Dienstag, 14. Januar 2025

STORY: Der Bandit (Loren D. Estleman)


Der Bandit

von Loren D. Estleman


(Orig.: "The Bandit", 1986; Übers.: Reinhard Windeler)


Loren Daniel Estleman, 1952 in Michigan geboren und dort immer noch zuhause, ist wie kaum jemand sonst in zwei unterschiedlichen Genres zu Hause: Er schreibt seit über vierzig Jahren mit großem Erfolg und Renommée sowohl Krimis wie auch Western und ist damit so etwas wie ein legitimer Nachfolger des großartigen Elmore Leonard. Unterhaltungswert und Detailreichtum verbindet er mit historischer Genauigkeit und stilistischer Brillanz.
„The Bandit“ wurde als beste Western-Kurzgeschichte mit dem Spur Award für das Jahr 1986 ausgezeichnet. Auch sie greift Themen auf, mit denen Estleman sich in seinen Romanen häufig beschäftigt: das amerikanische Justizsystem im Übergang von der Pionierzeit zur Moderne und die Legendenbildung im Wilden Westen.






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Er wurde einen Tag früher entlassen. 

Es beunruhigte ihn ein wenig, und als der Nachtaufseher seines Blocks ihm einen Anzug und einen Pappkoffer mit einer Zahnbürste und Hemden zum Wechseln brachte, überlegte er, ob er es ansprechen sollte, aber in diesem Moment hielt er es plötzlich keine weitere Stunde mehr dort aus. Also zog er den Anzug an und begleitete er den Wärter zum Verwaltungsgebäude, wo der stellvertretende Gefängnisdirektor eine Ansprache hielt, seine Hand ergriff und ihm einen Scheck über 1.508 Dollar überreichte. Am Tor schüttelte er dem Wachmann die Hand, obwohl der Mann neu in seiner Abteilung war und er ihn nicht kannte, und dann trat er in den herbstlich grauen Spätnachmittag hinaus. Die Haftzeit vor und während seines Prozesses nicht eingerechnet, hatte er achtundzwanzig Jahre, elf Monate und neunundzwanzig Tage hinter Gittern verbracht.

Während er dort stand und im diffusen Sonnenlicht, das deutlich heller war als das auf der anderen Seite der Mauer, stark blinzelte, kam auf der Straße ein mit einem Lederverdeck versehenes Gebilde aus Stahl und aufgepumpten Gummireifen vorbeigerast, an dessen Steuer ein mit Schutzbrille und Staubmantel bekleideter Fahrer saß. Er sah zu, wie es vorbei fuhr und eine Wolke aus Staub und blauem Rauch hinter sich herzog, und sagte: „Oldsmobile.“

Er hatte immer vorne in der Reihe gestanden, wenn von den „Töchtern der Amerikanischen Revolution“ gespendete Zeitschriften in die Bibliothek kamen, und während seine Mithäftlinge damit beschäftigt waren, sich die neuen Kataloge zu schnappen und festzustellen, dass die Seiten mit Bildern von Frauen in Korsetts und Unterhemden herausgerissen waren, blätterte er in den immer zahlreicher werdenden Kraftfahrzeugzeitschriften, bewunderte er die Fotos und studierte er die technischen Abbildungen von Motoren und Getrieben. Technische Apparate hatten ihn fasziniert, seit er im Alter von zehn Jahren auf einer Barkasse auf dem Missouri River seine erste Dampfmaschine gesehen hatte, und er hatte eine ziemlich gute Vorstellung davon, wie Automobile funktionierten. 

Doch abgesehen von einem Blick auf das neue Locomobile des Direktors, das sein Herz hatte schneller schlagen lassen, als es im Innenhof abgestellt war – bevor die Gefängnisleitung entschied, dass seine Anwesenheit bei den gemeinen Bewohnern ungesunde Begierden weckte –, war dies seine erste Begegnung mit der knatternden und klappernden Wirklichkeit. Er fühlte sich wie ein Wolfsjunges, das zum ersten Mal das grelle Glitzern der großen Welt außerhalb der elterlichen Höhle erblickte. 

Als das Fahrzeug verschwunden war, stellte er den Koffer ab, um sich zurecht zu finden. In früheren Zeiten war er mit einem guten Orientierungssinn gesegnet gewesen, an dessen Stelle in seinem Inneren jedoch andere, unmittelbarere Überlebensmechanismen getreten waren. Außerdem hatte das übervölkerte Städtchen – das, als er erstmals dorthin kam, aus Häusern mit nur zwei Stockwerken und unbefestigten Straßen bestanden hatte, die so breit waren wie Viehweiden – sich mit Türmen aus Backstein und makadamisierten Straßen ausgedehnt und war die Hügel jenseits des Flusses hinauf geklettert, wo eine elektrische Straßenbahn durch ein ehemaliges Maisfeld raste und mit der Glocke bimmelte, als sei sie eine wild gewordene Mutterkuh. Er war sich nicht sicher, dass der Bahnhof sich noch dort befinden würde, wo er ihn 1878 hinter sich zurück gelassen hatte.

Er überlegte, ans Tor zu klopfen und den Wachmann zu fragen, aber der Gedanke, jetzt umzukehren, ließ ihn seinen Koffer greifen und in raschem Schritt die Straße überqueren, im Kantinenmarsch. „Der falsche Weg ist besser als kein Weg“, pflegte Micah zu sagen.

Es waren nur fünfzehn Minuten zu Fuß, aber für einen alten Mann, der 1881 aufgehört hatte, in seiner Zelle auf und ab zu gehen, und sich nur fünf der zwanzig Minuten, die ihm täglich auf dem Hof ​​zugestanden waren, die Beine vertreten hatte, war es ganz und gar kein Spaziergang. Er war ohnehin nie gern zu Fuß gegangen, hatte, schon bevor er volljährig geworden war, Mischlingshengste zugeritten, die von Dezember bis März auf der alten Box W frei herum liefen, und hatte einige seiner besten Gedanken und Auseinandersetzungen gehabt, während er auf einem Pferd saß. Als er also endlich den Bahnhof erreichte, dabei weiteren Kraftfahrzeugen ausgewichen war – der Reiz des Neuen war nach dem ersten Mal verflogen – und versucht hatte, in seinem engen Anzug für die Passanten nicht wie ein Sträfling zu wirken, der einen Dollarkoffer schwingt, da schwitzte und schnaufte er wie eine kurzatmige Stute.

Der Bahnhof verfügte über ein Wasserklosett – ein kleiner Raum mit einer Schwerkrafttoilette, einem weißen Emaille-Waschbecken und darüber einem Spiegel, der einen neuen Silberbelag nötig hatte, aber es war eine deutliche Verbesserung gegenüber dem stinkenden Eimer, den er neunundzwanzig Jahre lang jeden Morgen drei Zellenetagen hatte hinuntertragen und in die Zisterne hatte entleeren müssen. Er stellte den Koffer auf den Toilettensitz, hängte seinen Hut und den durchnässten Mantel auf, nahm seine Brille ab, schlug die Manschetten zurück, ließ kaltes Wasser in das Waschbecken laufen und spritzte es sich ins Gesicht. Er trocknete sich mit einem vergleichsweise sauberen Stück der Handtuchrolle ab, schaute auf das unbekannte Spiegelbild eines alten Mannes und setzte dann seine Brille auf, um es genauer zu betrachten.

Abgesehen vom Spiegel im Büro des Direktors war es der erste, den er seit seiner Verhandlung gesehen hatte; Spiegel waren aus Glas, und Glas eignete sich gut, um damit Pulsadern und Kehlen durchzuschneiden. Die Haare, die er noch auf seinem Kopf hatte, waren schmutziggrau geworden. Das Fleisch in seinem Gesicht war schlaff, löste sich vom Knochen und war so blass, dass er einen Moment brauchte, um auf seiner Stirn die Kerbe von dem Streifschuss in Liberty ausfindig zu machen. Sein Bart war von einem gelblichen Weiß, wie Ofenruß. (Alle Männer drinnen trugen Bärte. Das war einfacher, als zu versuchen, sich ohne Spiegel zu rasieren.) Es war das Gesicht seines Großvaters.


Als er aus dem Waschraum kam, las er den Zugfahrplan auf der Tafel neben dem Fahrkartenschalter und glich ihn mit seiner ramponierten alten Taschenuhr ab, die er nach einem halben Menschenleben zum ersten Mal wieder aufgezogen und eingestellt hatte. In vierzig Minuten fuhr ein Zug nach Huntsford ab.

An seinem Ende des Bahnhofs war er allein mit dem Fahrkartenverkäufer und einem schlaksigen jungen Mann in einem weiten karierten Anzug, der es sich auf einer der lackierten Bänke bequem gemacht hatte, die langen Beine vor sich ausgestreckt und die Hände in den Taschen. Ihm war bewusst, dass der junge Mann ihn beobachtete, aber er war es gewohnt, beobachtet zu werden. Er ging zum Schalter und stellte den Koffer ab. „Fährt der Zug nach Huntsford pünktlich?“

„Kam so über den Draht.“ Der Bedienstete saß auf einem Hocker hinter dem Fenster und blickte ihn über den Rand seines „Overland Monthly“-Magazins hinweg an, ohne ihn zu sehen. Er hatte helle raubtierhafte Augen in einem schmalen Gesicht, das den Versuch, es mit einem dicken Backenbart breiter zu machen, hatte scheitern lassen.

„Was kostet die Fahrt nach Huntsford?“

„Vier Dollar.“

Er faltete den Scheck über 1.508 Dollar auseinander und strich ihn auf dem Sims unter der Scheibe glatt. 

„Den kann ich nicht einlösen“, sagte der Bedienstete. „Da müssen Sie zur Bank gehen.“

„Wo ist die Bank?“

„Es gibt eine in der Treelawn und noch eine in der Cross. Aber die sind bis Montag geschlossen.“

„Ich habe kein Bargeld bei mir.“

„Tja, von der Eisenbahn gibt es keinen Kredit.“

Während der Bedienstete weiterlas, löste er die große Uhr von der Stahlkette und legte sie auf den Scheck. „Wie viel geben Sie mir dafür?“

Der Bedienstete warf einen Blick darauf und wandte sich dann wieder seiner Zeitschrift zu. „Das hier ist ein Bahnhof, kein Juweliergeschäft. Ich habe eine Uhr.“

Er klappte den Deckel auf und zeigte auf die Gravur. „Sehen Sie das ,J.B.H.‘? Das steht für James Butler Hickok. Wild Bill selbst hat sie mir geschenkt, als er Sheriff in Hays war.“

„Mister, ich habe eine Narbe auf meinem Hintern; ich könnte sagen, dass ich sie von Calamity Jane habe, aber ich bräuchte immer noch vier Dollar, um nach Huntsford zu fahren. Nicht, dass ich das wollen würde.“

„Probleme, Ike?“

Die gedehnte Frage ließ Trommelfelle, die alt und gegenüber näherkommenden Schritten abgestumpft waren, erzittern. Der junge Mann im karierten Anzug stand neben ihm, er war einen Kopf größer und roch leicht nach Fliederwasser.

„Nur wieder so ein Sträfling, der versucht, eine Freifahrt von der C.H.&H. zu ergattern“, sagte der Bedienstete. „Nichts, was ich nicht zweimal im Monat geregelt krieg’.“

„Wie hoch ist der Fahrpreis?“

Der Bedienstete sagte es ihm. Der Mann im karierten Anzug brachte von seiner rechten Hüfte aus eine verbogene braune Brieftasche zum Vorschein und zählte vier Scheine auf den Fenstersims.

„Moment mal. Ich habe noch nie etwas umsonst von jemandem genommen, wenn ich nicht darum gebeten habe.“

„Gut, geben Sie mir die Uhr.“

„Die Uhr ist sechzig Dollar wert.“

„Sie waren bereit, sie gegen eine Bahnfahrkarte einzutauschen.“

„War ich nicht. Ich habe ihn gefragt, was er mir dafür geben würde.“

„Sechzig Dollar für eine Uhr aus Rotguss, die aussieht, als wäre sie durch eine Dreschmaschine gegangen?“

„Sie geht genau. Sehen Sie das ,J.B.H.‘?“

„Wild Bill. Hab’ ich gehört.“ Der Mann im karierten Anzug zählte die Scheine, die noch in seiner Brieftasche waren. „Ich habe nur zehn bei mir.“

Er klappte die Uhr zu und hielt sie ihm hin. „Ich gebe Ihnen die Adresse meiner Schwester in Huntsford. Den Rest schicken Sie mir dorthin.“

„Sie vertrauen mir? Wie lange haben Sie gesessen?“

„Er hat einen Scheck über fünfzehnhundert dabei, ausgestellt auf die Staatsbank“, sagte der Bedienstete, während er ein Ticket aus einem perforierten Bogen heraustrennte.

Der Mann im karierten Anzug spitzte den Mund. „Mister, Sie müssen da mit ein paar Wertsachen reingegangen sein. Soweit ich weiß, beträgt der Arbeitslohn im Gefängnis immer noch einen Dollar pro Woche.“

„Das hat sich nicht geändert in der Zeit, die ich drin war.“

Sowohl der Schalterbedienstete als auch der Mann im karierten Anzug starrten ihn jetzt an. „Mister, behalten Sie Ihre Uhr. Den Aufschub haben Sie sich verdient.“

„Sie ist nicht kaputt, hat nur ein paar Dellen. Im Übrigen, ich habe schon gesagt, dass ich keine Almosen annehme.“

„Nehmen wir die vier Dollar erst einmal für die Fahrt. Ihr Zug kommt erst in einer halben Stunde. Wenn ich nach Ablauf dieser Zeit mit unserem Gespräch nicht zufrieden bin, geben Sie mir die Uhr und ich behalte sie als Pfand, bis ich die vier Dollar zurück kriege.“

„Leute zahlen jetzt dafür, dass man mit ihnen spricht?“

„Man zahlt, wenn man jemanden getroffen hat, der im Gefängnis gesessen hat, seit Hayes Präsident war, und wenn man heute mit niemand sonst reden musste als mit einem pensionierten Schaffner und der Tochter eines Bergmanns auf dem Weg zu einem Mädchenpensionat in Chicago.“ Der Mann im karierten Anzug streckte ihm die Hand hin. „Arthur Brundage. Ich schreibe für den ,New Democrat‘. Das ist eine Zeitung – gab’s zu Ihrer Zeit noch nicht.“

„Ich habe sie drinnen gesehen.“ Er ergriff die Hand zögerlich und überraschte ihren Besitzer offensichtlich damit, wie er zupackte. „Ich muss Ihnen sagen, mein Sohn, ich halte nicht viel davon, mit Presseleuten zu reden. Je weniger Leute deinen Namen kennen, desto weniger Einfluss haben sie auf dich, hat Micah immer gesagt.“

„Micah?“

Er zögerte. „Verdammt, er ist schon mehr als als fünfundzwanzig Jahre tot, ich glaube nicht, dass ich ihm schaden kann. Micah Hale. Vielleicht hat der Name jetzt keine Bedeutung mehr.“

„Diese alten Knackis erzählen einem, dass sie John Wilkes Booth und Heinrich den Achten gekannt haben, wenn man sie nicht dazu bringt, das Maul zu halten.“ Der Schalterbedienstete schob das Ticket über den Sims.

AI generated Illustration, modified by KJR

Aber Brundage blickte ihm jetzt ins Gesicht, ein Mann, der versuchte, die Einzelheiten in einem Porträt zu erkennen, das im Laufe der Jahre unscharf und dunkler geworden war.

„Sie sind Jubal Steadman.“

„Das war ich, als ich rein ging. Man nennt mich schon so lange ,Dad‘, dass ich eigentlich auf nichts anderes mehr höre.“

„Jubal Steadman.“ Es klang wie eine Zauberformel. „Als wenn ich gerade in ein Räudebad gefallen wäre und wieder auftauche mit lauter Zwanzig-Dollar-Münzen um mich ’rum. Kommen Sie, wir suchen uns eine Sitzgelegenheit.“ Brundage schnappte sich den Koffer, bevor sein Besitzer ihn anrühren konnte, legte eine Hand auf seinen Rücken und dirigierte ihn zu der Bank, von der er selbst gerade aufgestanden war.

„Die Hale-Steadman-Bande“, sagte er, als sie Platz genommen hatten. „Floyd und Micah Hale, die Steadman-Brüder und Kid Stone. Als ich zehn war, fand meine Mutter eine Ausgabe des ,New York Detective Monthly‘ unter meinem Bett. Auf der Titelseite war Floyd Hale zu sehen, wie er vom Pferd aus mit einem Sechsschüsser in jeder Hand auf einen Trupp ballert, der ihn verfolgt. Ich musste eine Woche lang im Haus bleiben und jeden Tag einen anderen Bibelvers auswendig lernen.“ 

Jubal lächelte. Seine Zähne waren erst ein Jahr alt, und erst seit ein paar Monaten grinste er nicht mehr die ganze Zeit wie ein Affe. „Damals haben Groschenromanschreiber so getan, als ob Floyd der Anführer gewesen wäre, aber das lag nur daran, dass die Pinkertons seinen Namen zuerst herausgefunden und es den Zeitungen erzählt haben. Wir haben ihn alle ,Doc‘ genannt, weil er immer nur Quatsch von sich gegeben und behauptet hat, er hätte im Osten ein Jahr lang Augenarzt studiert, obwohl jeder wusste, dass er in Detroit in einer Besserungsanstalt saß, weil er bei der Eisenbahn einen Postsack gestohlen hatte. Mir hat er gesagt, ich würde nie eine Brille brauchen.“ Er nahm seine Brille ab und putzte sie mit einem groben Taschentuch.

Brundage hatte einen langen Notizblock aufgeschlagen auf seinem Knie. Er hörte auf zu schreiben. „Ich schätze, ich hätte die Uhr annehmen sollen, als Sie sie mir angeboten haben.“

„Sie ist keine sechzig Dollar wert. Ich habe sie einem Heizer abgenommen, als wir ’73 bei Choctaw den Katy Flyer hoch genommen haben.“

„Sie meinen, die Geschichte über Wild Bill stimmt gar nicht?“

„Ich bin ihm nie begegnet. Ich habe seine Initialen eingravieren lassen und den Rest erfunden. Das hat mich durch einige magere Zeiten gebracht. Damals wussten die Leute eine gute Lüge zu schätzen – nicht so wie heute.“

„Die Leser des ,New Democrat’ sind an der Wahrheit interessiert.“

Er setzte seine Brille wieder auf und spähte über deren Ränder zu dem Journalisten. Aber Brundage war schon wieder am Schreiben und bemerkte es nicht.

„Jedenfalls, wenn es einen gab, auf den wir alle guckten, wenn es brenzlig wurde, dann war es Docs Bruder Micah. Ich glaube, er war der klügste Mann, den ich je gekannt habe oder je kennen werde. Deshalb haben sie ihn lebend geschnappt, und Doc hat sich von Kid Stone in den Hinterkopf schießen lassen.“

„Ich habe mich immer gefragt, ob er das wirklich nur wegen der Belohnung getan hat.“

„Ich denke schon. Er hat seinen Anteil immer für gelbe Seidenwesten und goldene Hutschnüre ausgegeben. Ich war seit zwei Jahren im Gefängnis, als es passierte, also kann ich nicht sagen, ob es das war. Blutgeld hat so manche gute Truppe erledigt. Die Pinks haben jahrelang versucht, uns mit Leuten aus den Bergen zu unterwandern, aber am Ende waren es die Belohnungen, die es geschafft haben.“

„Kid ist vor drei oder vier Jahren in New Jersey an einer Lungenentzündung gestorben. Nachdem sie ihn entlassen hatten, hat er seine eigene Filmproduktionsfirma aufgebaut. Er spielte gerade Doc Holliday, als er krank wurde.“

„Josh hat immer gesagt, Virge sei ein geborener Schauspieler. Virgil – das war Kids richtiger Name.“     

„Ich habe vergessen, ob Joshua Ihr älterer oder Ihr jüngerer Bruder war.“

„Der ältere. Billy Tom Mulligan hat ihn im ersten Jahr, als wir drin waren, mit einer kaputten Zahnbürste erstochen. Sie haben ihn dafür aufgehängt. Josh hat Maultrommel gespielt. Er hat sie auch gespielt, als sie uns nach Liberty überrascht haben.“

„Was ist in Liberty wirklich passiert?“


Jubal verzog das Gesicht. „Docs Idee. Wir sollten den Zehn-Zwölfer aus Kansas City überfallen, wenn dieser anhielt, um Wasser zu tanken und Passagiere aufzunehmen, und gleichzeitig auch die Bank in der Stadt. Wir rekrutierten ein halbes Dutzend weiterer Männer für den Job: Creek Eddie, Charley MacDonald, Bart und Barney Dee und noch zwei Kerle namens Bob und Bill. Ich habe nie ihre Nachnamen erfahren und konnte nicht sagen, wer wer war. Josh, ich und mein kleiner Bruder Judah nahmen uns zusammen mit Micah und Charley MacDonald die Bank vor, die übrigen den Zug. Bart und Barney sollten von Kansas City aus mitfahren und den regulären Schaffner und die Schlafwagenschaffner in Schach halten, während Doc und die anderen sich um den Lokführer und den Heizer kümmerten und den Expresswaggon mit Pulver aufsprengten. Doc sagte, man würde nicht erwarten, dass wir es in der Stadt versuchen würden. Da hatte er vollkommen Recht. Keiner hat uns für so dumm gehalten.“

„Warum hat Micah trotzdem mitgemacht?“

„Um des Familienfriedens willen. Doc drohte damit, Kid Stone mitzunehmen und seine eigene Bande zu gründen, weil keiner jemals auf die guten Pläne hörte, die er ständig ausheckte, wie zum Beispiel den Gouverneur von Missouri zu entführen und Lösegeld für ihn zu verlangen. Creek Eddie hatte sein Handwerk in den Nations gelernt, und als wir hörten, dass er verfügbar war, dachte Micah, dass er einen guten Einfluss auf Doc haben würde. Creek Eddie hielt die Sache mit dem Zug zwar für einen bescheuerten Plan, kam aber zu dem Schluss, dass, wenn Micah Ja dazu sagt, alles in Ordnung sein muss.“

Er zeigte seine künstlichen Zähne. „Sehen Sie, ich hatte neunundzwanzig Jahre Zeit, um mir über all das klar zu werden, und wenn ich es damals schon gewusst hätte; tja, dann hätte ich nicht die neunundzwanzig Jahre gehabt, um es zu erkennen. – Bei Micah, Charley, Josh, Judah und mir lief es in der Bank wie geschmiert, und wir kamen mit siebentausend Dollar in Scheinen und weiteren vier- oder fünftausend Dollar in Wertpapieren raus. Der Präsident der Bank, seine Kassierer und zwei Kunden konnten ruhig um Hilfe rufen, denn sie waren auf der anderen Seite der Tresortür mit einem Fünf-Minuten-Zeitschloss. Wir haben nie einen besseren oder ruhigeren Job gemacht. Dann hörten wir die Schießerei unten am Bahnhof.“

„Ich glaube gelesen zu haben, dass ein Eisenbahnangestellter den ersten Schuss abgegeben hat.“

„Es spielt keine Rolle, wer es war. Bart und Barney Dee hatten den Zug in Kansas City verpasst, und die Zugbegleiter, zwei oder drei an der Zahl, waren bewaffnet und liefen frei herum, als Doc und die anderen einstiegen und mit dem Gegenteil rechneten. Creek Eddie wurde in den Hals getroffen und fiel tot um. Dann fingen alle an zu schießen, und als wir mit den Pferden auftauchten, war der Pulverrauch völlig mit dem Dampf aus dem Kessel vermischt. Man konnte zwar die Hand vor dem eigenen Gesicht sehen, aber nichts, worauf man schießen wollte. Das hat uns aber nicht abgehalten. – Der Grund dafür war, dass das Zeitschloss genau zu diesem Zeitpunkt die Leute, die wir in der Bank zurückgelassen hatten, frei ließ, und als sie zeternd und kreischend auf die Straße liefen, verwandelte sich die ganze Stadt in eine aufgeheizte St.-Louis-Bürgerwehr. Sie öffneten den Waffenladen und füllten ihre Taschen mit Patronen, und es war wie am Unabhängigkeitstag. Ich glaube, es waren genauso viele, die in ihrem eigenen Kreuzfeuer fielen, wie die, die wir getroffen haben. – Trotzdem wurden bei dieser Orgie nur sechs Männer getötet. Wenn man dabei war und versuchte, seinen Gaul mit einer Hand unter Kontrolle zu halten und sich nach rechts und nach links hin und her zu drehen, um ’mal auf der einen und ’mal auf der anderen Seite an dem Pferdehals vorbei zu feuern und dem ganzen Blei auszuweichen, das einem von der Maschine entgegen flog, dann würde man schwören, dass es hundert waren. Ich habe gesehen, wie Charley von seinem Schecken fiel und ein paar Meter weit mitgeschleift wurde, bevor er seinen Stiefel aus dem Steigbügel heraus kriegte, und wie Judah von einer Kugel der Kiefer abgerissen wurde, auch wenn er noch acht oder neun Stunden lebte. Der Lokführer wurde getötet, und ein Unbeteiligter, der herumstand und darauf wartete, in den Zug einzusteigen, und zwei von diesen verdammten Idioten aus der Stadt, die auf der Straße Kit Carson spielten. Ich weiß nicht, wie viele von ihnen verwundet wurden; wahrscheinlich nicht so viele, wie heute noch herumlaufen und ihre alten Gallenblasennarben als Streifschüsse zur Schau stellen. Ich habe immer noch eine Kugel im Rücken, die mir sagt, wann es bald regnen wird, aber das hat mir damals nicht so viel zu schaffen gemacht wie dieser Kratzer hier, der mir ständig Blut in die Augen spritzte.“

Er zeigte auf den weißen Fleck an der Stelle, wo sich früher sein Haaransatz befand.

„Micah bekam eine Fleischwunde an seinem Oberarm ab, ein glatter Durchschuss, und mein Bruder Josh wurde in der Hüfte getroffen und verlor einen Finger. Kid wurde angeschossen und gefangen genommen. Und sie verhafteten Charley, der sich den Knöchel brach, als er sich aus dem Steigbügel befreite. Doc war der einzige von uns, der ungeschoren davonkam. Judahs Kiefer hing nur noch an einem Stück Knorpel. Ich band ihn mit seinem Halstuch fest, und Josh und ich legten ihn über eines der Pferde, wir saßen auf und ritten in die eine Richtung, während Doc, Micah und diese beiden Bill und Bob in die andere Richtung ritten. Wir trafen uns bei dem leeren Farmhaus sechs Meilen nördlich der Stadt, das wir vorher für den Fall ausgesucht hatten, dass wir getrennt würden. Alle außer Bill und Bob, die beiden ritten einfach weiter. In dieser Nacht haben wir Judah begraben.“

„Das Aufgebot hat Sie beim Farmhaus eingeholt?“ fragte Brundage nach einer wohlüberlegten Pause.

„Nein, sie haben Josh und mich zwei Nächte später überrascht, als wir draußen kampierten. Wir hatten uns vorher von den Hales getrennt. Micah war nicht so schwer verwundet wie Josh, und Doc sagte, wir haben sie aufgehalten. Allerdings konnte Josh auf seiner Maultrommel spielen. Das Aufgebot kam zu Fuß und folgte den Klängen. Sie stürzten sich auf uns, und wir haben uns ohne einen Schuss ergeben.“

„Das war das Ende der Hale-Steadman-Bande?“

Ein heiseres, schrilles Geräusch ließ die Luft erzittern. In seinem Echo sah Jubal auf seine Uhr. „Die Züge fahren immer noch pünktlich. Schön zu wissen, dass manche Dinge gleich bleiben. Ja, die Pinks haben Micah ein paar Monate später in Denver aufgegriffen, als er sich als Viehkäufer ausgab. Ich habe gehört, dass er drinnen an Scharlach gestorben ist. Charley MacDonald wurde in Stücke geschossen, als er mit Kid Stone und einigen anderen ausbrach, aber Kid kam davon, und er und Doc stellten eine Bande zusammen und raubten ein oder zwei Züge und einige Banken aus, bis Kid ihn erschoss. Ich schätze, das, was noch übrig ist, bin ich.“

„Ich nehme an, Sie können den Lesern des ,New Democrat‘ sagen, dass Verbrechen sich nicht lohnt.“

„Nun, es gibt solchen Lohn und solchen Lohn.“ Er stand auf, bewegte sich, um die Steifheit aus seinen Gelenken zu vertreiben, und hob den Koffer an.

Brundage zögerte, als er gerade sein Notizbuch zuklappen wollte.

„Sind neunundzwanzig Jahre Ihres Lebens ein angemessener Gegenwert für ein paar aufregende Monate?“

„Ich glaube nicht, dass es im Leben viel gibt, wofür man die Hälfte davon hergeben würde. Aber zur damaligen Zeit ruinierte sich ein Mann entweder den Rücken und das Herz, wenn er auf irgendeinem Feld Steine umpflügte, oder er ließ sich das Gehirn durchschütteln, wenn er irgendein bösartiges Pferd zuritt, oder er verrottete hinter irgendeinem Tresen in irgendeiner Stadt. Ich glaube nicht, dass ich jetzt älter bin, als ich es gewesen wäre, wenn ich eines dieser Dinge getan hätte, um zu leben. Und ich möchte auch nicht, dass ein junger Mann wie Sie an jedem meiner Worte hängt. Diese Dinge werden wichtig, wenn man ungefähr mein Alter erreicht.“

„Damit werde ich bei meinem Redakteur nicht durchkommen. Er wird eine moralische Lektion wollen.“

„Dann fügen Sie eine hinzu. Es tut…“ Seine Stimme verstummte.


Der Journalist blickte auf. Der Zug kam im Bahnhofsgewölbe langsam zum Stehen, schwarz und verölt und aus hundert Ritzen Dampf verströmend. Aber der alte Mann blickte auf die beiden Männer, die durch den Bahnhofseingang kamen. Einer von ihnen, rotblond und knapp mittleren Alters, in einem für den Spätsommer viel zu schweren Anzug, dessen Gesicht kirschrot glänzte, war der stellvertretende Gefängnisdirektor. Sein Begleiter war ein städtischer Polizist in Uniform. Beim Anblick von Jubal machte sich Erleichterung auf den Zügen des stellvertretenden Direktors breit.

„Steadman, ich hatte Sorge, Sie wären schon abgereist.“

Jubal sagte: „Ich wusste es.“

Als der Polizist an die Seite des alten Mannes trat, sagte der stellvertretende Gefängnisdirektor: „Es tut mir sehr leid. Es ist ein Versehen passiert. Sie müssen mit uns zurückkommen.“

„Ich hatte schon gedacht, Sie würden mir tatsächlich diesen zusätzlichen Tag schenken.“

„Tag?“ Der stellvertretende Gefängnisdirektor wischte sich mit einem Taschentuch aus Batist das Gesicht ab. „Ich war gerade dabei, Ihre Akte zu schließen. Ich weiß nicht, wie ich diesen anderen Anklagevorwurf übersehen konnte.“

Jubal spürte, wie sich in seiner Brust eine klamme Faust ballte. „Anderer Vorwurf?“

„Wegen des Eisenbahnüberfalls. In Liberty. Die neunundzwanzig Jahre waren für den Bankraub und für Ihre Beteiligung an den Morden danach. Sie wurden auch wegen Beihilfe zum Überfall auf den Zug verurteilt. Wegen dieser Verurteilung müssen Sie noch siebzehn Jahre verbüßen, Steadman. Tut mir leid.“

Er nahm den Koffer, während der Polizist eine Handschelle um eines der Handgelenke des alten Mannes legte. Brundage stand von der Bank auf.

„Jubal –“

Er schüttelte den Kopf. „Meine Schwester kommt morgen mit dem Morgenzug aus Huntsford her. Holen Sie sie ab, ja? Erzählen Sie’s ihr.“

„Das ist nicht das Ende. Meine Zeitung hat eine Auflage von dreißigtausend Exemplaren. Wenn unsere Leser von dieser Ungerechtigkeit erfahren –“

„Sie werden aufheulen und aufstampfen und Briefe an ihre Kongressabgeordneten schreiben, genauso wie ’78.“

Der Journalist wandte sich an den Mann in Uniform. „Er ist sechzig Jahre alt. Müssen Sie ihn anketten wie einen Tobsüchtigen?“

„Vorschriften.“ Er ließ die andere Schelle um sein eigenes Handgelenk zuschnappen.

Jubal streckte seine freie Hand aus. „Ich muss jetzt nach Hause. Danke, dass Sie einem alten Mann eine Stunde lang Gesellschaft geleistet haben.“

Nach einem Augenblick nahm Brundage seine Hand. Dann berührte der Polizist den Arm des alten Mannes, und er blinzelte hinter seinen Brillengläsern, drehte sich um und verließ den Bahnhof mit dem Polizisten auf einer Seite und dem stellvertretenden Gefängnisdirektor auf der anderen. Die Tür schwang hinter ihnen zu.

Als der Zug ohne Jubal abfuhr, glich Brundage gedankenverloren die Zeit mit der ramponierten Taschenuhr ab, die sich in seiner Hand befand.


The Bandit: Copyright © 1986 Loren D. Estleman
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025


Wir danken dem Autor sowie der 
Dominick Abel Literary Agency und The Buckman Agency für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.