I.
In der Nähe des Rattlesnake Creek stand am Rande eines kleinen Grabens Canutes Hütte. Nach Norden, Osten und Süden erstreckte sich die platte Nebraska-Ebene mit ihrem hohen rostroten Gras, das sich ständig im Wind wiegte. Nach Westen hin war der Boden zerklüftet und rau, und ein schmaler Gehölzstreifen schlängelte sich den trüben, schlammigen kleinen Wasserlauf entlang, der kaum genug Ehrgeiz hatte, um über seinen schwarzen Grund zu kriechen. Wären da nicht die wenigen verkrüppelten Cottonwoods und Ulmen gewesen, die an seinen Ufern gewachsen waren, hätte Canute sich schon vor Jahren erschossen. Die Norweger sind ein Volk, das Holz liebt, und wenn es auch nur einen Schildkrötenteich mit ein paar Pflaumensträuchern drumherum gibt, scheinen sie unwiderstehlich davon angezogen zu werden.
Was die Hütte selbst betrifft, so hatte Canute sie ohne jegliche Hilfe gebaut, denn als er sich damals an den Ufern des Rattlesnake Creek ansiedelte, gab es im Umkreis von zwanzig Meilen keinen anderen Menschen. Sie war aus in zwei Hälften gespaltenen Baumstämmen gebaut, die Ritzen waren mit Lehm und Gips abgedichtet. Das Dach war mit Erde bedeckt und wurde von einem riesigen Balken getragen, der in Form eines Rundbogens gekrümmt war. Es war fast unmöglich, dass jemals ein Baum in dieser Form gewachsen war. Unter den Norwegern wurde erzählt, dass Canute den Baumstamm über sein Knie gelegt und in die von ihm gewünschte Form gebogen hatte. Es gab zwei Räume, oder besser gesagt, einen Raum mit einer Trennwand aus Eschenschößlingen, die wie große Strohkörbe miteinander verflochten und zusammengebunden waren. In einer Ecke stand ein verrosteter und beschädigter Kochherd, in der anderen ein Bett aus ungehobelten Brettern und Stangen. Es war fast zweieinhalb Meter lang, und auf ihm lag ein Haufen dunkles Bettzeug. Es gab einen Stuhl und eine Sitzbank von kolossalen Dimensionen. Es gab einen gewöhnlichen Küchenschrank mit ein paar gesprungenen schmutzigen Tellern darin und daneben auf einer großen Kiste ein Waschbecken aus Blech. Unter dem Bett lag ein Haufen von Halbliterflaschen, teils zersplittert, teils unversehrt, allesamt leer. Auf der Holzkiste lag ein Paar Schuhe von fast unglaublichen Ausmaßen. An der Wand hingen ein Sattel, ein Gewehr und einige schäbige Kleidungsstücke, zwischen denen ein Anzug aus dunklem Stoff auffiel, der anscheinend neu war und an dessen Ärmel ein sorgfältig in ein rotes Seidentaschentuch gewickelter Papierkragen geheftet war. Über der Tür hingen ein Wolfs- und ein Dachsfell und an der Tür selbst aufgereiht dreißig oder vierzig Schlangenhäute, deren geräuschvolle Schwänze jedes Mal, wenn sie sich öffnete, bedrohlich klapperten.
Das Seltsamste in der Hütte waren die breiten Fensterbänke. Auf den ersten Blick sahen sie aus, als wäre rücksichtslos mit einem Beil auf sie eingehackt und als wären sie verunstaltet worden, aber bei näherer Betrachtung nahmen alle Kerben und Löcher im Holz Form und Gestalt an. Es schien eine Reihe von Bildern zu geben. Sie waren auf eine grobe Weise künstlerisch, aber die Figuren, die kräftig gebaut und am Schuften waren, wirkten, als wären sie sehr langsam und mit eher ungeeigneten Instrumenten geschnitzt worden. Es gab Männer, die pflügten, und auf ihren Schultern und auf den Köpfen ihrer Pferde saßen kleine gehörnte Kobolde. Es gab Männer, die beteten, und über ihren Köpfen hing ein Schädel, und kleine Dämonen hinter ihnen machten sich über die von ihnen eingenommene Haltung lustig. Es gab Männer, die mit großen Schlangen kämpften, und Skelette, die miteinander tanzten. Überall um diese Darstellungen herum waren blühende Ranken und Blätter, wie sie auf dieser Welt nirgends wuchsen, und zwischen den Zweigen der Ranken war immer der schuppige Körper einer Schlange zusammengerollt, und hinter jeder Blume war ein Schlangenkopf. Es war ein wahrer Totentanz von jemandem, der den Stachel des Todes gespürt hatte. In der Holzkiste lagen ein paar Bretter, und auf ihnen war jeder Zentimeter auf die gleiche Weise mit Schnitzwerk versehen. Manchmal war die Arbeit sehr grob und nachlässig ausgeführt und sah aus, als hätte die Hand des Schnitzers gezittert. Manchmal wäre es schwierig gewesen, die Männer von ihren bösen Kobolden zu unterscheiden, wenn es nicht so gewesen wäre, dass die Männer immer ernst waren und entweder arbeiteten oder beteten, während die Teufel immer fröhlich waren und tanzten. Mehrere dieser Bretter waren zu Brennholz zerhackt worden, und es war offensichtlich, dass der Künstler sein Werk nicht sehr schätzte.
***
Es war der erste Wintertag auf der Hochebene der Divide (1). Canute stolperte mit einem Korb voller Maiskolben in seine Hütte, und nachdem er den Ofen gefüllt hatte, setzte er sich auf einen Schemel, beugte sich mit den gut zwei Metern seines Körpers über das Feuer und starrte düster aus dem Fenster zum weiten grauen Himmel. Er kannte jeden einzelnen Grasbüschel in den Meilen von roter verwilderter Prärie auswendig, die sich vor seiner Hütte ausdehnten. Er kannte sie in der ganzen trügerischen Lieblichkeit ihres Frühsommers und in der ganzen bitteren Kargheit ihres Herbstes. Er hatte gesehen, wie sie von allen Plagen Ägyptens heimgesucht wurde. Er hatte gesehen, wie sie von Dürre ausgedörrt und von Regen aufgeweicht, von Hagel geprügelt und von Feuer verzehrt wurde, und in den Heuschreckenjahren hatte er gesehen, wie sie so ratzekahl gefressen wurde wie die Knochen, die die Geier zurücklassen. Nach den großen Bränden hatte er gesehen, wie sie sich schwarz und rauchend wie der Grund der Hölle über Meilen und Meilen erstreckte.
Er stand langsam auf und durchquerte den Raum. Seine großen Füße zog er schwer hinter sich her, als wären sie eine Last für ihn. Er schaute aus dem Fenster zum Schweinepferch und sah, wie die Schweine sich in das Stroh vor dem Schuppen gruben. Die bleiernen grauen Wolken fingen an, sich auszuschütten, und die Schneeflocken legten sich auf die weißen leprösen Flecken von gefrorener Erde, wo die Schweine sogar die Grasnarbe abgenagt hatten. Er schauderte und fing an zu laufen, mit seinen plumpen Füßen, die schwer auf den Boden stampften. Er war das Wrack von zehn Wintern auf der Divide, und er wusste, was sie bedeuteten. Männer fürchten die Winter der Divide wie ein Kind die Nacht fürchtet oder wie Männer auf den Nordmeeren die stille dunkle Kälte der Polarnacht fürchten.
Sein Blick fiel auf sein Gewehr, und er nahm es von der Wand und betrachtete es. Er setzte sich auf die Bettkante und hielt den Lauf vor sein Gesicht, ließ seine Stirn darauf ruhen und legte einen Finger an den Abzug. Er war vollkommen ruhig, sein Gesicht zeigte weder Leidenschaft noch Verzweiflung, sondern nur den nachdenklichen Ausdruck eines Mannes, der etwas abwägt. Nach einem Moment legte er das Gewehr zur Seite, langte in den offenen Schrank und zog eine Halbliterflasche mit hochprozentigem klarem Alkohol heraus. Er hob sie an seine Lippen und trank gierig. Er wusch sich das Gesicht in der Blechschüssel und kämmte sein zerzaustes Haar und seinen struppigen blonden Bart. Dann blieb er unentschlossen vor dem Anzug aus dunklem Stoff stehen, der an der Wand hing. Zum fünfzigsten Mal nahm er ihn in die Hand und versuchte, den Mut aufzubringen, ihn anzuziehen. Er nahm den Papierkragen, der an einen Ärmel der Jacke geheftet war, schob ihn vorsichtig unter seinen ungebärdigen Bart und schaute mit schüchterner Erwartung in den Glasspiegel, der über der Kiste hing und voller Sprünge und Wasserflecken war. Mit einem kurzen Lachen warf er den Kragen auf das Bett, setzte seinen alten schwarzen Hut auf, ging hinaus und machte sich auf den Weg über die Ebene.
***
Es war für ihn eine körperliche Notwendigkeit, ab und zu von seiner Hütte wegzukommen. Er war seit zehn Jahren dort, grub, pflügte und säte und erntete das Wenige, was ihm der Hagel, die heißen Winde und die Fröste zum Ernten übrigließen. Wahnsinn und Selbstmord sind auf der Divide gang und gäbe. Wenn die heißen Winde wehen, breiten sie sich wie eine Epidemie aus. Diese sengenden staubigen Winde, die über die Kalksteinklippen von Kansas heraufwehen, scheinen das Blut in den Adern der Menschen ebenso auszutrocknen wie den Saft in den Maisblättern. Immer wenn die sengende gelbe Hitze über die zarten Lieschblätter kriecht, die die Ährchen umhüllen, bereiten sich die Leichenbeschauer darauf vor, dass es für sie etwas zu tun gibt; denn das Öl des Landes ist ausgebrannt, und es dauert nicht lange, bis die Flamme den Docht auffrisst. Es erregt dort kein großes Aufsehen, wenn ein Däne aufgefunden wird, der an seinem eigenen Windmühlenturm baumelt, und die meisten Polen, die, nachdem sie zu nachlässig und mutlos geworden sind, um sich zu rasieren, behalten ihre Rasiermesser, um sich damit die Kehle durchzuschneiden.
Es mag sein, dass die nächste Generation auf der Divide sehr glücklich sein wird, aber die jetzige kam zu spät in ihrem jeweiligen Leben her. Männer, die vierzig Jahre lang in den Bergen Schwedens Schierlingsbäume zerkleinert haben, sind zum Scheitern verurteilt, wenn sie versuchen, in einem Land glücklich zu werden, das so flach, grau und nackt ist wie das Meer. Es ist nicht einfach für Männer, die ihre Jugend damit verbracht haben, in den Nordmeeren zu fischen, sich damit zufrieden zu geben, hinter einem Pflug herzugehen, und Männer, die in der österreichischen Armee gedient haben, hassen harte Arbeit, grobe Kleidung und die Einsamkeit der Ebenen, und sie sehnen sich nach Märschen und Abwechslung, nach Gesellschaft in einem Wirtshaus und hübschen Kellnerinnen. Wenn ein Mann seinen vierzigsten Geburtstag hinter sich hat, ist es nicht leicht für ihn, seine Gewohnheiten und Lebensumstände zu ändern. Die meisten Männer bringen nur den Abschaum des Lebens, das sie in anderen Ländern und in anderen Gemeinschaften vergeudet haben, mit zur Divide.
Canute Canuteson war genauso verrückt wie alle anderen, aber sein Wahnsinn kam nicht in Form von Selbstmord oder Religion zum Ausdruck, sondern im Alkohol. Er hatte, wie alle Norweger, schon immer Schnaps getrunken, wenn er Lust darauf hatte, aber nach seinem ersten Jahr als Einsiedler griff er regelmäßig dazu. Nach einer Weile hatte er den Whisky satt, und er ging zu Schnaps über, weil dessen Wirkungen schneller und sicherer eintraten. Er war ein großer Mann mit einer schrecklichen Widerstandskraft, und es bedurfte einer großen Menge Alkohol, um überhaupt eine Reaktion hervorzurufen. Nach neun Jahren andauernden Trinkens wären die Mengen, die er vertragen konnte, einem gewöhnlichen Trinker sagenhaft vorgekommen. Er ließ es nie zu, dass seine Arbeit davon beeinträchtigt wurde; in der Regel trank er nachts und sonntags. Jeden Abend, sobald sein Tagespensum erledigt war, begann er zu trinken. Solange er in der Lage war, aufrecht zu sitzen, spielte er auf seiner Maultrommel oder bearbeitete er seine Fensterbänke mit seinem Klappmesser. Wenn ihm der Schnaps zu Kopf stieg, legte er sich auf sein Bett und starrte aus dem Fenster, bis er einschlief. Er trank einsam und allein, nicht zum Vergnügen oder zur guten Laune, sondern um die schreckliche Eintönigkeit und Plattheit der Divide zu vergessen. Milton (2) beging einen bedauerlichen Fehler, als er die Hölle mit Bergen versah. Berge bedingen Glauben und Sehnsucht. Alle Bergbewohner sind religiös. Es waren die Städte auf den Ebenen, die wegen ihres völligen Mangels an Spiritualität und wegen der verrückten Launenhaftigkeit ihrer Laster von Gott verflucht wurden.
Alkohol ist in seiner Wirkung auf den Menschen vollkommen beständig. Trunkenheit führt lediglich zu einer Verstärkung. Ein dummer Mann, der betrunken ist, wird rührselig, ein blutrünstiger Mann bösartig, ein grober Mann ausfallend. Canute war nichts von alledem, aber er war mürrisch und düster, und Schnaps führte ihn durch alle Höllen Dantes (3). Als er auf seinem für einen Riesen gemachten Bett lag, wurden alle Schrecken dieser Welt und aller anderen vor seinen fröstelnden Sinnen ausgebreitet. Er war ein Mann, der keine Freude kannte, ein Mann, der in Stille und Bitterkeit schuftete. Ständig hatte er den Schädel und die Schlange vor Augen, die Symbole ewiger Vergeblichkeit und ewigen Hasses.
Als die ersten Norweger kamen, die nahe genug waren, um als Nachbarn bezeichnet zu werden, freute sich Canute, und er plante, dem Laster in seiner Brust zu entkommen. Aber er war von Natur aus kein geselliger Mensch und hatte nicht die Begabung, die gesellige Seite anderer Menschen zum Vorschein zu bringen. Seine neuen Nachbarn fürchteten ihn eher wegen seiner gewaltigen Kraft und Statur, seiner Schweigsamkeit und seines finsteren Gesichtsausdrucks. Vielleicht wussten sie auch, dass er verrückt war, verrückt wegen der ewigen Heimtücke der Ebenen, die sich jeden Frühling grün ausbreiten und mit den Verheißungen des Gartens Eden rascheln, die lange grasbewachsene Lagunen voll klarem Wasser und Rinder zeigen, deren Hufe die Spuren wilder Rosen tragen. Bevor es Herbst wird, sind die Lagunen ausgetrocknet, und der Boden ist – von der Hitze versengt – trocken und hart, bis er Blasen wirft und aufreißt.
Anstatt ein Freund und Nachbar für die Menschen zu werden, die sich um ihn herum niederließen, wurde Canute zu einem Mysterium und zu einem Schrecken. Sie erzählten sich fürchterliche Geschichten über seine Größe und Stärke und über den Alkohol, den er trank. Sie sagten, dass er eines Nachts, als er kurz vor dem Schlafengehen hinausging, um nach seinen Pferden zu sehen, unsicher auf seinen Beinen war, als die morschen Bretter des Bodens nachgaben und er hinter den Läufen eines feurigen jungen Hengstes zu Fall kam. Sein Fuß verfing sich im Boden, und das nervöse Pferd begann wild um sich zu treten. Als Canute spürte, wie ihm das Blut aus einer Wunde in seiner Kopfhaut in seine Augen sickerte, erwachte er aus seiner majestätischen Gleichgültigkeit, und mit dem ruhigen stoischen Mut eines Betrunkenen beugte er sich vor, schlang seine Arme um die Hinterbeine des Pferdes und presste sie in einer erdrückenden Umarmung gegen seine Brust. Die ganze Nacht lag er da, in Dunkelheit und Kälte, und maß seine Kräfte mit denen der Kreatur. Als der kleingewachsene Jim Peterson am nächsten Morgen um vier Uhr hinüberging, um ihn zum Holzhacken zum Blue zu begleiten, fand er ihn so vor, und das Pferd, das auf seinen Vorderläufen kniete, zitterte und wieherte vor Angst. Das ist die Geschichte, die die Norweger von ihm erzählen, und wenn sie wahr ist, ist es kein Wunder, dass sie ihn fürchteten und hassten, diesen Mann, der die Fesseln von Pferden festhielt.
II.
An einem Frühlingstag zog eine Familie auf die nächste „Achtziger“ (4), was eine große Veränderung in Canutes Leben bewirkte. Ole Yensen war die meiste Zeit zu betrunken, um Angst vor irgendjemandem zu haben, und seine Frau Mary war zu geschwätzig, um Angst vor jemandem zu haben, der ihr zuhörte, und Lena, ihre hübsche Tochter, hatte weder Angst vor Menschen noch vor dem Teufel. So kam es, dass Canute häufiger hinüberging, um seinen Alkohol zusammen mit Ole zu sich zu nehmen, als dass er ihn alleine zu sich nahm. Nach einer Weile verbreitete sich das Gerücht, dass er Yensens Tochter heiraten würde, und die norwegischen Mädchen begannen, Lena wegen des großen Bären zu necken, dem sie den Haushalt führen sollte. Niemand wusste so recht, wie es zu der Affäre gekommen war, denn Canutes Taktik bei seinem Werben war etwas eigenartig. Anscheinend sprach er überhaupt niemals mit ihr, sondern er saß stundenlang da, während Mary auf einer Seite von ihm plapperte und Ole auf der anderen Seite trank, und sah Lena bei ihrer Arbeit zu. Sie neckte ihn, warf ihm Mehl ins Gesicht und tat Essig in seinen Kaffee, aber er nahm ihre derben Scherze mit stummem Staunen hin und lächelte kein einziges Mal. Gelegentlich begleitete er sie in die Kirche, aber auch die wachsamsten und neugierigsten Leute sahen ihn nie mit ihr sprechen. Er saß nur da und starrte sie an, während sie kicherte und mit den anderen Männern schäkerte.
Im nächsten Frühjahr ging Mary Lee in die Stadt, um in einer Dampfwäscherei zu arbeiten. Sie kam jeden Sonntag nach Hause und rannte immer zu den Yensens, um Lena mit Geschichten über Zehn-Cent-Theater, Feuerwehrtänze und all die anderen schöngeistigen Freuden des Großstadtlebens aufzustacheln. Nach einigen Wochen war Lenas Kopf völlig verdreht, und sie ließ ihrem Vater keine Ruhe, bis er sie in die Stadt gehen ließ, um ihr Glück am Bügelbrett zu suchen. Vom ersten Mal an, als sie zu Besuch nach Hause kam, begann sie Canute mit Verachtung zu behandeln. Sie hatte sich einen plüschigen Umhang und Glacéhandschuhe gekauft, ihre Kleidung von einer Schneiderin anfertigen lassen und sich Manieren und Allüren zugelegt, die dazu führten, dass die anderen Frauen aus der Nachbarschaft sie von Herzen verachteten. In der Regel brachte sie einen jungen Mann aus der Stadt mit, der seinen Schnurrbart gewachst hatte und eine rote Krawatte trug, und sie stellte ihn Canute nicht einmal vor.
Die Nachbarn neckten Canute eine ganze Weile, bis er einen von ihnen niederschlug. Er ließ sich nicht anmerken, dass er unter Lenas Missachtung litt, außer dass er mehr trank und noch mehr als je zuvor darauf achtete, die anderen Norweger zu meiden. Er lungerte in seiner Höhle, und niemand wusste, was er fühlte oder dachte, aber der kleine Jim Peterson, der gesehen hatte, wie er Lena eines Sonntags in der Kirche finster anstarrte, als sie mit dem Mann aus der Stadt dort war, sagte, dass er keinen Hektar seines Weizens auf Lenas Leben setzen würde, und auch nicht auf das des Städters; und Jims Weizen war so unglaublich wertlos, dass dies eine überaus starke Aussage war.
Canute hatte sich einen neuen Anzug aus Stoff gekauft, der dem des Städters so ähnlich wie möglich sah. Es hatte ihn eine halbe Hirseernte gekostet, denn Schneider sind es nicht gewohnt, Riesen auszustatten, und sie lassen es sich gut bezahlen. Er hatte diese Kleidungsstücke vor zwei Monaten in seiner Hütte aufgehängt und sie nie angezogen, teils aus der Angst vor Spott, teils aus Mutlosigkeit und teils, weil sich in seiner eigenen Seele etwas der Kleingeistigkeit dieses Vorhabens widersetzte.
***
Lena war gerade zu dieser Zeit zu Hause. In der Wäscherei gab es nicht viel zu tun, und Mary ging es nicht gut, sodass Lena zu Hause blieb und froh war, eine Gelegenheit zu bekommen, Canute noch einmal zu quälen.
In der Küche an der Seite machte sie die Wäsche, und während sie arbeitete, war sie laut am Singen. Mary hatte sich hingekniet, reinigte den Herd mit Ofenschwärze und schimpfte heftig über den jungen Mann, der an diesem Abend aus der Stadt kommen würde. Der junge Mann hatte den fatalen Fehler begangen, über Marys unaufhörliches Geplapper zu lachen, und ihm war nie verziehen worden.
„Er taugt nichts, und es wird ein böses Ende nehmen, wenn du mit ihm gehst! Ich verstehe nicht, warum eine Tochter von mir sich so benimmt. Ich verstehe nicht, warum der Herrgott mir solch eine Strafe auferlegt hat, indem er mir solch eine Tochter schenkt. Es gibt genügend gute Männer, die du heiraten kannst.“
Lena warf ihren Kopf hoch und antwortete barsch: „Ich habe nicht vor, demnächst irgendeinen Mann zu heiraten, und solange Dick sich gut anzieht und viel Geld zum Ausgeben hat, schadet es niemandem, wenn ich mit ihm gehe.“
„Geld zum Ausgeben? Ja, und das ist alles, was er damit macht, da bin ich sicher. Jetzt findest du es großartig, aber du wirst ein anderes Lied singen, wenn du fünf Jahre verheiratet bist und zusiehst, wie deine Kinder nackt herumlaufen und dein Schrank leer ist. Hat es mit Anne Hermanson ein gutes Ende genommen, als sie einen Mann aus der Stadt geheiratet hat?“
„Ich weiß nichts von Anne Hermanson, aber ich weiß, dass alle Mädchen aus der Wäscherei sofort mit Dick gehen würden, wenn sie ihn kriegen könnten.“
„Ja, ihr seid ein schöner Haufen von Gänsen, die sich von Kleidern aus dem Laden blenden lassen. Und dabei gibt es doch Canuteson, der eine ,Achtziger‘ hat, dazu fünfzig Stück Vieh und —“
„Und Haare, die nicht mehr geschnitten wurden, seit er ein Baby war, und einen langen schmutzigen Bart, und er trägt sonntags Latzhosen und säuft wie ein Schwein. Außerdem wird er warten. Ich kann so viel Spaß haben, wie ich will, und wenn ich alt und hässlich bin wie du, kann er mich haben und sich um mich kümmern. Der liebe Gott weiß, dass niemand sonst ihn heiraten wird.“
Canute zog seine Hand von dem Riegel zurück, als wäre er glühend heiß. Er war nicht die Art von Mann, der geschickt darin war, an Türen zu lauschen, und er wünschte, er hätte früher geklopft. Er riss sich zusammen und schlug wie ein Rammbock gegen die Tür. Mary sprang auf und öffnete sie mit einem Quietschen.
„Gott! Canute, wie hast du uns erschreckt! Ich dachte, es wäre der verrückte Lou – er treibt sich in der Nachbarschaft herum und versucht, die Leute zu bekehren. Ich habe Todesangst vor ihm. Man sollte ihn wegjagen, denke ich. Er könnte genauso gut auf die Idee kommen, uns alle umzubringen oder die Scheune anzuzünden oder die Hunde zu vergiften. Er hat sogar den armen Pfarrer in Angst und Schrecken versetzt, und der plagt sich auch noch mit seinem Rheuma! Hast du mitbekommen, dass er letzten Sonntag zu krank war, um zu predigen? Aber bleib’ nicht da in der Kälte stehen – komm ’rein. Yensen ist nicht da, aber er ist nur eben zu den Sorensons gegangen, um die Post zu holen. Er wird nicht lange weg sein. Geh’ nur gleich in das Zimmer da und setz’ dich.“
Canute folgte ihr, schaute unverwandt vor sich hin und bedachte Lena mit keinem Blick, als er an ihr vorbeiging. Aber Lenas Eitelkeit erlaubte ihm nicht, sie unbehelligt zu passieren. Sie nahm das nasse Laken, das sie gerade auswrang, klatschte es ihm ins Gesicht und lief kichernd zur anderen Seite des Zimmers. Der Schlag versetzte ihm Stiche in die Wangen, das seifige Wasser spritzte ihm in die Augen, und er fing unwillkürlich an, sie sich mit seinen Händen zu reiben. Lena kicherte vor Freude darüber, ihn aus der Fassung gebracht zu haben, und der Zorn verdunkelte Canutes Gesicht mehr als je zuvor. Ein großer Mann, der gedemütigt wird, verliert wesentlich mehr von seiner Würde als ein kleiner. Er vergaß das Stechen in seinem Gesicht in dem bitteren Bewusstsein, dass er sich selbst zum Narren gemacht hatte. Er stolperte blind ins Wohnzimmer und stieß mit dem Kopf gegen den Türrahmen, weil er vergaß, sich zu bücken. Er ließ sich hinter dem Ofen auf einen Stuhl fallen und streckte seine großen Füße hilflos zu beiden Seiten aus.
Ole ließ lange auf sich warten, und Canute saß da, still und stumm, die Hände auf den Knien geballt, und die Haut seines Gesichts schien zu kleinen Falten zusammengeschrumpft zu sein, die zitterten, als er die Stirn furchte. Sein Leben war eine einzige lange Lethargie aus Einsamkeit und Alkohol gewesen, doch jetzt erwachte er, und es war, wie wenn die dumpfe lastende Hitze des Sommers sich in einem Gewitter entlädt.
Als Ole schwer angetrunken hereingestolpert kam, erhob sich Canute sofort.
„Yensen“, sagte er gelassen, „ich bin gekommen, um zu sehen, ob du mich heute deine Tochter heiraten lässt.“
„Heute!“ schnappte Ole.
„Ja, ich werde nicht bis morgen warten. Ich bin es leid, alleine zu leben.“
Ole stemmte seine wackeligen Knie gegen das Bettgestell und stammelte mit bemerkenswerter Beredsamkeit: „Glaubst du, ich werde meine Tochter einem Säufer zur Frau geben? Einem Mann, der hochprozentige Sachen trinkt? Einem Mann, der mit Klapperschlangen schläft? Was für eine Unverschämtheit! Verschwinde aus meinem Haus oder ich verpass’ dir einen Fußtritt.“ Und Ole begann, sich besorgt nach seinen Füßen umzusehen.
Canute antwortete mit keinem Wort, sondern er setzte seinen Hut auf und ging in die Küche. Er ging zu Lena und sagte, ohne sie anzusehen: „Pack’ deine Sachen und komm mit!“
Der Ton seiner Stimme erschreckte sie. Sie ließ die Seife fallen und sagte wütend: „Bist du betrunken?“
„Wenn du nicht mitkommst, werde ich dich mitnehmen – besser, du kommst mit“, sagte Canute ruhig.
Sie hob ein Laken, um ihn zu schlagen, aber er packte grob ihren Arm und entrang ihr das Laken. Er drehte sich zur Wand um und nahm eine Haube und ein Umhängetuch herunter, die dort hingen, und begann, sie darin einzuwickeln. Lena kratzte und wehrte sich wie ein wildes Tier. Ole stand in der Tür und fluchte, während Mary aus vollem Hals heulte und kreischte. Canute jedoch umfasste das Mädchen mit seinen Armen, hob es an und verließ das Haus.
Lena trat und sträubte sich, aber das hilflose Gejammer von Mary und Ole verhallte bald in der Ferne, und Canute drückte sie mit dem Gesicht nach unten fest an seine Schulter, sodass sie nicht sehen konnte, wohin er sie brachte. Sie bekam nur mit, dass der Nordwind in ihren Ohren pfiff und sie sich zügig und gleichmäßig bewegten, und sie nahm eine breite Brust wahr, die sich in schnellen, unregelmäßigen Atemzügen unter ihr hob und senkte. Je heftiger sie sich wehrte, desto fester packten sie diese Arme aus Eisen, die die Fesseln von Pferden festgehalten hatten, bis sie das Gefühl hatte, sie würden ihr die Luft abschnüren, und sie aus Angst stillhielt.
Canute schritt in einem Tempo über die ebenen Felder, wie es noch nie zuvor ein Mensch getan hatte, und sog den beißenden Nordwind in großen Zügen in seine Lungen. Er marschierte mit halb geschlossenen Augen, schaute stur geradeaus und senkte seinen Blick nur, wenn er den Kopf neigte, um die Schneeflocken wegzupusten, die auf ihren Haaren liegen blieben. Auf diese Art und Weise brachte Canute sie zu seinem Zuhause, auf dieselbe Art und Weise, wie seine bärtigen barbarischen Vorfahren die schönen reizvollen Frauen des Südens auf ihre behaarten Arme nahmen und sie auf ihre Kriegsschiffe trugen. Damals wie heute wird die Seele der Konventionen überdrüssig, die nicht die ihren sind, und mit einem einzigen Schlag zerschmettert sie die zivilisierten Lügen, die sie nicht mehr ertragen kann, und der starke Arm greift zu und nimmt mit Gewalt, was er nicht mit List gewinnen kann.
***
Als Canute seine Hütte erreichte, setzte er das Mädchen auf einen Stuhl, wo es saß und schluchzte. Er blieb nur ein paar Minuten. Er füllte den Ofen mit Holz und zündete die Lampe an, trank einen gewaltigen Schluck Alkohol und steckte sich die Flasche in seine Tasche. Er hielt einen Moment inne, starrte das weinende Mädchen eindringlich an, dann ging er los, verschloss die Tür und verschwand in der zunehmenden Dunkelheit der Nacht.
In Flanell gehüllt und nach Terpentin riechend saß der kleine norwegische Prediger da und las in seiner Bibel, als er ein donnerndes Klopfen an seiner Tür hörte und Canute, mit Schnee bedeckt und mit an seinem Mantel festgefrorenem Bart, eintrat.
„Komm ’rein, Canute, du bist bestimmt ganz durchgefroren“, sagte der kleine Mann und schob seinem Besucher einen Stuhl zu. Canute behielt seinen Hut auf, blieb stehen und sagte leise: „Ich möchte, dass Sie heute Abend zu mir nach Hause kommen und mich mit Lena Yensen verheiraten.“
„Hast du eine Erlaubnis, Canute?“
„Nein, ich will keine Erlaubnis. Ich will heiraten.“
„Aber ich kann dich nicht ohne Erlaubnis trauen, Mann. Das wäre nicht legal.“
Ein gefährliches Leuchten erschien in den Augen des großen Norwegers. „Ich will, dass Sie zu mir nach Hause kommen und mich mit Lena Yensen verheiraten.“
„Nein, das kann ich nicht. Es würde einen Ochsen umbringen, bei so einem Sturm nach draußen zu gehen, und mein Rheumatismus ist schlimm heute Abend.“
„Wenn Sie nicht kommen wollen, dann muss ich Sie mitnehmen“, sagte Canute mit einem Seufzer.
Er holte den Bärenfellmantel des Predigers und bat ihn, ihn anzuziehen, während er seinen Buggy anspannte. Er ging hinaus und schloss leise die Tür hinter sich. Als er zurückkehrte, fand er den verängstigten Pfarrer vor dem Feuer kauernd. Sein Mantel lag neben ihm. Canute half ihm, ihn anzuziehen, und wickelte seinen langen Schal behutsam um seinen Kopf. Dann hob er ihn hoch, trug ihn hinaus und setzte ihn in seinen Buggy. Als er ihm die Büffelfelle umhängte, sagte er: „Ihr Pferd ist alt, es könnte in diesem Sturm schlapp machen oder die Orientierung verlieren. Ich werde es führen.“
Der Pfarrer nahm die Leinen kraftlos in die Hände und saß vor Kälte zitternd da. Manchmal, wenn der Wind eine Pause machte, konnte er sehen, wie das Pferd sich durch den Schnee kämpfte und der Mann unermüdlich neben ihm herstapfte. Dann wieder verbarg das Schneetreiben sie völlig vor ihm. Er hatte keine Ahnung, wo sie waren oder in welcher Richtung sie unterwegs waren. Er hatte das Gefühl, als würde er im Herzen des Sturms umhergewirbelt, und er sprach alle Gebete, die er kannte. Aber endlich waren die langen vier Meilen vorüber, und Canute stellte ihn in den Schnee, während er die Tür aufschloss. Er sah die Braut am Feuer sitzen, mit Augen, die rot und geschwollen waren, als hätte sie geweint. Canute stellte ihm einen ausladenden Stuhl hin und sagte mit rauer Stimme: „Wärmen Sie sich auf.“
Lena fing erneut an zu weinen und zu jammern und bat den Pfarrer, sie nach Hause zu bringen. Er sah Canute hilflos an. Canute sagte schlicht: „Wenn Sie jetzt warm sind, können Sie uns verheiraten.“
„Meine Tochter, gehst du diesen Schritt aus deinem eigenen freien Willen?“ fragte der Pfarrer mit zitternder Stimme.
„Nein, Sir, das tue ich nicht, und es ist schändlich, dass er mich dazu zwingen will! Ich werde ihn nicht heiraten.“
„Dann, Canute, kann ich euch nicht trauen“, sagte der Pfarrer, der so gerade stand, wie es seine rheumatischen Gliedmaßen zuließen.
„Sind Sie bereit, uns jetzt zu verheiraten, Sir?“ fragte Canute und legte eine seiner eisernen Hände auf seine hängende Schulter. Der kleine Prediger war ein guter Mann, aber wie die meisten Männer mit schwächlichen Körpern war er ein Feigling, und ihn erschreckten körperliche Leiden, obwohl er sie gut genug kannte. So begann er mit vielen Gewissensbissen, den Traugottesdienst abzuhalten. Lena saß verdrossen auf ihrem Stuhl und starrte ins Feuer. Canute stand neben ihr und hörte mit ehrfürchtig gesenktem Kopf und vor seiner Brust gefalteten Händen zu. Als der kleine Mann gebetet und Amen gesagt hatte, begann Canute, ihn wieder einzupacken.
„Ich bringe Sie jetzt nach Hause“, sagte er, als er ihn hinaustrug. Er setzte ihn in seinen Buggy und machte sich mit ihm auf den Weg durch den tobenden Sturm. In den Schneeverwehungen geriet er ins Schwanken, sie zwangen sogar den Riesen selbst in die Knie.
***
Nachdem sie allein zurückgeblieben war, hörte Lena bald auf zu weinen. Sie war nicht besonders empfindlich und besaß, abgesehen von ihrer Eitelkeit, nur wenig Stolz. Nachdem sich die erste bittere Wut gelegt hatte, empfand sie nichts weiter als ein gesundes Gefühl der Demütigung und Niederlage. Sie hatte keine Lust wegzulaufen, denn sie war jetzt verheiratet, und in ihren Augen war das endgültig und jede Rebellion sinnlos. Sie wusste nichts von einer Heiratserlaubnis, aber sie wusste, dass ein Prediger Menschen verheiratete. Sie tröstete sich mit dem Gedanken, dass sie sowieso schon immer die Absicht gehabt hatte, Canute eines Tages zu heiraten.
Sie hatte es satt, zu weinen und ins Feuer zu schauen, also stand sie auf und begann sich umzusehen. Sie hatte seltsame Geschichten über das Innere von Canutes Hütte gehört, und ihre Neugier gewann bald die Oberhand über ihre Wut. Eines der ersten Dinge, das ihr auffiel, war der neue schwarze Anzug, der an der Wand hing. Sie war einfältig, aber eine eitle Frau brauchte nicht lange, um etwas so ausgesprochen Schmeichelhaftes auf sich zu beziehen, und deshalb freute sie sich darüber. Als sie den Schrank in Augenschein nahm, empfand sie angesichts des allgemeinen Eindrucks von Vernachlässigung und Unbehaglichkeit Mitleid mit dem Mann, der dort lebte.
„Armer Kerl, kein Wunder, dass er heiraten will, um jemanden zu haben, der sein Geschirr abwäscht. Ein Junggeselle zu sein, ist ziemlich schwer für einen Mann.“
Es ist leicht, mitleidig zu sein, wenn der eigenen Eitelkeit einmal geschmeichelt wurde. Sie schaute auf die Fensterbank, schauderte leicht und fragte sich, ob der Mann verrückt war. Dann setzte sie sich wieder hin und saß lange da und überlegte, was ihr Dick und Ole tun würden.
„Seltsam, dass Dick nicht gleich hergekommen ist, um mich zu holen. Er ist bestimmt gekommen, denn er muss die Stadt verlassen haben, bevor der Sturm angefangen hat, und er hätte genauso gut weitergehen wie umkehren können. Wenn er sich beeilt hätte, wäre er hier gewesen, bevor der Prediger angekommen ist. Vermutlich hatte er Angst herzukommen, weil er wusste, dass Canuteson ihn zu Brei schlagen könnte, dieser Feigling!“ Ihre Augen blitzten wütend auf.
Die Stunden nach Mitternacht vergingen nur langsam, und Lena begann, sich schrecklich einsam zu fühlen. Es war eine unheimliche Nacht, und dies war ein unheimlicher Ort, um sich dort aufzuhalten.
Sie konnte die Kojoten in einiger Entfernung von der Hütte hungrig heulen hören, und noch schrecklicher waren all die unbekannten Geräusche des Sturms. Sie erinnerte sich an die Geschichten, die man sich über den großen Baumstamm über ihr erzählte, und sie hatte Angst vor diesen schlangenartigen Dingen auf den Fensterbänken. Ihr fiel der Mann ein, der in dem Graben getötet worden war (5), und sie fragte sich, was sie tun würde, wenn sie das bleiche Gesicht des verrückten Lou in das Fenster starren sehen würde. Das Klappern der Tür wurde unerträglich, sie dachte, der Riegel müsste locker sein, und nahm die Lampe, um nachzusehen. Dann sah sie zum ersten Mal die hässlichen braunen Schlangenhäute, deren todverheißendes Klappern jedes Mal zu hören war, wenn der Wind an der Tür rüttelte.
„Canute, Canute!“ schrie sie entsetzt.
Draußen vor der Tür hörte sie ein lautes Geräusch, als würde ein großer Hund aufstehen und sich schütteln. Die Tür öffnete sich, und Canute stand vor ihr, weiß wie eine Schneewehe.
„Was ist los?“ fragte er freundlich.
„Mir ist kalt“, brachte sie hervor.
Er ging hinaus, holte einen Arm voll Holz und einen Korb mit Maiskolben und füllte damit den Ofen. Dann ging er hinaus und legte sich vor der Tür in den Schnee. Gleich darauf hörte er sie wieder rufen.
„Was ist los?“ fragte er und setzte sich auf.
„Ich fühle mich so einsam, ich habe Angst, hier drinnen ganz allein zu bleiben.“
„Ich geh’ ’rüber und hole deine Mutter.“ Und er stand auf.
„Sie wird nicht kommen.“
„Ich bringe sie mit“, sagte Canute grimmig.
„Nein, nein. Ich will sie nicht, sie wird die ganze Zeit schimpfen.“
„Gut, ich hole deinen Vater her.“
Sie sprach wieder, und es schien, als wäre ihr Mund ganz nahe am Schlüsselloch. Sie sprach leiser, als er sie jemals zuvor hatte sprechen hören, so leise, dass er sein Ohr an das Schloss halten musste, um sie zu hören.
„Ich will auch ihn nicht, Canute – ich hätte lieber dich.“
Einen Moment lang hörte sie überhaupt keinen Ton, dann so etwas wie ein Stöhnen. Mit einem Angstschrei öffnete sie die Tür und sah Canute zu ihren Füßen ausgestreckt im Schnee auf der Türschwelle liegen. Er barg sein Gesicht in seinen Händen und schluchzte.
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025
Fußnoten:
(1) Als „The Divide“ wird die eine Wasserscheide bildende Hochebene zwischen dem Republican River im Süden und dem Little Blue River im Norden bezeichnet, die die Einzugsgebiete dieser beiden Flüsse im Grenzgebiet von Nebraska und Kansas voneinander trennt. Den Titel „On the Divide“ verwendete der Literaturwissenschaftler David Porter 2008 auch für seine Biografie mit dem Untertitel „The Many Lives of Willa Cather“.
(2) John Milton (1608 – 1674) war ein englischer Dichter, Denker und Staatsbediensteter. 1667 erschien sein Werk „Paradise Lost“ (dt.: Das verlorene Paradies), das hier offensichtlich gemeint ist.
(3) Dante Alighieri (1265 – 1321) war ein italienischer Dichter, der vor allem für „Göttliche Komödie“ (Comedia bzw. Divina Commedia) bekannt ist, ein episches Gedicht, dessen erster Teil seine Reise durch die „Hölle“ (Inferno) beschreibt.
(4) Als „Eighty“ wurde eine 80 acres große Heimstättenparzelle bezeichnet (entspricht ungefähr 130 Morgen bzw. 32 Hektar).
(5) Das ist im Rahmen der Geschichte ein Rätsel, denn von diesem Todesfall ist vorher keine Rede. Denkbar ist zwar, dass er in einer früheren Geschichte eine Rolle spielte, aber auf der Homepage des „Willa Cather Archive“ [
https://cather.unl.edu/] wird man diesbezüglich nicht fündig.
Anmerkungen des Übersetzers:
Die Gliederung der Geschichte in zwei Teile und die jeweiligen Untergliederungen gibt es im Original nicht. Ich habe sie hier zwecks besserer Lesbarkeit eingefügt, zumal die Autorin oft ziemlich lange Absätze bildete, die ich in der vorliegenden Version bis auf zwei Ausnahmen (in denen ich Absätze in etwa halbierte) beibehalten habe.
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