William John Pronzini (Jahrgang 1943) ist vorwiegend als Krimiautor und Herausgeber von Anthologien bekannt. Zusammen mit Martin H. Greenberg edierte er dabei auch eine Vielzahl von Sammlungen von Western-Stories, von denen es aber nur eine einzige zu einer deutschen Ausgabe brachte (Heyne-Taschenbuch # 2746: Bis zum letzten Mann; 1986). Während es zumindest von einigen seiner Kriminalromane deutschsprachige Versionen gibt, sind im Western-Genre keine Romane von ihm und – soweit ersichtlich – nur zwei seiner eigenen Kurzgeschichten auf Deutsch erschienen – und das vor mehr als vierzig Jahren. Die hier präsentierte Story belegt eindrucksvoll, dass der Autor hierzulande Besseres verdient gehabt hätte. Als der britische Historiker Jon E. Lewis im Jahre 2013 eine Liste der seiner Meinung nach 100 besten Western-Kurzgeschichten aller Zeiten veröffentlichte, war sie verdientermaßen dabei.
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Ich schnappte ihn am zweiten Tag kurz nach Mittag am westlichen Rand meines Weidelandes in der Nähe vom Little Creek.
Er war allerdings kein sonderlich begabter Viehdieb. Er war am helllichten Tag auf mein Land gekommen, rotzfrech, anstatt die Kühe nachts wegzutreiben und sie dann irgendwo anders zu bränden. Und er hatte sein Feuer in einer flachen Senke entzündet, als ob das den Rauch daran hindern würde, in die Höhe zu steigen und davon zu ziehen. Außerdem konnte man das Brüllen der Rinder von Weitem hören.
Ich pflockte mein Pferd bei einem Gestrüpp an, schlich mich an den Rand der Senke und hockte mich hinter einen Traubenkirschbaum, um ihn zu beobachten. Ich wünschte, er wäre ein Fremder gewesen oder einer der Kleinrancher von jenseits des Knob. Aber man bekommt in diesem Leben nicht immer, was man sich wünscht – zur Hölle, nein, das bekommt man nicht, und dieses Mal war keine Ausnahme. Er war kein Herumtreiber, und er war kein Kleinrancher. Er war genau der, den ich für den Brandzeichenfälscher gehalten hatte: der junge Cal Dennison.
Er hatte ein Fälschereisen zum Erhitzen im Feuer, hockte daneben und rauchte eine Zigarette, während er wartete. In der Nähe standen ein mageres, orangebraunes Rinderpony und zwei meiner Four-Dot-Kühe, denen er mit kurzen Schnüren die Beine zusammengebunden hatte. Beide Kühe waren junge gescheckte Färsen, gutes Zuchtvieh.
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Die Spitze des Stabeisens begann sich rot zu färben. Cal Dennison drehte es einmal, rauchte zu Ende und machte sich daran, eine der Färsen nahe zum Feuer zu ziehen. Als er sich mit dem Eisen an die Arbeit machte, wandte er mir den Rücken zu. Der scharfe Geruch von versengtem Haar wehte mit der warmen Nachmittagsbrise herauf.
Ich erhob mich und zog meinen Colt-Sechsschüsser. Links von mir gab es einen bequemen Weg in die Senke. Ich ging dorthin und machte mich langsam und vorsichtig auf den Weg nach unten. Das Brüllen der Färsen übertönte jedes Geräusch, das ich machte. Ich blieb ein Dutzend Schritte seitlich hinter ihm stehen, nahe genug, um zu sehen, dass er fast damit fertig war, aus den vier Tüpfeln meines Brandzeichens einen dicken Balken zu machen. Wenn ich ihm genug Zeit ließe, würde er über dem Balken ein D einbrennen, so wie er es im Laufe der letzten Woche oder so bei anderen meiner Kühe getan hatte. Dann würde er sich um die andere Färse kümmern und anschließend beide auf die D-Bar-Weide treiben, die sich auf der anderen Seite des Little Creek neben meiner befand. D-Bar war Lyle Dennisons Brandzeichen.
Aber ich ließ ihm nicht genug Zeit. Ich spannte den Hahn des Colts und sagte schnell und laut: „Hab’ ich dich erwischt, Junge. Bleib’ ruhig da stehen, wo du bist.“
Er musste das Klicken des Hammers gehört haben, denn während ich noch die Worte aussprach, war er bereits in Bewegung. Gewandt wie eine Katze machte er eine vollständige Körperdrehung, mit einem Ausdruck wilder Überraschung in seinem Gesicht.
„Ich sagte ‚Stehenbleiben’! Willst du sterben, Junge?“
Der Anblick des Colt und der Tonfall meiner Stimme, vielleicht sogar allein die Worte, ließen ihn schließlich auf einem Bein knieend erstarren, immer noch mit dem Stabeisen in der Hand. Ich hätte ihm alle Kugeln in meinem Sechsschüsser in den Leib jagen können, bevor er das Eisen hätte fallenlassen und seine eigene Pistole ziehen können, und das wusste er. Ich beobachtete, wie er mit der Zunge seine Lippen befeuchtete und sich wieder fasste, beobachtete, wie sich die Wildheit in einen Ausdruck mürrischen Trotzes verwandelte.
„Bennett“, sagte er in einer Art, wie die meisten Männer „Pferdekacke“ sagen würden.
„Leg’ das Eisen hin. Vorsichtig.“
Er tat es.
„Jetzt deinen Revolver, noch vorsichtiger. Mit nur zwei Fingern.“
Auch das tat er.
„Binde die Färse los. Und danach die andere.“
Er brauchte ungefähr eine Minute, bis er die Schnüre von den Beinen der ersten Färse gelöst hatte. Sie rappelte sich auf und trottete, immer noch brüllend, die Senke hinunter. Er schaffte es schneller, die zweite Kuh loszubinden, und während diese davon lief, stand er mit hochgezogener Hüfte da und starrte mich böse an. Ich hatte ihn ein paar Mal in Cricklewood gesehen, aber die Dennisons und die Bennetts hatten in den letzten zwanzig Jahren Abstand voneinander gehalten; dies war das erste Mal, dass ich mir den Jungen aus der Nähe ansehen konnte. Er musste jetzt gut neunzehn sein. Groß und sehnig und mit heller Haut – das Ebenbild seiner Mutter, dachte ich. Dieselben hellbraunen Locken, dieselben dunklen, rauchgrauen Augen und dieselbe stolze Haltung.
Wie lange war Ellen Dennison schon tot? Zehn Jahre? Elf? Es ist schon komisch, wie die Zeit das Gefühl dafür, wie sie vergeht, verzerrt, wie einzelne Jahre in all der langen Zeit verschwimmen und sich vermischen, bis man sie nicht mehr auseinander halten kann.
„So!“ sagte der junge Cal. „Und jetzt?“
Ich gab ihm keine Antwort. Stattdessen ging ich zu der Stelle neben dem Feuer, wo er gewesen war, und beförderte seinen Revolver, einen alten Allen & Wheelock Navy Kaliber .36, mit einem Fußtritt zwischen die Zweige eines Wildrosenstrauchs.
Wütend sagte er: „Warum haben Sie das gemacht? Er wird von den Dornen ganz verkratzt.“
„Du wirst ihn nicht noch einmal benutzen.“
„Wollen Sie mich erschießen, Bennett?“
„Für dich ‚Mister Bennett‘.“
„Fahren Sie zur Hölle, Mister Bennett.“
„Wenn das hier vor zwanzig Jahren gewesen wäre … dann hätte ich dich schon längst erschossen.“
„Tja, es ist aber nicht vor zwanzig Jahren.“
„Für Viehdiebstahl kann man in diesem Bezirk immer noch gehängt werden.“
„Davor habe ich keine Angst. Und vor Ihnen auch nicht, Mister Bennett.“
„Dann bist du nicht nur in einer Hinsicht ein verdammter Narr.“
Er versuchte, seinen Mund zu einem höhnischen Grinsen zu verziehen, aber es gelang ihm nicht wirklich. Er war nicht annähernd so hart oder furchtlos, wie er den Eindruck zu erwecken versuchte. Sein Blick löste sich von mir und wanderte hinauf zum Rand der Senke.
„Wo ist der Rest Ihrer Leute?“
„Es gibt nur mich. Ich brauche keine Leute, um einen Anfänger aufzuspüren. Ich habe nur anderthalb Tage gebraucht.“
Dazu fiel ihm kein flotter Spruch ein.
Ich fragte: „Wie viele von meinen Kühen hast du umgebrändet?“
„So gottverdammt schlau, wie Sie sind, finden Sie es selbst heraus.“
„Meine Reiter sagen, mindestens ein halbes Dutzend.“
„Zweitausend“, sagte er trotzig.
„Also gut. Weiß dein Pa, was du hier machst?“
„… Nein.“
„Habe ich auch nicht gedacht. Was auch immer Lyle Dennison sonst noch ist, jedenfalls ist er keiner, der Brandzeichen fälscht, und kein Viehdieb.“
„Ich werde Ihnen sagen, was er ist“, sagte der Junge. „Er ist doppelt so viel wert wie Sie.“
„Das mag sein. Aber du bist nicht halb so viel wert, wie einer von uns beiden jemals gewesen ist.“
Das ließ seine Wut wieder auflodern. „Sie haben dreitausend Morgen Land gestohlen, die ihm gehörten! Sie haben ihn zu einem heruntergekommenen Kleinrancher gemacht!“
„Nein. Das Land gehörte mir. Das Bezirksgericht hat in öffentlicher Sitzung so entschieden…“
„Sie haben diesen Richter gekauft! Sie haben ihn bestochen! Das war schon immer Ihre Art, Mister Bennett. Sie holen sich, was Sie wollen, egal wie … lügen, stehlen und betrügen, um es zu kriegen. Ist doch so, oder nicht?“
Mir lag noch eine Lüge auf der Zunge, aber sie schmeckte bitter, und ich verkniff sie mir. Was wusste er schon darüber, wie es früher war, ein junger Bursche wie er? Diese dreitausend Morgen gehörten mir durch das Recht des Erstbesitzes; meine Rinder befanden sich auf freier Weide, bevor Lyle Dennison und andere wie er in diesem Tal auftauchten. Ein Mann muss für das kämpfen, was ihm gehört, auch wenn er dafür schmutzige Tricks anwenden muss. Wenn er das nicht tut, verliert er es – und wenn es einmal weg ist, bekommt er es nie wieder zurück. Es ist dann für immer verloren.
„Darum geht es also bei dieser Sache mit dem Umbränden?“ fragte ich ihn. „Etwas, das vor zwanzig Jahren zwischen deinem Vater und mir passiert ist?“
„Verdammt richtig, genau darum geht es. So wie ich das sehe, habe ich genauso viel Recht, Ihr Vieh zu stehlen, wie Sie es hatten, das Land meines Vaters zu stehlen.“
„Zwanzig Jahre sind eine lange Zeit, Junge. Länger als du auf dieser Erde bist.“
„Das ändert nichts daran, wie es war. Pa hat nie etwas dagegen unternommen… er hat einfach aufgegeben. Aber ich nicht. Es ist jetzt mein Kampf, und ich gebe nicht auf, bis er entschieden ist, so oder so.“
„Warum ist es jetzt dein Kampf?“
„Weil es so ist.“
„Ist deinem Pa ’was zugestoßen?“
„Das geht Sie nichts an.“
„Jetzt geht es mich etwas an. Er ist doch nicht gestorben, oder?“
„So gut wie.“
„Also krank? Todkrank?“
Der Junge schwieg eine Zeit lang. Aber ich konnte sehen, wie sie an ihm nagten, der Schmerz, die Wut und der Hass; er musste sie herauslassen oder daran zerbrechen. Als er sie herausließ, schleuderte er mir die Worte entgegen, als wären sie Messer. „Letzte Woche hatte er einen Schlaganfall. Hat ihn gelähmt. Er kann sich kaum bewegen, kaum sprechen, liegt nur da in seinem Bett. Sind Sie jetzt zufrieden? Macht Sie das glücklich?“
„Nein, Junge, das tut es nicht. Es tut mir leid.“
„Leid? Herrgott … es tut Ihnen leid! Sie Hurensohn …“
„Das reicht. Hol’ dein Pferd.“
„Was?“
„Hol’ dein Pferd. Bring’ es dahin, wo meins angepflockt ist.“
„Bringen Sie mich in die Stadt?“
„Wir reiten zur D-Bar. Ich will deinen Pa sehen.“
„Nein!“
„Da hast du nicht mitzureden. Tu, was ich dir gesagt habe.“
„Warum? Wollen Sie ihm das hier erzählen?“
„Vielleicht. Vielleicht auch nicht.“
„Wenn Sie das tun, wird es ihn umbringen.“
„Daran hättest du denken sollen, bevor du mit diesem Fälschereisen auf mein Land gekommen bist.“
„Ich gehe nicht mit.“
„Du wirst mitgehen“, sagte ich. „Entweder sitzt du dabei in deinem Sattel oder du bist darüber festgebunden mit einer Kugel im Bein, so oder so.“
Er rührte sich nicht, bis ich mit dem Colt vor ihm wedelte. Dann spuckte er heftig ins Gras, drehte sich um und stapfte hinüber zu der Stelle, wo der Orangebraune angepflockt war.
Ich folgte ihm und dem Pferd bis zum Rand der Senke und versuchte mir darüber klar zu werden, wie ich auf die Idee gekommen war, dies zu tun. Es war nicht nur das Fälschen der Brandzeichen. Und es lag auch nicht daran, dass ich den Jungen vor Lyle demütigen oder Salz in alte Wunden streuen wollte. Es könnte sein, dass ich Lyle von dem Viehdiebstahl erzählen würde, aber wahrscheinlich eher nicht. Vielleicht war der Grund, dass Lyle Dennison und ich einmal Freunde gewesen waren und er jetzt krank war und wahrscheinlich im Sterben lag. Vielleicht musste dem jungen Cal eine Lektion erteilt werden. Oder vielleicht war es einfach so, dass ich ein verrücktes Bedürfnis verspürte, noch einmal Kontakt mit der Vergangenheit aufzunehmen.
Ein Mann weiß nicht immer, warum er etwas tut. Er braucht es nicht zu wissen. Es ist einfach etwas, was er tun muss, also macht er es einfach. Damit muss es sein Bewenden haben.
***
Es war mitten am Nachmittag, als die Gebäude der D-Bar-Ranch in Sicht kamen. Sie waren in einer Mulde gruppiert, wo der Little Creek floss, während in der Ferne die finsteren, schneebedeckten Umrisse der Rocky Mountains aufragten.
Nach so vielen Jahren hatte ich mit Veränderungen gerechnet, aber nicht mit solchen, die ich sah, als wir den Hügel über dem Bach erreicht hatten. Die Ranch wirkte heruntergekommen und verwittert, als würde dort niemand mehr leben. Lücken in den Wänden der Walmdachscheune, fehlende Stangen im Zaun des Corrals, ein Hühnerstall aus rostigem Draht, wo früher das Bunkhaus gestanden hatte. Das Haupthaus brauchte einen neuen Anstrich, neue Fassadenverkleidungen und ein neues Dach. Früher hatte es dort Blumenbeete und einen Gemüsegarten gegeben. Jetzt gab es hier und da ein paar vertrocknete Ranken und Büsche, wie verstreute Knochen auf einem Friedhof.
Cal sagte: „Gefällt Ihnen, was Sie sehen, Mister Bennett?“, und mir wurde klar, dass er mich beobachtet hatte, wie ich alles in mich aufnahm. Es war das erste Mal, dass er sprach, seit wir mein Land verlassen hatten.
„Warum haben du und dein Pa die Sachen nicht in Ordnung gehalten?“
„Warum? Warum, zum Teufel, denken Sie? Er ist alt, und ich habe nur zwei Hände, und der Tag hat nur vierundzwanzig Stunden.“
„Arbeitet keiner für euch?“
„Nicht seit die meisten unserer Kühe vor zwei Jahren an Milzbrand eingegangen sind.“
„Durch Milzbrand habe ich auch ein paar von meinen Kühen verloren“, sagte ich.
„Sicher. Aber dann sind Sie gleich losgegangen und haben ein paar neue gekauft, oder nicht?“
Den Rest des Weges ritten wir in erneutem Schweigen. Der Junge beugte sich hinunter und zog den Holzriegel hoch, der das durchhängende Tor verschlossen hielt, und wir setzten unseren Weg über den Hof fort. Sogar das Gras, das hier wuchs, sogar die großen schattenspendenden Pappeln hinter dem Haus und die Weiden entlang des Baches wirkten staubig und leblos.
An dem Holm vor dem Haus zogen wir die Zügel an und saßen ab. Dann sagte ich: „Ich werde allein mit ihm reden.“
„Den Teufel werden Sie! Wenn Sie da reinspazieren, als ob Ihnen das Haus gehört, kriegt er noch einen Schlaganfall …“
„Da hast du nicht mitzureden, Junge. Das habe ich dir doch gesagt.“
„Sie können nicht einfach bei ihm reinplatzen!“
„Ich werde mich vorher bemerkbar machen.“
„Was ist mit mir? Erwarten Sie, dass ich einfach hier stehe und auf Sie warte?“
„Das ist genau das, was ich erwarte. Du wirst nicht weglaufen. Und du wirst auch nicht versuchen, gegen mich zu kämpfen, nicht, wenn dein Pa da drinnen liegt.“
Unsere Blicke trafen und verhakten sich. In ihnen war so viel Hitze wie zwischen zwei wilden Stieren, die mit ihren Hörnern aufeinander losgehen. Aber ich war älter und härter und besaß außerdem einen Sechsschüsser, auch wenn er jetzt – wie schon die meiste Zeit während des Ritts – im Holster steckte. Cal wusste das genauso gut wie ich. Das war der Grund, weshalb er es war, der zuerst wegsah. Er hasste sich selbst dafür und mich umso mehr, weil ich es länger ausgehalten hatte als er.
Er sagte mit belegter Stimme: „Werden Sie es ihm sagen?
„Ich habe mich noch nicht entschieden.“
„Er wird Sie einen Lügner nennen, wenn Sie es tun.“
Ich sagte: „Bleib’ hier stehen, wo du mich hören kannst, wenn ich dich rufe“, und ging die Stufen hinauf zur Fliegengittertür. Er versuchte nicht, mir zu folgen. Als ich mich umdrehte, um einen Blick auf ihn zu werfen, stand er wie festgewachsen an genau derselben Stelle, und der Hass leuchtete aus seinen Augen wie Lichtstrahlen aus einer roten Laterne.
Ich öffnete die Fliegengittertür – die Innentür war bereits offen – und rief: „Lyle? Hier ist Sam Bennett. Ich möchte mir dir reden.“
Keine Antwort.
„Melde dich, wenn du etwas dagegen hast, dass ich reinkomme.“
Immer noch keine Antwort.
Ich ging hinein und ließ die Fliegengittertür hinter mir zufallen. Die Wärme des Tages lag schwer im Wohnzimmer. Und Staub auch – eine dünne Schicht davon auf dem Boden und auf den alten, abgenutzten Möbeln. Ellen Dennison war eine ordentliche, saubere Frau gewesen; sie hätte dafür gesorgt, dass das Haus ebenso gewesen wäre. Aber sie war schon lange nicht mehr da. Seit zehn oder elf Jahren gab es nur noch Lyle und den Jungen.
„Lyle?“
Die Wände schienen meine Stimme zurückzuwerfen. Ich ging durch den Raum in einen Flur, von dem drei Türen abgingen. Er war hinter der letzten von ihnen, im hinteren Schlafzimmer. Er lag in einem Himmelbett, eine alte Flickendecke war über ihm ausgebreitet. Seine Augen waren weit geöffnet. Mit einem einzigen Blick zu ihnen wusste ich, dass er tot war.
Eine dünne Hand mit sichtbaren Adern lag mit der Handfläche nach oben auf dem Quilt. Ich ging hinüber und berührte sie, und sie war kühl und steif. Die Steifheit war auch seinem Gesicht und seinem Körper anzusehen. Er war schon eine Weile tot, seit irgendwann an diesem Vormittag.
Eine Zeit lang stand ich da und blickte auf ihn herab. Wir waren gleich alt, sechsundvierzig, aber die Jahre hatten bei ihm verheerend gewirkt, während sie an mir nur ein wenig genagt hatten. Sein Haar war dünn und grauweiß, die Falten in seinem Gesicht waren so tief wie Risse in sonnengetrocknetem Schlamm, und seine Hände waren die eines Mannes in den Sechzigern. Für ihn war der Tod wie eine Gnade gekommen.
Eine Traurigkeit machte sich in mir breit, als ich ihn so aus der Nähe sah, gerade erst verstorben. Ich hatte Lyle Dennison nie gehasst. Er war einmal mein Freund gewesen, und dann war er mein Feind gewesen, aber ich hatte ihn nie gehasst oder auch nur eine besondere Abneigung gegen ihn gehabt. Nach dem Rechtsstreit vor Gericht hatte ich kaum noch an ihn gedacht. Zum Teufel, warum hätte ich es tun sollen? Ich hatte mir die dreitausend Morgen gesichert, und darum ging es. Land, Geld und Macht waren die einzigen Dinge, auf die es ankam.
Das war meine Denkweise damals und auch während der meisten Zeit meines Lebens. Jetzt dachte ich allerdings nicht mehr so.
Ich beugte mich hinab und schloss Lyles Augen. Dann ging ich durch das Haus zurück und hinaus auf die Veranda. Cal stand dort, wo ich ihn zurückgelassen hatte. Das Einzige, was er getan hatte, war, dass er seine Utensilien herausgeholt und sich eine Zigarette gedreht hatte.
Mit ihr im Mund sagte er: „Das war ja ein kurzes Gespräch.“
„Er ist tot, Cal“, sagte ich.
„Was?“
„Dein Pa ist tot. So wie es aussieht, ist er irgendwann heute Vormittag gestorben.“
„Sie sind ein gottverdammter Lügner!“
„Geh’ rein und überzeuge dich selbst.“
Die Zigarette fiel ihm aus dem Mund, berührte die Vorderseite seines Hickory-Hemdes und sprühte auf dem Weg zum Boden Funken. Er bemerkte es nicht. Sein Gesicht war blutleer geworden. „Sie haben ihm von mir erzählt. Sie haben es ihm erzählt, und er hatte wieder einen Schlaganfall …“
„Er hatte wieder einen Schlaganfall, das stimmt wohl. Aber er ist schon ein paar Stunden tot. Geh’ schon, Junge. Überzeuge dich selbst.“
Er lief zu den Stufen. Ich trat zur Seite, als er hinauf rannte, die Fliegengittertür aufriss und hineinstürmte. Als die Tür wieder zu schlug, ging ich zum Zügelholm hinunter und drehte mir selbst eine Zigarette. Aber sie schmeckte scheußlich, als würde ich Schwefelrauch einatmen. Nach zwei Zügen warf ich sie weg. Dann stand ich einfach da und beobachtete einen Falken, der über den Pappeln am Bach schwebte, und wartete.
Fast zehn Minuten vergingen, bis Cal wieder herauskam. Inzwischen hatte er sich wieder im Griff, wahrscheinlich, damit ich nicht sah, wie sehr er trauerte. Er kam zu mir herunter und sah mich eine Weile an. Der Hass, der sich jetzt in seinen Augen angestaut hatte, schwelte.
Er sagte: „Etwas möchte ich wissen.“
„Dann frag’.“
„Wenn er noch am Leben gewesen wäre, hätten Sie es ihm gesagt?“
„Nein“, sagte ich.
„Wieso?“
„Es ist eine Sache zwischen dir und mir. Das hast du selbst gesagt, vorhin in der Senke.“
Er schien zu verstehen oder glaubte es zumindest. Er nickte einmal. „Ich mache mich jetzt auf den Weg in die Stadt und rede mit dem Pfarrer und dem Bestatter. Sie können Sheriff Gaiters sagen, dass ich bei dem einen oder dem anderen sein werde, wenn er mich sucht.“
„Wie kommst du darauf, dass ich mit Sheriff Gaiters reden werde?“
Das überraschte ihn etwas. „Heißt das, Sie werden es nicht tun?“
„Dieses Mal nicht. Aber du hältst dich von jetzt an von meinem Land fern. Wenn ich dich dort noch einmal erwische oder wenn ich entdecke, dass es weitere Umbrändungen gibt, wirst du dafür bezahlen, und zwar teuer. Hast du mich verstanden?“
„Ich hab’ Sie verstanden“, sagte er.
„Aber Sie sollten besser auch etwas verstehen, Mister Bennett. Das ändert nichts. Überhaupt nichts.“
„Das hatte ich auch nicht erwartet.“
„Nur damit Sie es wissen. Ich bin nicht der Sohn meines Vaters. Ich werde nicht aufgeben wie er, egal, was Sie sagen oder tun.“
Er machte auf dem Absatz kehrt und ging zum Corralzaun hinüber. Dort stand er mit dem Rücken zu mir, blickte zu den Bergen, die sich scharf gegen den weiten Himmel über Montana abhoben, und wartete darauf, dass ich zuerst ging.
Ich schwang mich in den Sattel und ließ das Pferd langsam über den Hof gehen. Cal drehte seinen Kopf und beobachtete mich. Und ich fragte mich wieder, ob ich auf ihn schießen könnte, sollte es jemals dazu kommen – ihn töten, wenn auch in Notwehr. Vielleicht, vielleicht auch nicht. Man weiß nie, wozu man fähig ist, bis die Zeit kommt, eine Entscheidung zu treffen.
Ich fragte mich auch, ob seine Mutter Lyle jemals von ihr und mir erzählt hatte. Wie ich sie in ihrer Not sitzen gelassen hatte, weil ich damals noch wild war und nichts mit Heirat und Familie zu tun haben wollte. Wie ihre Entscheidung – die einzig vernünftige, die ihr blieb – darin bestanden hatte, ihren Stolz beiseite zu schieben und direkt zu einem anderen Mann zu gehen, der bereit war, sie zu heiraten. Nicht, dass es einen Unterschied gemacht hätte, wenn sie es Lyle erzählt hatte, denn keiner von beiden hatte es dem Jungen jemals erzählt. Und ich würde es auch nicht tun, egal, was zwischen Cal und mir noch passieren würde. Er trug ohnehin schon genug Hass mit sich herum.
,Ich bin nicht der Sohn meines Vaters‘, hatte der Junge gesagt. Aber Gott steh’ ihm bei, das war er. In jeder Hinsicht, die zählte, war er genau wie sein Vater.
Wenn ein Mann nicht für das kämpft, was ihm gehört, verliert er es. Und wenn es einmal weg ist, wird er es in all den langen, trüben Jahren nie wieder zurückbekommen. Es ist für immer verloren …
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025