Wir können es schaffen“, beharrte Angel. „Ich kenne einen Ort, wo wir uns verschanzen können.“

„Wie wollen Sie ihn im Dunkeln finden?“

„Miss Devereaux ist hier in der Gegend aufgewachsen, Mr. Bishop“, sagte Mrs. Stokes. „Sie kennt dieses Land ziemlich gut, nehme ich an, dafür, dass sie eine junge Frau ist.“

Angel musste darüber leise lachen. „Ja, mein Vater hat dauernd versucht, aus mir eine Dame zu machen, aber gleichzeitig war ihm klar, dass nicht viel davon wirklich bei mir angekommen ist. Nachdem sich die Apachen weiter nach Westen verzogen hatten und es sicher war, waren er und ich mehr als einmal in dieser Gegend zum Jagen.“

Sie spürte Blicke auf sich und drehte ihren Kopf, um sich zu vergewissern. Selbst in dem schwachen Licht konnte sie erkennen, dass Bishop sie aufmerksam ansah. Er sagte: „Ich glaube, ich hatte Glück, dass Sie heute der Jehu (1) auf dieser Kutsche waren.“

„Das werden wir noch sehen, nehme ich an. Fühlen Sie sich stark genug, um noch eine Zeitlang kutschiert zu werden?“

„Sie haben mich am Leben gehalten und mich bis hierher gebracht. Mein Leben liegt in Ihren Händen, Miss Devereaux.“

„Sagen Sie Angel zu mir“, sagte sie.

Kurz darauf war die Kutsche wieder unterwegs. Auf dem unebenen Boden taumelte sie von einer Seite auf die andere, was bedeutete, dass sie nicht sehr schnell fahren konnte. 

Angel hatte versucht, zuversichtlich zu klingen, dass sie wusste, wohin sie fuhr, aber tatsächlich hatte sie Schwierigkeiten, die richtige Richtung einzuschlagen. Als sie schließlich in den Schatten dunklere Bereiche vor sich auftauchen sah, die abgerundete Formen annahmen, durchströmte sie eine Welle der Erleichterung. Ihr Instinkt hatte sie richtig geleitet.

Sie lenkte die Postkutsche in einen Canyon zwischen zwei dieser Formen, bei denen es sich tatsächlich um unwirtliche Erhebungen handelte. Dies waren Ausläufer der Prophet Mountains, einer schmalen Bergkette, die nicht weit entfernt im Südwesten lag.

Links von Angel stieg der Hang steiler und unwirtlicher an. Sie sah eine Öffnung im Hügel oberhalb von ihr und hielt die Kutsche an.

„Wo sind wir?“ fragte Bishop.

„Sie beide bleiben hier“, sagte sie, ohne seine Frage zu beantworten. „Ich sehe mir das an.“

Sie kletterte vom Bock herunter und holte eine Öllaterne aus dem Kutschkasten. Sie hatte zwei Laternen, die man seitlich am Fahrersitz aufhängen konnte, um genügend Licht für Fahrten in der Nacht zu haben. Sie hatte sie nicht benutzt, weil sie nicht preisgeben wollte, wo sie sich befanden, falls jemand hinter ihnen war und sie suchte, aber jetzt musste sie eine davon anzünden.

Sie wartete damit, bis sie zum Eingang der Höhle geklettert war. Die Kutscherflinte hatte sie mitgenommen. Sie klemmte sie unter ihren linken Arm, während sie mit ihrer rechten Hand ein Schwefelhölzchen aus ihrer Hemdtasche fischte.

Ihr Vater hatte versucht, ihr beizubringen, wie man ein Streichholz entzündet, indem man mit dem Daumennagel über den Kopf schnippte, aber sie hatte es nie hinbekommen. Sie bückte sich und riss das Schwefelholz stattdessen an einem Felsen an. Als es brannte, zündete sie damit die Laterne an.

Die schussbereite Kutscherflinte hielt sie in der rechten Hand, den Kolben gegen ihre Hüfte gestemmt, als sie die Laterne anhob und einen Schritt in die Höhle machte.

Es war keine richtige Höhle, eher ein ausgehöhlter Raum unter einem Felsvorsprung, aber Menschen hatten ihn seit langer Zeit als Unterschlupf genutzt. Frank Devereaux hatte seiner Tochter erklärt, dass die Zeichnungen, die in die Felswand im hinteren Teil der Höhle geritzt und gemalt waren, Hunderte Jahre alt waren. Vielleicht sogar noch älter.

In Spanien gibt es Höhlen, in denen die Zeichnungen Zehntausende von Jahren alt sind, hatte Angels Vater gesagt  (2). Vielleicht sind diese auch so alt. Ich weiß es nicht. Aber das war einst das Zuhause von jemandem, also ist es ein Ort, dem man Achtung und Respekt entgegenbringen sollte.

Die einzigen Bewohner, über die sich Angel jetzt Sorgen machte, waren welche, die sich möglicherweise derzeit hier eingenistet hatten und von der Art waren, die Reißzähne im Maul und Rasseln am anderen Ende hatten. Aber zum Glück war der Ort leer, wie sie feststellte, als sie die Laterne hin und her bewegte und die hintersten Winkel des Raumes ausleuchtete.

Jetzt konnten sie und Mrs. Stokes Bishop dabei behilflich sein, hier hoch zu kommen, und sie konnte sich daran machen, den Rest des Plans auszuarbeiten, der in ihrem Kopf begonnen hatte, Gestalt anzunehmen.


VI

Schüsse bei Sonnenaufgang

Ich hatte davon gehört, dass sie Curt erwischt und ihn aufgehängt hatten“, sagte Dan Bishop leise in der Dunkelheit. Er saß mit dem Rücken an die hintere Wand der Höhle gelehnt. Angel saß im Schneidersitz in seiner Nähe auf dem Boden. Mrs. Stokes lag ausgestreckt auf einer groben Decke, die Angel aus dem Kofferraum am Heck der Postkutsche geholt hatte.

Bishop fuhr fort: „Mir war klar, dass Kyle als Nächstes hinter mir her sein würde, also bin ich so schnell wie möglich ’raus aus der Stadt. Aber es war zu spät. Sie waren mir schon auf den Fersen. Jemand schoss aus großer Entfernung mit seinem Gewehr auf mich und hatte Glück. Die Kugel ging glatt durch mich durch und traf mein Pferd in den Kopf.“

„Sodass Sie zu Fuß waren“, sagte Angel. „Warum sind die dann nicht einfach gekommen und haben Sie an Ort und Stelle erledigt?“

„Weil ich meinerseits auch noch ein bisschen Glück hatte. Mein Pferd ist nicht auf mein Gewehr gefallen, also schnappte ich es mir und gab ein paar Schüsse auf sie ab. Ich hab’ gesehen, wie Kyle gestürzt ist, und hab’ gehofft, dass ich ihn getötet hatte. Falls ich ihn getroffen hatte, war er, nach dem, was ich auf der Station gesehen habe, wohl nicht schwer verwundet. Aber es muss ihnen so einen Schrecken eingejagt haben, dass sie sich eine Zeitlang zurückzogen, und in der Zeit kamen Sie mit Ihrer Postkutsche vorbei.“ Bishop zuckte mit den Achseln. „Das ist die einzige Erklärung, die für mich Sinn ergibt.“

Auch für Angel ergab das Sinn. Sie hatte Sam Kyle zwar nicht ansehen können, dass er verwundet war, aber er hätte unter seiner Kleidung Verbände getragen haben können.

„Hören Sie“, fuhr Bishop fort, „die werden nicht vor Sonnenaufgang morgen früh hier sein. Ich weiß alles zu schätzen, was Sie beide, meine Damen, für mich getan haben, aber hier ist der Weg zu Ende. Sobald es am Morgen hell genug dafür ist, werden Sie beide mit der Postkutsche weiterfahren. Wenn Sie mir Ihr Gewehr dalassen, Miss Devereaux, werde ich hier auf Kyle und seine Männer warten. Solange Sie mit heiler Haut davonkommen und ich mich zur Wehr setzen kann, ist es mir egal, was die danach tun.“

Ohne auf seinen Vorschlag einzugehen, fragte Angel: „Was ist mit Ihrem Gewehr passiert?“ 

„Das habe ich irgendwo fallen lassen, nachdem ich auf wackligen Beinen von meinem Pferd weg bin. Da war ich schon ziemlich schwach, und ich kann mich wirklich nicht an viel erinnern, bis ich in der Kutschenstation zu mir gekommen bin.“

Die Kutschenstation, die Sam Kyle zerstört hatte, nachdem er Oliver Carlson und die beiden jungen Knechte ermordet hatte, dachte Angel.

„Wir laufen nicht weg“, sagte sie.

„Wir sind vier zu eins in der Unterzahl, und wir haben eine Winchester und eine Schrotflinte. Das ist nicht genug Feuerkraft —“

„Das könnte reichen, wenn wir sie richtig einsetzen.“

Angel hatte gedacht, Mrs. Stokes würde schlafen, aber die ältere Frau sagte: „Das Verhältnis ist auch nicht vier zu eins. Ich habe eine kleine Pistole in meiner Tasche, und ich kann schießen. Ich habe auf unserer Ranch schon so mancher Klapperschlange den Kopf weggepustet.“ Sie rümpfte die Nase. „Es macht mir nichts aus, ein paar menschliche Schlangen zu erschießen.“

„Das reicht trotzdem nicht“, beharrte Bishop. „Da unten am Hang sind Felsbrocken, wo die in Deckung gehen können. Die können uns hier festnageln und aushungern. Ganz zu schweigen davon, dass wir nicht viel Wasser haben.“

„Normalerweise fülle ich das Wasserfass an der Quelle am Razorback Ridge auf“, sagte Angel, „aber diesmal bin ich nicht dazu gekommen.“

Sie stand auf, ging zum Höhleneingang und schaute in die Dunkelheit hinaus. Der Mond stand als schmale Sichel am Himmel im Westen, aber die Sterne warfen genug silbriges Licht auf die Landschaft, dass sie die dunklen Umrisse der unten abgestellten Kutsche mit den immer noch angeschirrten Zugtieren erkennen konnte.

„Bis Sonnenaufgang sind es noch ein paar Stunden“, sagte sie zu den anderen, ohne sie anzusehen. „Eine Menge Zeit für mich, um zu tun, was nötig ist.“

* * *

Als die Sonne als orangefarbener Ball über den östlichen Horizont lugte, waren die sechs Pferde des Postkutschengespanns nirgends zu sehen, obwohl die Kutsche immer noch dort am Fuße des Abhangs stand, zwanzig Meter unterhalb des Eingangs zur Höhle.

Etwa fünfzig Meter hinter der Postkutsche wand sich der schmale Canyon durch die Bergausläufer um einen Felsvorsprung. Angel saß auf diesem Vorsprung, auf einer Felsplatte, von der aus sie den Weg überblicken konnte.

Die Pferde waren – ohne ihr Geschirr – in einem Gebüsch unterhalb von ihr angebunden, wo sie von der Postkutsche aus nicht gesehen werden konnten.

Sie saß da, ​​atmete tief ein und aus, um ihre Nerven zu beruhigen, und wartete darauf, dass Sam Kyle und seine Deputies auftauchten, nachdem sie ihren Spuren vom Hauptweg aus gefolgt waren.

Eine leichte Bewegung erregte ihre Aufmerksamkeit. Sie ließ sich vom Felsen hinuntergleiten und duckte sich dann dahinter, um nach Nordosten zu spähen. Sie hatte ihren Hut abgenommen und ließ ihr rabenschwarzes Haar ungebändigt um ihre Schultern fallen.

Die Reitergruppe kam in ihr Blickfeld. Diesmal wurde sie nicht von Sam Kyle angeführt, sondern von einem älteren Mann mit grauem Bart. Er musste ein Fährtenleser mit scharfen Augen sein, der die Spur beim ersten Anzeichen des Morgengrauens am Himmel im Osten aufgenommen hatte.

Die Mörder waren früher da, als Angel erwartet hatte.

Das war nicht schlimm, sagte sie sich. Weniger Zeit zum Warten und Sich-Sorgen-Machen.

Kyle musste die Postkutsche gesehen haben. Er überholte den älteren Mann, offensichtlich begierig darauf, das Gefährt zu erreichen. Doch dann wurde er langsamer, vielleicht aus Sorge vor einer Falle.

Kyle zog die Zügel an und hob eine Hand zum Zeichen, dass sie anhalten sollten. Er und die anderen unterhielten sich ein paar Minuten lang. Angel beobachtete sie von ihrem Versteck oben im Canyon aus und spekulierte, was sie sagten. Dass die Postkutsche da war, aber nicht die Zugtiere, könnte bedeuten, dass die drei Personen, die sie jagten, das Gefährt zurückgelassen hatten und versuchten, auf den Pferden reitend zu entkommen.

Dann zeigte Kyle auf den dunklen, höhlenartigen Raum unter dem Überhang. Dort könnte sich ihr Wild verstecken, sagte er zu den anderen. Jemand musste nachsehen.  Stimmen wurden laut.

Der ältere Mann und einer der Deputies zogen ihre Pferde herum und ritten vorwärts. Sie packten ihre Gewehre und hielten sie schussbereit, als sie sich vorsichtig der Postkutsche näherten. Als sie das Gefährt erreichten, brauchten sie nur einen Moment, um zu erkennen, dass es leer war.

Die beiden Männer wechselten ein paar Worte, und dann schwang sich der Fährtenleser aus seinem Sattel und machte sich mit seinem Gewehr auf den Weg den Hang hinauf.

Das war eine dumme Entscheidung, dachte Angel, zuzulassen, dass sich einer deiner wertvollsten Männer auf diese Weise direkt in Gefahr begibt. Aber Kyle würde das nicht wirklich kümmern. Er wollte einfach nur die Bishops auslöschen, koste es, was es wolle.

Der ältere Mann war den Hang halb hinauf, als er unvermittelt anhielt, sein Gewehr an die Schulter riss und feuerte. Bishop musste sich am Höhleneingang gezeigt haben. Das jaulende Geräusch, als der Schuss des älteren Mannes als Querschläger abprallte, vermischte sich mit dem scharfen Knall eines zweiten Schusses, diesmal aus der Höhle, und der Fährtenleser warf seine Arme hoch, während er rückwärts umkippte. Sein Gewehr segelte durch die Luft. Tödlich getroffen stürzte er mit hin und her schlenkernden Gliedmaßen den Abhang hinunter.

Einer weniger. Die Chancen hatten sich schon verbessert.

Der Schusswechsel sorgte dafür, dass Kyle und seine Männer aus den Sätteln gingen. Eilig suchten sie Deckung hinter den Felsbrocken, mit denen der Abhang im unteren Bereich übersät war.

Angel entspannte sich und ließ sich dann zu dem Gebüsch hinuntergleiten, wo die Pferde angebunden waren. Währenddessen hörte sie Sam Kyle laut fluchen, und dann: „Bishop, du hast gerade einen anständigen Mann umgebracht! Ich werde dafür sorgen, dass du dafür mit deinem Leben bezahlst!“ 

„Sie hätten mich sowieso getötet, Kyle“, antwortete Dan Bishop. „Ich kann nicht erkennen, wie ich meine Lage dadurch verschlechtert haben soll.“

„Ich hätte dich schnell und sauber getötet, Junge! Jetzt werde ich einen Strick über einen Ast werfen, dich hochziehen und zusehen, wie du um dein Leben zappelst.“ Kyle lachte. „Ich frage mich, ob du so lange zappeln wirst wie dein Bruder.“

Lass’ dich nicht von ihm zu einer Dummheit verleiten, flehte Angel Bishop im Stillen an. Halte dich an den Plan.

„Wenn Sie mich haben wollen“, rief Bishop, „kommen Sie hier ’rauf  und holen Sie mich, Kyle. Wenn Sie nicht zu feige sind!“

Kyle fluchte erneut, und dann rollte Gewehrdonner durch den Canyon, als das angebliche Aufgebot mit Gewehren und Revolvern das Feuer auf den Höhleneingang eröffnete.

Angel hoffte, dass Bishop und Mrs. Stokes ihre Köpfe einzogen. Man konnte nicht vorhersehen, was Querschläger anrichten würden, aber dieses Risiko mussten sie in Kauf nehmen.

Sie nahm ihren Hut, pfropfte ihn sich auf den Kopf und griff dann dort, wo diese an einem Felsen lehnte, nach der Kutscherflinte. Sie hielt die doppelläufige Waffe in ihrer rechten Hand und kletterte auf eines der Pferde. Sie hatte gelernt, ohne Sattel zu reiten, als sie kaum laufen konnte.

Indem sie mit ihrem Hut auf die Hinterteile der anderen Tiere schlug, brachte sie diese dazu loszupreschen. Mit ihren Füßen trat sie gegen die Rippen ihres Reittiers und trieb es damit im Galopp direkt hinter den anderen her. Sie stürmten um den Felsvorsprung herum, hinter dem sie sich versteckt hatten.

Bei dem ganzen Lärm der ständigen Schüsse und dazu noch den Echos, die zwischen den Wänden des Canyons hin und her hallten, hörten Kyle und seine Männer die auf sie zukommenden Pferde erst, als es schon zu spät war. 

Sie sprangen auf und versuchten auszuweichen. Zwei von ihnen gerieten unter die stampfenden Hufe.

Zwei andere schossen mit Handfeuerwaffen auf Angel, aber sie war tief über den Hals ihres Reittiers gebeugt, um kein großes Ziel zu bieten. Sie richtete sich gerade soweit auf, dass sie die Kutscherflinte an ihre Schulter legen und einen der Abzüge betätigen konnte. Die Schrotladung streute weit genug, um beide Männer von den Beinen zu holen.

Währenddessen benutzte Dan Bishop die Winchester, um zwei Männer abzuschießen, die ihre Deckung aufgegeben hatten, um nicht von den Pferden überrannt zu werden.

Und damit war Sam Kyle unvermittelt auf sich allein gestellt.

Anstatt zu versuchen, Angel vom Pferd zu schießen, sprang er mit wildem Gebrüll auf sie zu. Bishop musste aus Angst, sie zu treffen, das Feuer einstellen. Angel versuchte, die Kutscherflinte herumzuschwenken, aber Kyle packte ihren Arm und zerrte sie vom Rücken des Pferdes. Die unsanfte Ladung raubte ihr den Atem. Er trat ihr die Schrotflinte aus der Hand. Mit unabgefeuertem zweitem Lauf flog sie klappernd davon.

Benommen lag Angel da, und Kyle stand in drohender Haltung über ihr. Er hatte einen Colt in der Hand, der auf ihr Gesicht gerichtet war. Der Hammer war zurückgezogen, nur sein Daumen hielt ihn fest.

„Bishop!“ brüllte der verbrecherische Gesetzeshüter. „Wenn du mich erschießt, stirbt auch das Mädchen!“

Dan Bishop tauchte am Höhleneingang auf, die Winchester im Anschlag.

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„Lassen Sie sie gehen, Kyle! Sie wissen, wenn Sie sie töten, sterben Sie einen Wimpernschlag später. Außerdem geht es bei diesem Kampf nur um Sie und mich.“

Kyle lachte und sagte: „Da liegst du falsch. Es ist eine Sache zwischen mir und der Welt. Du und deine Familie wart mir einfach nur im Weg.“

Angel war wieder soweit bei Besinnung und zu Kräften gekommen, dass sie sagen konnte: „Mister, Sie sind wirklich loco.“

Kyles Blick richtete sich für einen Augenblick hinunter auf sie. „Schnauze! Oder ich lege dich gleich jetzt um.“ Er wandte seine Aufmerksamkeit wieder Bishop zu. „Wirf das Gewehr weg und komm hier ’runter, Bishop. Ich lasse das Mädchen und die alte Frau am Leben. Die sind mir schnuppe. Ich will nur dich.“

Angel wusste, dass das eine Lüge war. Kyle würde sie und Mrs. Stokes töten, sobald er Bishop erledigt hatte. Daran zweifelte sie keine Sekunde.

Was bedeutete, dass sie nochmals etwas riskieren musste. 

Kyle musste das leise Klicken gehört haben, als sie den Hahn der Pistole zurückzog, die sie gerade aus ihrem Hemd geholt hatte. Die Pistole, die sie sich von Mrs. Stokes mit der  Begründung geliehen hatte, dass die Entfernung den Abhang hinunter für einen präzisen Schuss zu groß war.

Aber die Entfernung betrug weniger als zwei Fuß, als Angel sie in Sam Kyles Handgelenk abfeuerte und damit die Hand, in der er den Revolver hielt, zur Seite stieß, sodass die Kugel, als der Hammer des Colts zuschnappte und die Waffe krachte, gut einen Fuß links von Angels Ohr in den Boden fuhr.

Weniger als einen Herzschlag später krachte die Winchester in Bishops Händen, und Kyles Kopf wurde zurückgeschleudert, mit einem rot umrandeten schwarzen Loch mitten in seiner Stirn, wo die Gewehrkugel ihn getroffen hatte. Sie durchschlug seinen Schädel und tötete ihn auf der Stelle.

Angel rollte sich hastig zur Seite, damit der tote Mann nicht auf ihr landete, als er nach vorne kippte.

* * *

Die Deputies waren alle tot. Angel hatte zwei von ihnen mit der Kutscherflinte getötet und zum Tod der anderen beigetragen. Vor dem Gesetz war sie damit eine Mörderin.

„Machen Sie sich darüber keine Sorgen“, erklärte ihr Mrs. Stokes. „Diese Männer waren außerhalb ihres Zuständigkeitsbereichs und hatten keine juristische Befugnis. Sie waren kaltblütige, gesetzlose Mörder, und Sie und Mr. Bishop haben in Notwehr gehandelt.“

„Versuchen Sie ’mal, die Ranger davon zu überzeugen“, sagte Bishop, während er auf einer der Stufen zur Tür der Postkutsche saß.

Mrs. Stokes lächelte. „Mein Mann ist mit Captain Jack Hays geritten, damals, als Texas noch eine Republik war, und er kennt immer noch einige der Offiziere bei den Rangern. Wenn ich ihm erst ’mal genau erzähle, was hier passiert ist, wird er keine Mühe haben, dass sie die Wahrheit akzeptieren.“

„Das weiß ich zu schätzen, Mrs. Stokes“, sagte Angel, „und ich bin sicher, Mr. Bishop tut das auch.“

Bishop lächelte. „Sie haben mir gestern Abend gesagt, ich soll Angel zu Ihnen sagen. Ich glaube, es ist an der Zeit, dass Sie Dan zu mir sagen.“

Das könnte sie tun, dachte sich Angel. Bei dem Gedanken schlich sich ein Lächeln auf ihr Gesicht, als die beiden Passagiere wieder in der Kutsche waren, sie auf dem Kutschbock saß, die Zügel in ihren Händen hielt und sie den Weg entlang dorthin rollten, wo sie planmäßig erwartet wurden.



© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025


Wir danken dem Autor für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung und für die Auswahl des deutschen Titels.



Fußnoten

(1) „Jehu“ ist ein – in England schon seit dem 17. Jahrhundert gebräuchlicher – Ausdruck für einen Kutscher, der auf einen alttestamentarischen König aus dem 9. vorchristlichen Jahrhundert Bezug nimmt, über den es in einer Passage im Zweiten Buch der Könige heißt: „Und der Wächter berichtete: Er ist bis zu ihnen gekommen, kehrt aber nicht zurück. Und das Fahren gleicht dem Fahren Jehus, des Sohnes Nimschis; denn er fährt wie in Raserei“ (Kapitel 9, Vers 20).

(2) Im englischsprachigen Original steht „France“. Da die französischen Höhlen mit ihren Malereien im 19. Jahrhundert noch nicht entdeckt waren, haben wir dies in Absprache mit James Reasoner in „Spanien“ geändert; dort waren Höhlenmalereien seit den späten 1870er Jahren (Altamira) bekannt, sodass Angels Vater über sie hätte gelesen haben können. (KJR)


Anmerkung

James Reasoner, der zu den meistgelesenen amerikanischen Western-Autoren der vergangenen Jahrzehnte gehört, ist ein großer Liebhaber der Westerngeschichten, die insbesondere in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts in den USA in den Pulp-Magazinen veröffentlicht wurden und über Jahrzehnte hinweg ein fasziniertes und dankbares Publikum fanden, ehe die Paperbacks und das aufkommende Fernsehen mit seinen Filmen und Serien ihnen das Wasser abgruben. Im deutschsprachigen Raum sind viel zu wenige dieser zumeist fesselnden und spannenden, aber auch romantischen Abenteuererzählungen übersetzt worden. Hierzulande konzentrierte man sich auf längere Texte und brachte diese in Leihbüchern, Romanheften und Taschenbüchern auf den Markt. 

In „Die Kutschenkönigin lässt die Kugeln hageln“ finden wir eine klare Trennung zwischen den Guten und den Bösen, eine attraktive Heldin, ein Opfer, den Schurken und eine überschaubare Gruppe von Nebenfiguren, dazu eine einfallsreiche Handlung mit der einen oder anderen Überraschung, die sich vor dem Hintergrund einer westtexanischen Landschaft abspielt.

Eher ungewöhnlich ist, dass James Reasoner mit Angel – ähnlich wie rund siebzig Jahre vor ihm Les Savage Jr. mit „Señorita Scorpion“ – eine weibliche Hauptfigur erschaffen hat. Für die Zukunft sind – sofern der Autor Zeit dafür findet – weitere Abenteuer mit der Kutschenkönigin geplant, die dann auch ihren Weg ins AKWA Journal finden sollen.   -KJR-