Samstag, 1. Februar 2025

Hoffnung am Washita? (Randy Lee Eickhoff)


Hoffnung am Washita?

von Randy Lee Eickhoff

(Orig.: "Dove's Song", 2001; Übers.: Reinhard Windeler)


Randy Lee Eickhoff (1945 – 2018) wuchs in Nebraska auf und dürfte einer der gebildetsten Western-Autoren gewesen sein. Nachdem er im Vietnam-Krieg verwundet worden war, begann er ein Philosophiestudium, das er mit einem Doktortitel abschloss. Gleichzeitig arbeitete er als Zeitungsreporter. Anschließend war er fast drei Jahrzehnte lang in der akademischen Lehre tätig. Dann zog er nach Texas und übersetzte Homers Odyssee neu, außerdem das irische Nationalepos „Táin Bo Cuailnge“. In den späten 1980er Jahren hatte er begonnen, Romane zu schreiben, darunter auch drei, die sich als historische Western einordnen lassen und sich – allerdings mit spekulativem Charakter – um Doc Holliday, Jim Bowie sowie Wild Bill Hickok drehen.
In dieser Kurzgeschichte versetzt er sich in eine Cheyenne-Großmutter, die einen einsamen Entschluss fasst, um ihren schwer erkrankten Enkelsohn zu retten, ohne zu ahnen, dass ihrem Dorf eine noch viel größere Gefahr droht.

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Jetzt ging sie durch den hellen, eisigen Wintermorgen. Ein Wildlederband sorgte dafür, dass ihr langes weißes Haar nicht in ihr gebräuntes, zerfurchtes Gesicht fiel. Ihre Haut hatte ein eigenes Muster verzweigter Falten, während sich auf ihren hohen Wangenknochen zwei farbige Knubbel abzeichneten, von einem matten Rot, das unter der Bräune brannte. Sie schritt langsam durch den tiefen Schnee im Schatten der Birken und bewegte sich mit ihrer Last ein wenig von einer Seite zur anderen. Sie trug ein schmuckloses Kleid aus Elchleder, das hier und da alte Fettflecken aufwies und stark nach Holzrauch roch.

,Taube‘ – sie erinnerte sich nur selten an den Namen, mit dem sie vor so vielen Wintern geboren worden war – bewegte sich auf müden Füßen zwischen den Birken und Espen hindurch. Hier und da klammerte sich noch ein totes Blatt, das Spuren der Herbstfärbung zeigte, hartnäckig an einen vertrockneten Ast. Ihr Atem war in der Luft vor ihr zu sehen, und sie sang beim Gehen mit einer quäkenden alten Stimme leise vor sich hin. Manchmal sang sie die Lieder alter Krieger, die diese in ihrer Jugend an den Ratsfeuern gesungen hatten. Manchmal sang sie die Lieder, die sie und ihre Spielkameraden sich ausgedacht hatten, als sie jung waren und in der Senke des Schlechten Flusses, wo der Stamm in glücklicheren Tagen sein Sommerlager aufgeschlagen hatte, Apfelbeeren pflückten. Gelegentlich kamen seltsame Töne mit seltsamen Worten über ihre dünnen Lippen. Nicht viele, vielleicht nur ein oder zwei – und sie sprach sie bedächtig zu dem Kind in ihren Armen, das in eine fünfknöpfige Hudson-Bay-Decke gehüllt war.

„Bu-fu Di-ma.“

Sie konnte sich nicht erinnern, sie schon einmal gehört zu haben, und redete sich ein, dass es sich bei den Worten um Medizinwörter handelte, die das Fieber verschwinden ließen und möglich machten, dass er schlucken konnte. Der Junge weinte nicht mehr in ihren Armen, obwohl er immer noch ab und zu wimmerte, wenn sie über eine Baumwurzel stolperte, die unter dem Schnee verborgen ihren Pfad kreuzte, und den kleinen Körper schüttelte. Sie nahm sich vor, eine Pause zu machen, sobald sie zu den knorrigen Ästen einer Eiche kam, aber allzu oft vergaß sie ihren Vorsatz, und als sie schließlich doch auf eine Eiche stieß, starrte sie sie einen Moment lang an und versuchte, sich aus einer halbvergessenen Erinnerung ins Gedächtnis zu rufen, warum dieser Baum so besonders sein sollte. Schließlich gab sie den Versuch, sich zu erinnern, auf und entfernte sich von dem Baum, wobei ihre Füße der kahlen Spur des vertrauten Weges zum Fort aus dem Gedächtnis folgten.

Während sie ging, schweifte ihr Blick im Wald umher und beobachtete sie, wie die Vögel ungeduldig auf den kahlen Ästen der Bäume tanzten. Eichhörnchen schwatzten kurz wütend und verstummten dann, bis sie lange vorbei war. Irgendwo pochte ein Specht gegen die Rinde einer Pappel und machte ein tiefes und stockendes Geräusch in der stillen Luft.

Hin und wieder zitterten die Zweige der Büsche. ,Taube‘ wechselte von ihren gesungenen Worten zu einem Sprechgesang: „Bleib’ weg, Bruder Fuchs; bleib’ weg, Bruder Eichhörnchen; Bruder Wolf und Bruder Kojote, lasst mich vorbei. Bleib’ weg, Bruder Kaninchen; bleibt weg… ich habe einen langen Weg vor mir, einen langen Weg.“

Und weiter ging sie, folgte dem kleinen Bach, der vom Washita-Fluss wegführte, wo Das Volk seine Zelte auf dem Land errichtet hatte, das die Soldaten ihm zugeteilt hatten, und ihr Gesang erhob sich wieder, während sie sich durch die stillen Wälder schlängelte. Aus einer Höhle ertönte der Ruf einer Carolinataube, und sie lächelte ihr Zahnstummellächeln und antwortete ihrer Schwester mit ihrem Gesang.

Der Bach machte eine Biegung um einen Hügel herum und schmiegte sich so eng an die Felsen, dass sie gezwungen war, den Pfad zu verlassen und durch den Schnee zu waten, als sie über den Hügel kletterte. Sie keuchte, während sie sich gegen den Hügel stemmte.

„Die Felsen dieses Hügels halten meine Füße fest“, sagte sie zu dem Kind mit der Stimme, mit der alte Menschen anderen verkünden, wie alt sie sind. „Der Hügel möchte, dass ich bleibe und ein Teil von ihm werde.“

Als sie oben auf dem Hügel ankam, hielt sie inne, um zu Atem zu kommen. Sie schaute halb ängstlich hinter sich, um zu sehen, ob sie verfolgt wurde. Ein Schatten bewegte sich in den tieferen Schatten der Bäume. Für einen kurzen Moment klopfte ihr Herz schneller, als sie ihre müden Augen anstrengte und versuchte, den Schatten zu erkennen. Aber er blieb in der Baumreihe stehen, und schließlich schüttelte sie den Kopf und schaute an den Bäumen vorbei in Richtung der Zelte des Volkes, aber sie konnte sie vor lauter Bäumen nicht sehen.

Ihr Sohn war sehr wütend gewesen, als sie versucht hatte, ihm zu sagen, er solle das Kind zum weißen Schamanen im Fort bringen … Du bist eine dumme alte Frau! Der weiße Mann ist unser Feind! Was würde er mit einem Indianerbaby machen? … Aber, das Kind … Es reicht! Geh‘ zu den anderen Frauen ans Feuer! Schluss jetzt! … Sie hatte versucht, ihm zu sagen, er solle in den Hals des Kindes schauen und sich dort die weißen Flecken ansehen, die die Medizin des weißen Mannes verschwinden lassen würde. Aber er hatte sie wütend von sich gestoßen und den Schamanen angeschrien, er solle seinen Zauber machen und dem Rest des Volkes seine Macht zeigen. 

„Oben auf dem Hügel und jetzt wieder den Hügel hinunter zu den Bäumen. Ja, das ist der beste Weg. Dem Wasser nach. Dem Wasser nach“, sagte sie zu dem Kind.

Sie öffnete ihre Augen so weit, wie es nur ging, und begann langsam den Abstieg, während ihre Gedanken sich wieder auf ihre Aufgabe richteten. Doch bevor sie unten am Hügel ankam, verfingen sich die Stacheln einer Yucca-Pflanze in ihrem Kleid.

Sie blieb einen Moment lang still stehen, dann versuchte sie, das Kleid los zu reißen, während sie den Jungen in ihrer Armbeuge balancierte. Dort fühlte er sich vertraut an, und einen Moment lang war ihr nicht klar, wo sie war; sie suchte nach den Apfelbeersträuchern und wartete lauschend auf die Stimme von ,Rehkitz‘, ihrer besten Freundin, die sie immer als erste für ihre Spiele ausgewählt hatte und deren Bruder ihr Ehemann gewesen war. Sie runzelte die Stirn und versuchte sich zu erinnern, wo die anderen waren. Sie machte einen Schritt, und die Yucca zog an ihrem Kleid.

„Warum versuchst du mich aufzuhalten?“ fragte sie die Yucca. „Ich dachte, du wärst ein Apfelbeerstrauch, aber du bist nur ein Seifenkraut. Warum hältst du mich auf?“ 

Sie zerrte, und endlich löste sich ihr Kleid und kam frei. Sie stand einen Moment zitternd da, bevor sie es wagte, weiter den Hügel hinunter zum Bach zu gehen.

Die Sonne glitt über das Wasser und blendete sie mit ihrem hellen Glitzern. Sie beugte ihren Kopf vor ihrem Glanz und beobachtete, wie die Muster der Zweige auf dem Schnee tanzten und sich wanden. Es liegt Magie in den Mustern, dachte sie. Magie von Ihm-der-wacht. Wenn ich doch nur in dieser Magie wandeln könnte.

Aber die schwer fassbaren Muster entglitten ihren Füßen, blieben in aufreizender Weise außer Reichweite und verschwanden in den Halmen von Silbergras, das in Büschen zwischen den Espen wuchs, wo der Schnee sie nicht erreicht hatte. An einigen glitzerten noch vereinzelte helle Tropfen gefrorener Feuchtigkeit, aber sie wusste, dass das nicht lange so bleiben würde. Sie hob den Kopf und blickte zur Sonne.

„Die Sonne steigt hoch“, sagte sie zu dem Jungen. Aber er antwortete nicht, und dicke Tränen liefen die Falten in ihren Wangen entlang. „Die Sonne geht schneller ihren Weg, als ich laufen kann.“

Am Fuße des Hügels hielt sie eine Minute inne, um sich auszuruhen, legte das Kind auf ein Bett aus welken Blättern, die sich in der Aushöhlung einer Pappel gesammelt hatten, und kniete sich hin, um aus dem Bach zu trinken. Das Wasser floss durch einen hohlen Baumstamm, den ein Vorfahr dort als Quelle angelegt hatte. Die Quelle war schon da gewesen, lange bevor sie zum Stamm gekommen war. Einige der Älteren glaubten, der Erste Krieger habe die Quelle für Das Volk geschaffen, denn in der Überlieferung des Dorfes war sie schon lange vor der Zeit Bestandteil der Jagdgründe des Volkes gewesen.

Sie zerbrach die dünne Eisschicht über dem Wasser und trank. Das Wasser war kühl und frisch und hatte den leicht herben Geschmack des Herbstes, und sie trank lange. Nach einer Minute fühlte sie sich besser. Sie erhob sich und wandte sich wieder dem Kind zu, doch ihr Fuß rutschte auf den nassen Blättern aus, und sie fiel hin. Sie blickte überrascht auf den Boden, der so nah vor ihren Augen war. Sie rollte sich auf den Rücken und schaute zum Himmel hinauf, der durch ein Loch in den Pappelzweigen zu sehen war. Ein weißes Wölkchen zog vorbei, das wie ein zottiger Büffel aussah.

Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater ,Krähe‘ im dritten Jahr, nachdem er sie auf der Prärie gefunden hatte, den weißen Büffel tötete. Das Volk hatte ihm damals große Ehre erwiesen, und er hatte ihr an diesem Abend am Ratsfeuer ihren Namen gegeben. Sie hatte ihn ihm nachgesprochen, das Wort war ihr fremd gewesen, hatte aber leicht auf ihrer Zunge gelegen und wäre ihr fast entglitten, bevor sie es wieder einfing und zurück holte: „Ich bin ,Taube‘.“

Sie runzelte die Stirn, als sich ein anderer Name in ihrem verstaubten Gedächtnis regte, aber sie konnte sich nicht an ihn erinnern. Die Blätter waren kalt auf ihrem Gesicht an, und ein leichter Luftzug wehte über sie hinweg. Sie spürte, wie sie verträumt über der Erde schwebte, und als der kleine Junge ihr einen Stock mit Fleisch brachte, das außen verkohlt war und aus dem reichlich Saft floss, dankte sie ihm und griff danach. Aber ihre Hand erfasste nur leere Luft.

Bu-fu Di-ma“, sagte sie wieder und schöpfte Mut aus den Medizinwörtern. Ihre Finger bewegten sich, blieben aber immer noch leer. Sie seufzte. Die Medizinwörter wirkten jetzt nicht mehr so ​​oft. Vielleicht waren auch sie schon verbraucht. 

Das Kind murmelte von seinem Blätterbett aus. Sie seufzte und richtete sich unter Schmerzen auf.

„Alt werden. Vergessen“, sagte sie. Sie nahm ein kleines Stück Pemmikan aus dem Beutel um ihren Hals, steckte es sich in den Mund und kaute es sorgfältig mit ihren abgenutzten Zähnen. Sie hob den Jungen hoch und zog ihm eine Deckenfalte vom Gesicht. Ihre Haut fühlte sich wie getrocknetes Pergament an seinen Wangen an, als sie seine Lippen schürzte, sich dann vorbeugte und ihren Speichel, voll vom Saft des Pemmikans, in seinen Mund tropfen ließ. Er kniff die Augen fest zusammen, während er unter Schmerzen schluckte.

… In ihm steckt eine weiße Krankheit. Es ist der weiße Mann, der unseren Kindern dies gebracht hat. Wir müssen den weißen Mann aus dem Land vertreiben, erst dann wird die weiße Krankheit weggehen … Sie hatte versucht, dem Schamanen zu sagen, dass sie von einem graubärtigen Mann mit starker Medizin geträumt hatte, aber der Schamane glaubte ihr nicht. Er hatte sich umgedreht und sie stehen gelassen. Er schüttelte Blumenstaub über das Kind und murmelte uralte Zaubersprüche.

Sie drehte sich um und folgte wieder dem Bach. Er verlief tief, tief unten zwischen hohen Pappeln hindurch, deren Kronen sich hoch über ihrem Kopf trafen. Es war so dunkel wie in einer Höhle. Sie kam zu einem Baumstamm, der ihr den Weg versperrte. Seine Seiten waren rau von alter Rinde, und dunkelgrünes Moos wuchs dicht an den Seiten herab. Der Baumstamm war zu hoch, als dass sie über ihn hätte klettern können. Sie musste auf die Knie gehen und unter ihm durch kriechen und krabbeln, mit gespreizten Knien, um ihr eigenes Gewicht und das des Kind tragen zu helfen, und mit weit auf dem Boden ausgestreckten Fingern, um das Gleichgewicht zu halten. Sie sang sich und dem Kind etwas vor, damit keiner von ihnen Angst bekam, falls sie unter dem Baumstamm steckenbleiben sollte.

Schlussendlich war sie sicher auf der anderen Seite, und sie stand auf und lehnte sich mit dem Rücken gegen den Baumstamm, atmete tief durch und beobachtete, wie ihr Atem aufstieg und davon schwebte. Eine abgestorbene Pappel stand am Ende der Lichtung ihr gegenüber. Ihre knochenweißen Zweige streckten sich blattlos in den blauen Himmel. Ein Rabe saß auf dem unteren Ast und sah sie an.

„Wen beobachtest du?“ fragte sie ihn. „Geh weg. Wir sind noch nicht bereit für dich.“ Die kleinen glänzenden Augen des Raben verdrehten sich in seinem Kopf, und dann flog er langsam davon, mit schweren Flügeln, die in der stillen Luft auf und ab schlugen. Dann musste sie an Schlangen denken, und sie schaute sich ängstlich um, sah aber keine. Dann fiel ihr ein, dass Schlangen sich im Winter nicht blicken ließen. Sie seufzte und setzte ihren Weg über die Lichtung fort, wobei sie ihr Lied erneut anstimmte.

Sie ging über die welken Blätter und lauschte ihrem trockenen Rascheln und Knistern unter ihren Füßen. Ein leichter Luftzug strich über die Äste der Bäume über ihr und ließ sie in der Stille knarren. Der Pfad, dem sie zu folgen glaubte, schien zu verschwinden. Sie hielt inne und versuchte zu überlegen, ob sie weiter dem Bach folgen oder ihn überqueren und aus den Bäumen hinaus auf die Prärie und die Hügel gehen sollte. Was wäre kürzer, fragte sie sich.



Dann war etwas Großes, Dunkles und Dünnes vor ihr. Sie bekam Angst und starrte es an. Sie glaubte, Hufgetrappel und dann die schwachen Töne einer Trompete und Schüsse zu hören, aber als sie ihren Kopf hob und wie eine Taube die Ohren spitzte, um das Geräusch ausfindig zu machen, verschwand es. Sie blickte noch einmal auf das Ding vor ihr.

„Du da!“ rief sie ihm zu, aber es antwortete nicht.

„Geist, geh weg!“ sagte sie. „Du versperrst mir den Weg!“

Langsam ging sie darauf zu. Als sie näher kam, sah sie, dass es nur ein junger Schößling war, der sich im Schatten seiner älteren Brüder versteckte und dessen nackte Zweige wie ein zerlumpter Mantel in der leichten Brise flatterten.

„Meine Augen sind zu alt, zu alt“, sagte sie. „Ich sollte zu Hause sein und in der Sonne vor unserem Zelt sitzen.“

Sie ging weiter und schlängelte sich durch die nächste Reihe von Bäumen, die überall um sie herum flüsterten. Vor sich sah sie Wachteln, die um den Rand eines Dickichts stolzierten und deren Federbüschel auf ihren wippenden Köpfen tanzten.

„Schön geht ihr, schön geht ihr“, sagte sie. Beim Klang ihrer Stimme huschten sie zurück ins Unterholz. Enttäuscht ging sie weiter. Sie folgte dem Bach und bahnte sich nun neben ihm ihren eigenen Pfad.

Die Sonne stand schon hoch, und während sie sich abmühte, wurde ihr jetzt heiß, und sie stellte sich vor, wie Libellen um sie herumschwirrten und versuchten, das Salz ihres Schweißes zu trinken. Sie warf ihren Kopf hin und her, um sie zu verscheuchen. In der Nähe des Ufers wuchsen Weiden, deren lange, dünne Äste wie lange, dünne Fäden aus Spitze aussahen. Sie hörte das Wasser gurgeln, als es über den Kies plätscherte, ein kühles und klares Geräusch. Sie verspürte wieder Durst, aber sie wusste nicht, ob sie sich hinknien und wieder aufstehen konnte, also leckte sie sich die trockenen Lippen und sagte zu sich selbst, dass sie nicht durstig war, und ging singend weiter.

Sie glaubte ein Geräusch hinter sich zu hören und drehte sich um, um nachzusehen. Ein Schatten bewegte sich in den Schatten. Sie stolperte und fiel auf ein Knie. Das Kind wimmerte in ihren Armen.

„Still jetzt“, sagte sie. Sie blickte wieder über ihre Schulter zu den Schatten. Diesmal konnte sie seine Umrisse erkennen: ein schwarzer Wolf. Oder vielleicht war es ein Kojote. Sie konnte sich nicht sicher sein.

„Alte Frau, die Schatten kommen wegen dir und werden dich holen, wenn du dich nicht bewegst“, sagte sie zu sich selbst.

Ihre Hand schloss sich um einen Stein. Sie hob ihn auf und warf ihn nach dem Schatten. Er zuckte zusammen und entfernte sich. Sie fand einen anderen Stein und warf ihn aus dem Gedächtnis erneut, weil sie den Schatten jetzt nicht mehr sehen konnte. Sie wartete und lauschte. Sie sah eine alte, geplatzte Hickorynuss neben sich auf dem Boden liegen. Sie streckte die Hand aus, ergriff sie mit ihren Fingern, rollte sie herum und erinnerte sich an das Treffen am Schlangenfluss, als sie und ,Rehkitz‘ den Bären aufgeschreckt hatten und gezwungen waren, in das tosende Wasser entlang den Stromschnellen zu rennen, um ihm zu entkommen. Sie lächelte bei der Erinnerung daran, wie ,Rehkitz‘ ausgesehen hatte, als ihr langes schwarzes Haar in nassen Strähnen über ihr Gesicht hing, und wie ,Rehkitz‘ sie auslachte, während sie im Wasser schnaufte und keuchte, als sie versuchte, wieder zu Atem zu kommen.

Das Kind bewegte sich in ihren Armen und mahnte sie nochmals. Sie steckte die Hickorynuss in den kleinen Beutel mit dem Pemmikan und richtete sich auf. Ihre Muskeln schmerzten und zitterten vor Anstrengung. Eine Welle von Schwindel überkam sie. Sie weigerte sich, die Augen zu schließen, aus Angst, sie könnte wieder stürzen. Ein Vogel flog vorbei, und sie dachte, es wäre eine Taube. Sie schöpfte Mut daraus, dass dies ein gutes Omen war, und machte langsam einen Schritt, dann noch einen, wobei jeder Schritt ein bewusstes Anheben eines Fußes gegen die schmerzenden Muskeln war.

Sie erschrak, als ein blau gekleideter Mann mit einem schweren Umhang um die Schultern aus den Schatten vor ihr trat. Sie starrte ihn verwirrt an, dann erkannte sie, dass er ein Soldat war.

„Was machst du hier?“ fragte er. Er blickte argwöhnisch an ihr vorbei und starrte in die Dunkelheit, aus der der Bach kam, die Hand auf der Pistole an seinem Gürtel. Er war jung; das konnte sie sehen. Er runzelte die Stirn und fragte sie nochmals, was sie am Bach mache. Sie wusste nicht, was er sagte, obwohl einige der Worte ihr vage bekannt vorkamen. Sie versuchte, ihm das Kind hinzuhalten, aber ihr Arm hatte sich verkrampft, sodass das Kind in ihrem Griff blieb.

Der Soldat kam näher und starrte misstrauisch auf das Bündel, während sie einen Teil der Decke vom Gesicht des Kindes abwickelte. Er runzelte die Stirn und berührte behutsam die Stirn des Kindes.

„Das Kind glüht ja regelrecht!“ rief er aus. Er nahm ihr das Kind ab. Ihre Arme sanken erleichtert herab, als ihnen die Last abgenommen wurde. Der junge Soldat deutete mit seinem Kopf nach rechts, weg vom Bach.

„Komm’ schon!“ sagte er grob und gestikulierte mit einer Hand. „Zum Fort geht’s da lang. Der Doktor wird wissen, was zu tun ist.“

Sie verstand nicht, was er sagte, nickte aber und versuchte, mit ihm Schritt zu halten, als er sie vom Bach und den Bäumen weg und den Hügel hinauf führte. Aber seine Beine waren zu lang und zu jung, als sie entlang einem Pfad, der durch die tiefen Schneeverwehungen führte, ungeduldig davon eilten.

Das Fort stand auf der Kuppe des Hügels, und erst, als sie es schon fast erreicht hatten, konnte sie den Holzrauch aus den Öfen riechen. Der Soldat wartete ungeduldig neben dem Tor auf sie. Es waren auch andere Soldaten da. Sie starrten sie neugierig an, als sie hinter dem jungen Soldaten herhumpelte und ihm zu einem Blockhaus im hinteren Teil der Palisade folgte. Einige Kinder spielten auf den Stufen vor dem Gebäude. Sie hörten auf und starrten sie an. Sie kam sich merkwürdig vor, fehl am Platz wegen ihrer Blicke, und blieb stehen. Sie sah sie an, als hätte sie noch nie Kinder wie diese gesehen. Sie traten beiseite, und sie folgte dem jungen Soldaten langsam die Stufen hinauf.

„Hey, Doc!“ rief der Soldat, als er das Gebäude betrat. „Seh’n Sie ’mal, was ich gefunden hab’! Das Kind ist richtig krank.“

Ein Mann mit grauem Bart, der einen langen weißen Kittel trug, nahm dem Soldaten das Kind ab und legte es auf den Tisch. Ihr Herz machte einen Sprung, als sie glaubte, den Mann aus ihrem Traum zu erkennen. Behutsam wickelte er die Decke ab. Das Kind wimmerte, als der graubärtige Mann sanft mit seinen Fingern tastete.

„Das ist eine Hudson-Bay-Decke mit fünf Knöpfen“, sagte der junge Soldat. „Früher haben die Trapper sie bei den Indianern gegen Felle eingetauscht. Eine Fünfknöpfige war eine Menge Felle wert. Keine gewöhnliche Squaw würde so eine besitzen. Was ist mit dem Kleinen los, Doc?“

„Diphtherie“, sagte Graubart. Er schüttelte den Kopf. „Es sieht nicht gut aus. Trotzdem ...“

Er sah die alte Frau an. Der Schweiß auf ihrem Gesicht ließ die Falten wie ein feinmaschiges Netz glänzen. „Ist das dein Enkelkind?“

Sie stand unbeweglich und stumm vor ihm und versuchte, seine Worte zu verstehen. Ihr Gesicht war ernst und starr. Der junge Soldat machte eine ungeduldige Geste. „Sie ist eine Indianerin, Doc. Sie versteht nichts.“

„Eine Indianerin mit grauen Augen?“ fragte Graubart. „Das glaube ich nicht.“ Er zeigte auf das Kind auf dem Tisch und dann auf sie. „Deins?“ fragte er.

Sie erkannte das Wort oder glaubte es zumindest. Sie öffnete den Mund, um ihm den Namen des Kindes und den Namen seines Vaters, ihres Sohnes, zu sagen, aber ein seltsames Wort kam über ihre Lippen, ein Medizinwort, dachte sie.

„Jawohl“, sagte sie.

„Vielleicht können wir ihm helfen. Du hättest ihn früher herbringen sollen. Aber es besteht eine Chance, auch jetzt noch. Du hast großes Glück. Mit dem letzten Versorgungszug ist eine Ladung Serum angekommen. Aber er wird noch lange hier bleiben müssen. Verstehst du?“ 

Er lächelte sie an, und sie spürte die Wärme seines Lächelns und wusste, dass das Medizinwort gewirkt hatte. Er schien darauf zu warten, dass sie etwas sagte, also wiederholte sie das Wort.

„Jawohl.“

Und dann kam der Traum wieder zurück, der Traum, von dem sie gehofft hatte, er wäre für immer verschwunden, und sie erinnerte sich an den bärtigen Mann, der gegen den Feind kämpfte und sie anschrie, sie solle sich verstecken, und sie rannte weg, rannte über die Prärie und kroch dann in ein kleines Loch in einer Lehmböschung über dem Washita. Sie hielt sich die Ohren zu und versuchte mit aller Kraft, nicht die Schreie zu hören, die von dem bärtigen Mann und der müden Frau kamen, die sie gebadet und angezogen und ihr „Beau-ti-ful dream-er…“ vorgesungen hatte. Sie wartete lange, nachdem die Schreie aufgehört hatten, bevor sie aus ihrem Loch kroch und zurück ging, aber die Pferde und die Pelze waren verschwunden, und der bärtige Mann und die weiße Frau waren nackt, und blutige Stellen waren zu sehen, wo einst ihre Haare wuchsen. Sie setzte sich neben die beiden und weinte, bis der Gestank sie zurück zum Washita trieb. Sie trank das kalte Wasser und überlegte, was sie tun sollte, und dann hörte sie die Kojoten und rannte flussabwärts, weg von ihren Lauten, bis sie ihren Vater fand, ,Krähe‘, der auf dem Pferd ritt, das der bärtige Mann einst geritten hatte, und er lächelte sie an und hob sie auf das Pferd und brachte sie zu ihrem neuen Zuhause.

Sie blinzelte und entdeckte die beiden Soldaten, die sie neugierig ansahen.

„Jawohl“, sagte sie noch einmal, weil sie dachte, sie wollten noch einmal hören, dass sie es sagte.

Graubart nickte zufrieden. „Gut. Bringen Sie sie besser zu Major Reno. Colonel Custer wird einen Bericht haben wollen, wenn er aus Black Kettles Dorf zurück kommt.“

„Jawohl, Sir“, sagte der junge Soldat. „Ich wünschte, ich hätte mit Custer mitgehen können. Diese roten Bastarde waren schon lange auf einen Kampf aus.“

„Oh ja“, sagte Graubart. „Deshalb lässt Black Kettle die amerikanische Flagge über seinem Dorf wehen und bleibt in seinem Lager, anstatt mit diesen Heißspornen wie Roman Nose, die sein Dorf verlassen haben, nach Norden zu gehen. Sie sind des Kämpfens müde. Deshalb bleiben sie dort. Sie sind bereits geschlagen.“

Der junge Soldat kicherte. „Das werden sie sicher sein, wenn Custer mit ihnen fertig ist.“

„Tun Sie, was ich Ihnen gesagt habe.“

Graubart sah sie an. „Du weißt nicht, wie viel Glück du hast. Wahrscheinlich wirst du es nie erfahren.“

„Jawohl, Sir“, sagte der junge Soldat und warf ihr einen seltsamen Blick zu. „Wie lange, glauben Sie, war sie wohl bei denen?“

„Lange“, sagte Graubart. „Lange genug, dass sie vergessen hat, wer und was sie war.“ Er wandte sich wieder dem Kind zu. „Jetzt tun Sie, was ich sage: Bringen Sie sie zu Major Reno.“

Der junge Soldat nahm sie am Arm und zog sie sanft zur Tür. Sie folgte ihm zunächst, blieb dann aber stehen und schaute starr zurück zu dem Kind.

Graubart sah ihre Besorgnis und lächelte beruhigend. Er nickte. „Geh’ ruhig“, sagte er sanft.

„Jawohl“, sagte sie. Das Wort kam ihr allmählich bekannt vor, und das machte ihr Angst, denn sie verstand nicht, warum sie anfing, das Wort zu verstehen. Dann sagte sie die Medizinwörter. „Bu-fu Di-ma.“

Graubart sah sie an und lächelte. „Ja, das ist ein schönes Lied.“

Sie nickte, ohne zu verstehen, hatte aber das Gefühl, dass sie es tat, drehte sich um und folgte dem jungen Soldaten aus dem Gebäude. Sie stolperte über die Schwelle und fiel beinahe die schmalen Stufen hinunter. Der junge Soldat ergriff ihren Arm und gab ihr Halt. Sie lächelte ihn an, und er zog seine Hand ruckartig weg, als hätte er etwas Ekliges berührt. Eine Traurigkeit überkam sie. Sie fühlte sich sehr müde, und die Hitze der Sonne schien die Kälte nicht aus ihr herauszuziehen, als sie sich auf den Weg über den Exerzierplatz machten. Auf halber Strecke begann eine Musikkapelle zu spielen, und Soldaten ritten durch das Tor herein. 

Der junge Soldat zog sie aus dem Weg und blieb stehen, um zuzusehen, wie die Kavallerie zu den Klängen von „Garryowen“ durch das Tor trabte. Einige der Soldaten hatten Streifen aus Rohleder durch schwarze Skalps gezogen und sie vor sich über ihre Sättel gehängt. Einige hatten leuchtend bunte Decken hinter ihren Sätteln festgebunden, während andere verschiedene Trophäen bei sich trugen: Bögen und Köcher mit Pfeilen, ein paar alte Gewehre, Messer und Beile, die in ihren Gürteln steckten, und einen Coup-Stab, den sie als den ihres Sohnes erkannte. 

„Ich will verdammt sein!“ hauchte der Soldat neben ihr leise. „Das muss ein Massaker gewesen sein! Und ich hab’s verpasst.“

Er spuckte entrüstet aus und warf ihr einen verärgerten Blick zu, dann seufzte er und zog sanft an ihrem Arm. Sie drehte sich um und folgte ihm zu einem niedrigen Blockhaus. Der Soldat half ihr die drei Stufen hinauf und bedeutete ihr dann zu warten, während er an eine Tür klopfte und eintrat. Von den Bäumen neben dem Bach am Fuße des Hügels hörte sie schwach ein Rufen, es war das Klagelied einer Taube.

** reprinted with permission from the beneficiary and Cherry Weiner Literary Agency **
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025












Wir danken der Rechtsnachfolgerin des verstorbenen Autors sowie der Cherry Weiner Literary Agency für die Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.