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Freitag, 21. März 2025

STORY: Drei Tage bis Pine River (Michael R. Ritt)


Drei Tage bis Pine River

von Michael R. Ritt

(Original: "Three Days to Pine River", 2016 - Übers.: Reinhard Windeler, 2025)



Michael Robert Ritt (Jahrgang 1960) war bis 2023 als Verbraucherschützer für das US-Landwirt­schaftsministerium tätig. Dann, nachdem er zwanzig Jahre lang in Colorado und Montana gelebt hatte, kehrte er nach Wisconsin zurück.

Seine erste Short Story („The Conversion of Boze Carter“) wurde Ende 2013 veröffentlicht, sein erster und bisher einziger, aber hochgelobter und preisgekrönter Roman („The Sons of Philo Gaines“) im Jahre 2020.
Seine dritte Kurzgeschichte, die 2016 in der Anthologie „Showdown“ (Hrsg.: Brett Cogburn) erschien und 2021 im Podcast-Ableger „Six-Gun Justice“ (Hrsg.: Richard Prosch) nachgedruckt wurde, handelt von einem Marshal, der einen jungen Raubmörder seiner gerechten Strafe zuführen muss. Was die beiden miteinander verbindet, wird – geradezu mustergültig – erst mit dem allerletzten Wort eindeutig enthüllt.






__________________________

I.

Marshal Logan Califf war sich nicht sicher, was ihm im Moment mehr Kummer bereitete. Es hielt sich die Waage zwischen der höllischen Hitze Colorados einerseits und dem Mann auf dem Pferd hinter ihm, dessen Hände an den Sattelknauf gebunden waren, andererseits. Er hielt sein Reittier an und spähte den Pfad entlang, der vor ihm durch einen Espenhain führte, während er sich den Berghang hinunterschlängelte. Er mochte keine Pfade. Zu viele Leute benutzten sie. So wurden sie ja überhaupt erst zu Pfaden. 

Er zog es vor, querfeldein zu gehen, aber in den Bergen war die Auswahl, die ihm zur Verfügung stand, überschaubar.

Schweißperlen sammelten sich zu Tropfen, die seine Schläfen hinabliefen und in den Bartstoppeln verschwanden, die im Laufe der vergangenen Woche in seinem Gesicht gewachsen waren. Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit einem tiefen Seufzer mit dem Ärmel über die Stirn.

„Was ist los, alter Mann? Wird’s ’n bisschen zu heiß für dich?“

Logan drehte sich halb um, um den Mann anzusehen, der das sagte. Mit einem Blick nach unten vergewisserte er sich, dass die Hände seines Gefangenen immer noch sicher gefesselt waren. Er hatte fast eine ganze Woche damit verbracht, ihn durch diese Berge zu verfolgen, nachdem er aus dem Gefängnis in Pine River ausgebrochen war. Er hatte nicht vor, ihn noch einmal entkommen zu lassen.

Er wendete seine Grulla-Stute und führte sie neben den Braunen des anderen Mannes. Die beiden Pferde standen Nase an Schweif, während Logan die Feldflasche anhob, die er mit einem Riemen an seinen Sattelknauf gehängt hatte. Er zog den Korken heraus, legte den Kopf in den Nacken und nahm ein paar Schlucke. Dann hielt er die Feldflasche an den Mund des jüngeren Mannes. Der Gefangene warf seinen Kopf mit einem Ruck zur Seite. „Das brauch’ ich nicht. Ich kann viel länger durchhalten als du.“ Trotzig versuchte er genug Speichel zu produzieren, um ihn in Logans Richtung zu speien, aber sein Mund war zu trocken für dieses Bemühen, und er brachte lediglich ein trockenes Spuckgeräusch zustande – große Klappe und nichts dahinter. 

Mit einem Achselzucken steckte Logan den Korken wieder in die Feldflasche und schlang den Riemen wieder um den Sattelknauf. „Es wird dir noch zupass kommen, dass dir die Hitze so gut gefällt. Da, wo dein Weg dich hinführt, gibt es mächtig viel davon.“

Sie setzten ihren Weg den Pfad hinunter fort; Logan, sein Gefangener und ein Packpferd, das den Abschluss bildete. Der Pfad war steil und tückisch, übersät mit Felsbrocken und umgestürzten Bäumen, weshalb Logan es den Pferden überließ, sich ihren Weg nach unten zu suchen. 

Die San Juan Mountains waren über viertausend Meter hoch, aber so weit oben waren sie nicht. Sie befanden sich weit unterhalb der Baumgrenze. Logan warf einen Blick auf einen nahegelegenen Gipfel und dachte daran, wieviel kühler es näher am Gipfel sein würde. Dies war ein besonders heißer Sommer gewesen, und Logan ertappte sich dabei, dass er die Anzahl der Monate bis zum ersten möglichen Schneefall berechnete. Komisch, dachte er, es war noch gar nicht so lange her, dass er darüber spekuliert hatte, wie schnell es Sommer werden würde.

Die Pferde bahnten sich ihren Weg durch einige Kiefern und näherten sich einer vernarbten Fläche, die im vergangenen Sommer abgebrannt war. Neue grüne Vegetation und Kiefernsämlinge sprossen auf dem geschwärzten Boden. Auf einigen der verkohlten Baumstümpfe und -stämme, die diese Seite des Berges übersäten, wuchs bereits Moos.

Logan ließ die Pferde anhalten und seinen Blick über den verbrannten Bereich sowie den Bergrücken schweifen, der etwa auf halber Strecke aufragte. Zu offen, dachte Logan. Sieht nach einem guten Platz für einen Hinterhalt aus. Um die baumlose Seite des Berges zu umgehen, lenkte er die Pferde nach Osten. Er mied das offene Gelände und blieb gerade eben zwischen den Bäumen.

Der jüngere Mann fing an zu lachen. „Machst du dir um ’was Sorgen, Marshal? Scheint mir Zeitverschwendung zu sein, den langen Umweg zu machen. Stört mich natürlich nicht im Geringsten. Du nimmst dir so viel Zeit, wie du willst. Ich dachte nur, du hättest es eilig, mir meinen Hals lang zu ziehen.“

„Dazu kommen wir noch, Lou. Ich möchte nicht, dass dein Komplize mich abknallt. Außerdem ist es hier in den Bäumen kühler als im Freien.“

„Ich sage dir dauernd, dass ich keinen Komplizen habe.“ Lou Beck spuckte das Wort aus, als wäre es ein Insekt, das ihm in den Mund geflogen war. „Ich weiß nicht, warum es dir so schwer fällt, das zu glauben.“

Logan ließ seine Stute über einen umgestürzten Baumstamm steigen, der quer über seinem Weg lag. Die anderen Pferde taten es ihr gleich. „Dann will ich’s dir ’mal erklären. Erstens: Als du eine Woche nach dem Raubüberfall in der Nähe von Hermosa geschnappt worden bist, hattest du nichts von dem Geld bei dir. Wenn du auch nur einen Teil davon gehabt hättest, hättest du es in der Stadt auf den Kopf gehauen. Zeugen in der Bank haben gesehen, dass du durch die Hintertür aus dem Gebäude gerannt bist, nachdem du den Bankier Stevens erschossen und das Geld aus dem Tresor genommen hast.“

„Ich wollte niemanden erschießen,“ hakte Lou ein. „Dieser fette alte Bankier hat nach einer Waffe gegriffen, die er im Tresor versteckt hatte. Ich hatte keine Wahl.“

„Du hattest eine Wahl. Du hast dich nur für das entschieden, was einfach und bequem für dich war.“ Logan wartete auf eine Antwort von Lou, aber es kam keine. „Egal, wie ich schon sagte, haben andere Zeugen dich und eine weitere Person gesehen, wie ihr wild entschlossen aus der Gasse gestürmt seid. Dein Komplize muss dort hinten gewesen sein und die Pferde gehalten haben.“

„Wie ich dem Richter schon gesagt habe – ich weiß nicht, wer das war.“

„Er ist also mit seinem Pferd zufällig gerade dann durch die Gasse hinter der Bank geritten, als du sie ausgeraubt hast und hinten ’raus gerannt bist?“

Lou reckte frech sein Kinn vor. „Richtig. Genau das ist passiert.“

„Hmm, nehmen wir ’mal an, um die Sache weiter zu durchdenken, das ist die Wahrheit – was es nicht ist, wie wir beide wissen –, aber nur wegen des Gedankenspiels halten wir es ’mal für wahr. Wo ist das Geld?“

Logan brachte die Pferde zum Stehen, drehte sich zu Lou um und wartete auf dessen Antwort.

„Ich habe es irgendwo versteckt, wo niemand es finden wird.“

Es war dieselbe Geschichte, die Lou bei seinem Prozess erzählt hatte. Sie war jetzt nicht glaubwürdiger als damals. „Du bleibst immer noch bei dieser hanebüchenen alten Geschichte? Sei’s drum. Es gibt immer noch den Grund Nummer zwei, warum ich weiß, dass du einen Komplizen hattest.“

„Und was ist das für ein Grund?“

„Jemand hat dich aus meinem Gefängnis befreit.“

„Verdammt, das war einfach. Ich habe nur deinen Deputy überwältigt, mir seine Waffe geschnappt und ihn erschossen. Dann habe ich seine Schlüssel genommen und mich selbst ’raus gelassen.“ Lou lächelte, als ob seine großartige Leistung dazu bestimmt war, Stoff für eine Legende zu werden. 

„Dann erklär’ mir, du Genie, warum seine Leiche im Vorraum und nicht direkt vor der Zelle gefunden wurde. Wie konntest du ihn vom anderen Ende des Gefängnisses aus überrumpeln?“

Lou hatte darauf keine Antwort. Eine Fliege landete immer wieder auf seiner Nasenspitze. Lou, dessen Hände immer noch an den Sattelknauf gebunden waren, schüttelte den Kopf hin und her, als er versuchte, das lästige Insekt zu verscheuchen. Bei einem vergeblichen Versuch, sich seines Quälgeistes zu entledigen, schüttelte Lou seinen Kopf mit so viel Schwung, dass sein Hut wegflog und unter seinem Pferd landete, das scheute, als der Hut auf den Boden fiel, und einen leichten Schritt zur Seite machte, um nicht auf ihn zu treten.

Logan saß da, wartete auf eine Antwort, und seine Verärgerung wuchs mit jedem Moment, der verging. Seine Augen verengten sich, und die Muskeln in seinem Kiefer spannten sich an. Mit zusammengebissene Zähnen sagte er: „Mein Deputy war ein guter Mann. Er hatte eine Frau und einen kleinen Sohn. Er hatte sein ganzes Leben noch vor sich.“

Lou senkte in einem seltenen Anflug von Reue seinen Kopf und sagte in ehrerbietigem Ton leise: „Das wusste ich nicht. Tut mir leid, das von ihm zu hören. Das ist wirklich ein Jammer.“

„Tja, über eins sind wir beide uns einig, Lou“, sagte Logan, als er die Pferde wieder den Berg hinunter in Bewegung setzte. „Du bist der jämmerlichste Mensch, den ich kenne.“

„Was ist mit meinem Hut?“ rief Lou, kurz bevor das Packpferd hinter ihm auf die Krempe trat und den Hut im Staub zerdrückte.

„Du hast keinen Hut verdient“, rief Logan zurück.

***

Der Pfad wurde flacher, als sie zu einer kleinen Bergwiese kamen. Lupinen und Akelei bildeten einen Flickenteppich aus blauen und roten Wildblumen. Der schwache, süße Pfefferduft von Scharlachroter Gilia lag in der Luft. Drei Maultierhirsche grasten ein paar hundert Meter entfernt am anderen Ende der Wiese. Sie blickten auf, entdeckten Logan und die Pferde, die sich näherten, und verschwanden dann zwischen den Bäumen, die das andere Ende des Feldes säumten.

Logan brachte sein Pferd zum Stehen, um das Feld vor ihm eingehend zu betrachten. Wieder einmal wollte er instinktiv den offenen Bereich vermeiden und ihn außen umgehen. Stattdessen drehte er sich zu Lou um. „Weißt du, Lou, mir ist gerade ein Gedanke gekommen.“

„Na, dann gratuliere ich zu deiner großartigen Leistung.“ Lou war immer noch verstimmt, weil er seinen Hut eingebüßt hatte. Sein Kopf war nach vorne geneigt, und seine Augen waren geschlossen. Er sah fast aus, als wäre er eingeschlafen.

Logan saß nur da und blickte ihn an, ohne ein Wort zu sagen.

Schließlich hob Lou den Kopf und sah sich um. Dann bemerkte er, dass Logan ihn anstarrte. „Was?“

„Es ist mir in den Sinn gekommen, dass, wenn du einen Komplizen hast, vielleicht nicht ich es bin, den er abknallen würde.“

„Was redest du da?“

Logan warf noch einen Blick über die Wiese und drehte sich dann zu Lou um. „Also, so wie ich es sehe, ist dieser Komplize, den du angeblich nicht hast, offensichtlich der Kopf des Unternehmens. Er bringt dich dazu, die Bank am helllichten Tag auszurauben – unter Zeugen –, während er sich mit den Pferden in der Gasse versteckt hält. Er entkommt mit dem Geld, aber du wirst geschnappt und ins Gefängnis geworfen. Dann befreit er dich aus dem Gefängnis, bevor du die Gelegenheit hast, jemandem seine Identität zu verraten.“

„Klingt, als würde dieser ausgedachte Komplize, den du mir ständig andichtest, mir helfen; wenn er mich doch aus dem Gefängnis holt und so weiter. Worauf willst du hinaus, Marshal?“

„Was ich sagen will, Lou, ist … dass er dich nur aus dem Gefängnis geholt hat, damit du nicht in Versuchung kommst, jemandem zu erzählen, wer er ist. Der Richter hat gesagt, er würde deine Strafe in zwanzig Jahre Gefängnis umwandeln, wenn du das Geld zurückgibst. Ich würde darauf wetten, dass dein Komplize der einzige Grund ist, weshalb du so stur bist. Er hat dich überzeugt, dass du dir keine Sorgen machen musst; dass er dich aus dem Gefängnis holen würde, falls du geschnappt wirst. Wie hat er das gemacht …? Hat er dir einen größeren Anteil von dem Geld angeboten, wenn du den Mund hältst?“ Logan beugte sich im Sattel vor und tätschelte der Grulla-Stute den Hals, während er sprach. „So wie die Dinge jetzt stehen, hat er das Geld, und der Einzige, der seine Identität kennt, ist nicht mehr sicher hinter Schloss und Riegel. Er hat dich nicht ’rausgeholt, um dich zu retten. Er hat dich ’rausgeholt, damit er dich zum Schweigen bringen kann.“

Lou saß einen Moment da, ohne etwas zu sagen und dachte über das nach, was Logan gerade gesagt hatte. Sein Mund war halb geöffnet, während er mit leerem Blick auf den Hinterkopf seines Pferdes starrte. Schließlich schüttelte er den Kopf und antwortete: „Du liegst daneben, Marshal. Du kannst so viel spekulieren, wie du willst. Ich sage dir immer wieder, dass ich keinen Komplizen habe.“

Trotz dem, was Lou gesagt hatte, bemerkte Logan etwas in seinen Augen, als er aufblickte. Es könnten Zweifel gewesen sein oder vielleicht Angst. Es war nur eine Andeutung, aber es gab Logan etwas, mit dem er arbeiten konnte. „Also gut. Wenn das, was du sagst, wahr ist, dann hat keiner von uns beiden etwas zu befürchten, oder?“

„Das ist, was ich dir immer wieder sage, Marshal.“

Ohne ein weiteres Wort stieß Logan seine Fersen in die Seiten der Grulla-Stute. „Hüüah“, schrie er, als sein Reittier mit den anderen beiden Pferden im Schlepptau hinaus auf die offene Wiese sprang.

Lou umklammerte den Sattelknauf und hielt sich verzweifelt fest. „Was machst du da? Willst du uns umbringen?“ schrie er und wurde von einer Seite zur anderen geworfen, während Logan die Pferde über das Feld jagte.

Sie hatten ein Drittel der Wegstrecke zurückgelegt, als der erste Schuss fiel. Es war aus den Bäumen rechts von ihnen gekommen und wirbelte direkt vor Logans Pferd Erde auf. Intuitiv duckten beide Männer sich tiefer im Sattel. Logan lenkte die Pferde nach links und ließ sie weg von dem Schützen galoppieren, der jetzt irgendwo hinter ihnen war.

Bald darauf folgte ein zweiter Schuss, der Lous rechtes Hosenbein durchschlug und ein Loch durch den fleischigen Teil seiner Wade riss. Lou schrie vor Schmerz auf.

Logan änderte erneut die Richtung und lenkte die Pferde zurück nach rechts. Zwei weitere Gewehrschüsse waren zu hören, die beide ihr Ziel verfehlten, bevor die Pferde es in die Sicherheit der Bäume am anderen Ende der Wiese schafften.

Etwa zwanzig Meter innerhalb der Bäume brachte Logan die Pferde zum Stehen. Er saß ab und zog sein Gewehr aus dem Sattelschuh. Mit seinem Reittier zwischen sich und der Wiese überprüfte er eilends, wie es um Lou und die Pferde bestellt war.

„Herrgott noch ’mal.“ Lous Gesicht war schmerzverzerrt, und er zuckte zusammen, als Logan sein Hosenbein aufriss, um seine Wunde zu untersuchen. „Wieso musstest du das tun? Hast du versucht, mich umzubringen, bevor man mich hängen kann?“

„Hör’ auf zu jammern. Es ist nur ein Kratzer.“ Er riss einen Streifen Stoff aus dem Aufschlag von Lous Hose. Er nahm das Halstuch, das er sich umgebunden hatte, und befestigte damit den über der Wunde zusammengeknüllten Stoffstreifen. „Das wird die Blutung ruckzuck stoppen.“

Lou saß auf seinem Pferd; mit einer Schusswunde im Bein, gefesselten Händen, ohne Hut, erhitzt und hungrig. Er bot einen ziemlich erbärmlichen Anblick.

Mit dem Gewehr in der Hand arbeitete sich Logan von Baum zu Baum vor, während er sich dem Rand der Wiese näherte, um nach Hinweisen auf den Schützen zu suchen. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass dort niemand mehr war, ging er dorthin zurück, wo die Pferde und Lou zwischen den Bäumen warteten.

„Es ist gut, dass dein Komplize kein besserer Schütze ist. Es hätte viel schlimmer für dich ausgehen können als eine kleine Fleischwunde.“ Logan steckte das Gewehr wieder in den Sattelschuh und saß auf.

„Du gibst einfach nicht auf, oder?“ Lou verzog das Gesicht, als er seinen Stiefel aus dem Steigbügel zog, um etwas Druck von seinem verletzten Bein zu nehmen.

„Wenn das nicht dein Komplize war, der gerade auf uns geschossen hat, wer war es dann? Was glaubst du?“

„Ich nehme an, es war ein Jäger, der unsere Pferde mit den drei Hirschen verwechselt hat, die wir gesehen haben.“

Logan schüttelte verständnislos den Kopf. „Deine Ma ist eine der freundlichsten und gottesfürchtigsten Frauen, die ich kenne, und dein Pa war der beste Gesetzeshüter, mit dem ich je zusammengearbeitet habe. Wie konntest du nur so ein böser, starrköpfiger Dummkopf werden?“

„Mein Pa war ein selbstgerechter Hurensohn, dem seine Arbeit immer wichtiger war als seine Familie. Er war nur dann glücklich, wenn er hinter einem Pferdedieb oder einem Mörder her war. Er wusste nicht einmal, dass Ma oder ich existierten. Also komm’ mir nicht damit, was für ein großartiger Mann mein Pa war – oder was für ein gutes Vorbild. Tatsächlich war er nie lange genug da, um überhaupt irgendetwas für mich zu sein.“ Lous Gesicht wurde rot wegen der Wut, die in ihm hochgekommen war. Der bittere gallige Geschmack lenkte seine Gedanken für einen Moment von dem Schmerz ab, den ihm die Schusswunde in seinem Bein bereitete.

„Nun, du siehst die Dinge auf eine Art, und ich sehe die Dinge auf eine andere, schätze ich.“ 

„Du siehst die Dinge auf seine Art, weil du genauso bist wie er.“

„Glaubst du, mir macht das hier Spaß? Glaubst du, ich will dich hängen sehen? Ich bin nicht gerade begeistert von dem Gedanken, deiner Ma sagen zu müssen, dass ihr einziger Sohn als Mörder und Dieb gehängt wurde.“ Logan holte tief Luft und senkte seine Stimme. „Sohn, ich habe alles getan, was ich kann, um dich dazu zu bringen, mir zu sagen, wer es ist, mit dem du gemeinsame Sache machst. Sag’ mir, wo das Geld ist, damit du nicht hängen musst. Nimm das Angebot von Richter Nichols an. Zwanzig Jahre mit der Aussicht auf Bewährung. Du kannst immer noch ein Leben haben. Du kannst die Dinge noch ändern.“

Einen Moment lang glaubte Logan, Lou zögern zu sehen, als ob er etwas sagen wollte, aber sich nicht sicher war, wie er anfangen sollte. Gerade einmal eine oder zwei Sekunden lang schien sein Blick weich zu werden. Aber dann sah Logan, wie die Starrköpfigkeit und die mangelnde Bereitschaft zur Zusammenarbeit genauso schnell zurückkehrten. „Wir sollten einfach weitermachen, Marshal, und von diesem lausigen Berg wegkommen.“

***

Der Rest des Abstiegs nach unten verlief ereignislos, und die beiden Männer fanden sich bald in den Ausläufern der San Juan Mountains wieder. Die Temperatur war merklich gesunken, und der Wind hatte aufgefrischt, als sie am Ufer eines kleinen Wasserlaufs saßen und ihre Pferde tränkten. Logan schätzte, dass es noch etwa drei Tage bis Pine River waren, wohin er und Lou unterwegs waren.

Der Himmel wurde dunkler, und der Wind hatte eine Kühle in sich, die Logan eine gewisse Erleichterung brachte, aber auch mit der Aussicht auf Regen drohte. Logan war sich nur zu gut bewusst, wie schnell Stürme in den Berge aufzogen und wie gefährlich es für einen Menschen sein konnte, der mitten hinein geriet. Er sah zu den sich auftürmenden Wolken hinauf. „Besser wir finden ein Plätzchen, wo wir uns verkriechen können.“

Sie folgten dem kleinen Wasserlauf durch die bewaldeten Ausläufer, bis sie an eine offene Fläche kamen. Hier flachte das Land zu einem breiten Tal ab, das etwa eineinhalb Meilen breit und vielleicht drei oder vier Meilen lang war.

Etwa auf halber Strecke durch das Tal konnte Logan am nördlichen Ende mehrere kleine Gebäude erkennen. Es gab eine Hütte und eine Scheune mit einem kleinen Corral aus einzelnen Planken, außerdem ein Klohäuschen und ein kleineres Gebäude, das höchstwahrscheinlich ein Geräteschuppen war. Im Corral konnte Logan zwei frei umherlaufende Pferde erkennen, und er sah Rauch aus dem Schornstein der Hütte aufsteigen.

„Sieht nach einer warmen Mahlzeit und einem trockenen Platz zum Übernachten aus. Was meinst du, Lou? Sollen wir runtergehen und uns vorstellen?“

Lous Bein pochte. Er war hungrig und müde und wollte nichts lieber, als von seinem Pferd abzusteigen, sich in einem schönen warmen, weichen Strohhaufen auszustrecken und ungefähr zwölf Stunden lang zu schlafen. „Wenn das eine Chance auf bessere Gesellschaft ist, als du sie in den letzten drei Tagen warst, dann bin ich auf jeden Fall dafür.“

Das Gehöft war am Nordende des Tals eingebettet. Es gab gutes Gras, und der Wasserlauf, dem sie gefolgt waren, floss mitten hindurch. Logan dachte, dass es ein großartiger Ort war, um Rinder oder Pferde zu züchten, aber abgesehen von den beiden Pferden im Corral war auf dem gesamten Anwesen kein Nutztier zu sehen.

Sie ließen ihre Pferde auf die Lichtung und hinüber bis zur Hütte gehen, die an der Vorderseite eine kleine Veranda besaß, die angebaut war und etwas vorsprang. Auf der Veranda saß ein Mann. Sie konnten ihn singen hören, als sie sich der Hütte näherten.

„Ich sitze hier am Straßenrand an diesem schönen Sommertag,
halte ab und zu ein Schwätzchen, wie ich es gerne mag.“  (1)

Der Mann war, soweit Logan es abschätzen konnte, über sechzig Jahre alt. Er war kräftig gebaut und hatte einen langen weißen Bart, der über eine Brust hing, die wie ein Fass war. Er hatte ein Stück Wachstuch in der Hand, mit dem er ein Winchester-Gewehr putzte, das auf seinem Schoß lag. Logan fielen die blauen Augen des Mannes auf, die hell und scharf waren. Sie blickten unter zwei buschigen weißen Augenbrauen hervor, und ihnen schien nichts zu entgehen, als er die beiden berittenen Fremden musterte. Er sang weiter, als Logan die Pferde vor ihm zum Stehen brachte.

„Liege im Schatten der Bäume, wie meine Kameraden auch,
wie herrlich, wir schlagen uns Erdnüsse in den Bauch.“ (2)

„Howdy.“ Der alte Mann blieb in seinem Schaukelstuhl sitzen, als er sprach, aber Logan fiel auf, wie seine Hand auf dem Gewehrkolben ruhte.

„Howdy. Ich bin Marshal Logan Califf aus Pine River. Dieser Mann“ – er nickte zu Lou hinüber – „ist mein Gefangener. Wir sind auf dem Weg zurück in die Stadt.“

Der alte Mann erhob sich. Logan bemerkte die Initialen „T.A.B.“, die in den Walnussschaft des Winchester geschnitzt waren, als er sie neben dem Schaukelstuhl an die Wand lehnte. „Freut mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Marshal. Ich bin Jesse Aldridge, aber Sie können mich Jess nennen.“

Logan sah zu den sich auftürmenden Wolken hinauf. „Jess, es sieht so aus, als ob wir etwas Regen kriegen. Ich hatte gehofft, wir könnten die Nacht in Ihrer Scheune verbringen und vielleicht eine warme Mahlzeit von Ihnen bekommen.“

Jess warf einen verstohlenen Blick auf Lou. „Was ist mit Ihrem Gefangenen da, Marshal? Ist er gefährlich? Ich wohne hier mit meiner Enkeltochter. Ich möchte mir nur ungern Ärger einhandeln.“

Wie aufs Stichwort öffnete sich die Eingangstür, und eine junge Frau erschien. Sie sah aus, als wäre sie Mitte zwanzig, mit langen blonden Haaren, die glatt bis zur Mitte ihres Rückens hinunterhingen. Sie war ein Kunstwerk an all den Stellen, auf die ein Mann gerne schaut, und sie hatte tiefblaue Augen, genau wie ihr Großvater. Sie trug ein blau-weißes Kattunkleid und hatte eine Schürze um ihre Taille gebunden. Sie wischte sich die Hände an einem Handtuch ab, trat heraus und stellte sich neben Jess.

„Marshal, das ist meine Enkeltochter Ann. Ann, Schatz, dieser Mann ist Marshal Califf. Er ist auf dem Weg nach Pine River und hatte gehofft, hier übernachten zu können.“

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen, Marshal.“

„Ganz meinerseits, Miss.“

Ann schaute Lou direkt an, richtete ihre Frage aber an Logan. „Und wer ist das?“

„Das ist Lou Beck. Er ist mein Gefangener. Ich bringe ihn zurück nach Pine River, wo er gehängt werden soll.“

„Ist Mr. Beck gefährlich, Marshal?“ wiederholte Ann die Frage, die ihr Großvater gestellt hatte. Logan konnte keine Angst in ihrer Frage erkennen. Stattdessen schien sie von der Aussicht fast begeistert zu sein.

„Im Moment nicht, Miss Aldridge. Ich versichere Ihnen, dass er während unseres Aufenthalts gefesselt bleiben wird. Er wird Ihnen oder Ihrem Großvater keine Ungelegenheiten machen. Stimmt doch, oder Lou?“

Lou lächelte zu Ann hinunter. Selbst ohne Hut und mit eine Woche alten Bartstoppeln war er ein gutaussehender junger Mann. Zweifellos hatte er schon mehr als eine einsame weibliche Bewohnerin einer Heimstätte umgarnt; besonders diejenigen, die nicht oft in die Stadt kamen.

„Schätzchen, du hast mein Wort, dass ich mich von meiner besten Seite zeigen werde. Zumal du so ziemlich das hübscheste Ding bist, das ich seit Ewigkeiten gesehen habe.“ Er zwinkerte Ann zu, was sie erröten ließ. „Und so angeschossen, wie ich bin“ – Lou verlagerte sein Gewicht im Sattel und zuckte dabei um des dramatischen Effekts willen zusammen – „bin ich wohl kaum in der Verfassung, um Ungelegenheiten zu machen.“

Die Farbe wich aus Anns Gesicht. Ihre Augen weiteten sich besorgt. „Marshal, ist dieser Mann verletzt?“ Lou fing an, sich das Bein zu reiben. Ann stieg von der Veranda herunter und ging schnell zur rechten Seite von Lous Pferd, um einen besseren Blick zu bekommen. „Ann, Süße“, rief Jess ihr nach. „Sei ja vorsichtig.“

„Irgendein Jäger hat unsere Pferde mit Maultierhirschen verwechselt“, beeilte sich Logan zu erklären. „Lou hat eine Kugel ins Bein abbekommen. Sie ist aber glatt durchgegangen. Er wird überleben … zumindest bis ich ihn zurück nach Pine River gebracht habe.“

Ann runzelte die Stirn bei Logans Bemerkung. „Helfen Sie mir, diesen Mann ins Haus zu bringen, damit ich seine Wunde versorgen kann.“

Genau in diesem Augenblick klatschte ein großer Regentropfen in den Staub vor Logans Pferd. Dann fiel ein weiterer und machte ein dumpfes Geräusch, als er die Krempe seines Hutes traf, vom Rand hinabrollte und auf der Wölbung des Sattels landete.

Jess stieg von der Veranda herunter. „Warum helfen Sie Ann nicht, Ihren Gefangenen ins Haus zu bringen, Marshal? Ich bringe währenddessen Ihre Pferde in die Scheune.“

Logan zog sein Messer und langte hinüber, um das Seil durchzuschneiden, mit dem Lou an seinem Sattel festgebunden war. Obwohl die rasiermesserscharfe Klinge das Seil durchtrennte und Lou von seiner Klammer befreite, blieben seine Hände aneinander gefesselt.

Jess führte die Pferde in die Scheune, während Logan und Ann Lou in die Hütte geleiteten. Sie setzten ihn auf einen Stuhl neben dem Kamin. Die Holzscheite darin knisterten und knackten und veränderten ihre Lage, als die Flammen sie verzehrten und in glühende Asche verwandelten.

Ann goss etwas heißes Wasser aus einem Kessel in eine kleine Schüssel. Lou zuckte vor Schmerzen zusammen, als sie den Verband entfernte und die Wunde reinigte.

Logan schaute sich in der kleinen Hütte um. Es gab nicht viel Mobiliar, aber sie war warm und trocken. Sie war in drei Räume unterteilt. Da war der Hauptraum mit dem Kamin, ein paar Stühlen und einem Holztisch mit Bänken auf beiden Seiten. Ein Topf mit Eintopf köchelte über dem Feuer, und der Duft von frisch gebackenem Brot ließ Logan das Wasser im Mund zusammenlaufen. Die andere Seite der Hütte war in zwei Schlafzimmer unterteilt; eines für Jess und eines für seine Enkelin.

Logan fiel auf, dass es kaum etwas gab, das auf das Händchen einer Frau hindeutete. An keinem der beiden Fenster hingen Vorhänge. Es gab keine Vasen mit Wildblumen, kein Tischtuch, kein schönes Geschirr und auch sonst nichts von den Dingen, auf die Frauen so viel Wert zu legen schienen.

„Wie lange leben Sie schon hier mit Ihrem Großvater?“ fragte Logan, als Ann damit fertig war, einen sauberen Verband um Lous Bein anzulegen.

„Ich bin seit ungefähr sechs Monaten hier. Aber das ist nicht von Dauer. Ich gehe nach San Francisco.“

„Ist da Ihre Verwandtschaft?“ Logan hatte sich auf die Seite des Tisches gesetzt, die dem Kamin am nächsten war. Die Kälte und Feuchtigkeit des Sturms waren schnell in ihn gezogen, und die Wärme der brennenden Holzscheite fühlte sich gut an. Eines nach dem anderen streckte er seine Beine aus und rieb sich etwas von der Steifheit aus seinen Knien.

„Pa wurde am Antietam (3) getötet, als ich ein kleines Mädchen war. Meine Ma ist letztes Jahr an Schwindsucht gestorben. Deshalb bin ich hierher zu meinem Opa gekommen. Aber wie gesagt“, fügte sie schnell hinzu, „ich bin auf dem Weg nach San Francisco.“

Die Haustür öffnete sich, und Jess kam herein. Er wischte sich den Regen von den Armen. „Es fängt da draußen an, ziemlich gut zu schütten. Sieht so aus, als hättet ihr Jungs es gerade noch rechtzeitig hierher geschafft.“ Wie um das zu unterstreichen, erhellte ein Blitz den Himmel, und durch das Tal rollte ein Donner, der von den Bergen widerhallte, als er in der Ferne verklang. Die Dunkelheit war hereingebrochen, getrieben von den Gewitterwolken, die tief über der Hütte hingen.

***

Jess setzte sich Logan gegenüber auf die Bank und legte die Winchester vor sich auf den Tisch. Als sie einander gegenübersaßen, zog Logan vorsichtig die Schlaufe vom Hammer des Colts in seinem Holster. Er nickte in Richtung des Gewehrs. „Das ist eine schöne Schusswaffe, die Sie da haben. Ich kann sehen, dass Sie sie gut pflegen. Wie lange haben Sie sie schon?“

„Das ist ein gutes Schießeisen, Marshal, aber es gehört nicht mir. Ich habe es gereinigt, als Sie angeritten kamen, aber es gehört Ann.“

Logan drehte sich schnell um und griff gleichzeitig nach seinem Revolver. Aber es war zu spät. Ann stand da mit einem Colt Army Revolver Kaliber .44, den sie in ihrer Schürze versteckt hatte. Sie hatte ihn direkt auf Logan gerichtet.

„Tun Sie das nicht, Marshal. Ich habe Ihrem Deputy ohne Weiteres eine Kugel verpasst. Ich kann dasselbe mit Ihnen machen, wenn es sein muss. Ziehen Sie Ihre Waffe langsam ’raus und werfen Sie sie hier ’rüber.“

Logan tat, was sie verlangte.

Jess hatte sich keinen Zoll bewegt. Der schockierte Ausdruck auf seinem Gesicht war für Logan Beweis genug, dass er mit all dem nichts zu tun hatte. „Ann! Was machst du denn da?“

„Halt’ dich einfach ’raus, Opa.“ Sie hielt die Waffe weiter auf Logan gerichtet. „Werfen Sie Ihr Messer auch ’rüber, Marshal. LANGSAM!“

Logan zog sein Messer aus der Scheide und ließ es über den Boden gleiten.

Sie hielt den Colt mit einer Hand auf Logan gerichtet, griff sich das Messer mit der anderen und schnitt Lou los. Als sie damit fertig war, warf sie das Messer zur Seite.

Lou rieb sich die Handgelenke, öffnete und schloss seine Fäuste und bog seine Finger, damit sie besser durchblutet wurden. „Wer ist jetzt das Genie, Marshal?“ Er bückte sich und hob Logans Revolver auf. „Die letzten drei Tage bist du mir mit der Frage auf die Nerven gegangen, wer mein Komplize war. Ich hätte fast laut gelacht, als du direkt zu der Hütte geritten bist.“

„Das muss ich dir lassen, Lou“, sagte Logan ruhig und mit einer Zuversicht, die im Widerspruch zu der Tatsache stand, dass jetzt zwei Schusswaffen auf ihn gerichtet waren. „Das habe ich nicht kommen sehen. Aber jetzt verstehe ich, warum du deine Komplizin nicht verraten wolltest – selbst nachdem sie versucht hat, dich auf dem Berg zu töten.“

Lou wedelte mit dem Revolver vor Logan wie eine Lehrerin, die einem aufsässigen Schüler mit dem Finger droht. „Das wird nicht klappen, Marshal, wenn du versuchst, uns so gegeneinander aufzubringen. Ann und ich lieben uns. Wir gehen zusammen nach San Francisco und heiraten da.“

„Das stimmt, mein Schatz.“ Ann lächelte und klimperte mit ihren Wimpern in Lous Richtung. „Außerdem, warum sollte ich versuchen, dich umzubringen, wo du mir doch nicht gesagt hast, wo du das Geld versteckt hast?“

„Mach’ dir darüber keine Sorgen, Liebling. Ich habe es in diesem hohlen Cottonwoodstamm versteckt, wo wir vor ein paar Monaten unser Picknick gemacht haben. Da ist es so sicher, wie es nur sein kann.“

„Das ist gut, Lou.“ Ann deutete auf das Seil, mit dem Lous Hände gefesselt gewesen waren. „Nimm das Seil und fessele sie. Wir brechen sofort auf.“

„Du willst jetzt los?“ fragte Lou. „Es stürmt. Es ist nicht sicher, bei so einem Wetter draußen unterwegs zu sein.“

„Tu’ was ich sage“, rief Ann als Antwort.

Lou zögerte einen Moment; dann nahm er mit einem Achselzucken das Seil und fesselte Logans Hände. Als er fertig war, machte er dasselbe mit Jess.

Ann ging zur Tür. „Wir müssen jetzt los, Lou.“ Sie griff sich das Gewehr, das auf dem Tisch lag. Zu Logan gewandt sagte sie: „Irgendetwas hat Ihnen einen Tipp gegeben. Es war dieses Gewehr, oder? Ich hatte gehofft, dass Ihnen die Initialen nicht auffallen würden.“

„T.A.B. – Thomas Allen Beck. Ich kenne dieses Gewehr gut. Ich hab’ es Lous Pa vor ungefähr sechs Jahren geschenkt, als er zum Captain der Rangers ernannt wurde. Lou bekam es, als sein Pa getötet wurde. Sie konnten es nur von Lou bekommen haben. Als ich sah, wie Ihr Opa es reinigte, als wir angeritten kamen, dachte ich, er sei derjenige, der auf uns geschossen hatte. Ich bin nie auf die Idee gekommen, dass Lous Komplize eine Frau sein könnte. Ich schätze, dass muss ich in der Rubrik ,Fehler‘ verbuchen.“

„Wenn Sie lange genug leben wollen, um noch mehr Fehler zu machen, Marshal, dann bleiben Sie einfach ruhig sitzen, während wir hier wegreiten. Alles, was ich will, ist, das Geld zu kriegen und aus diesen gottverlassenen Bergen ’rauszukommen und wieder irgendwo hinzukommen, wo es Restaurants und Geschäfte und Theater gibt.“

Jess hatte Mühe zu verstehen, was sich vor ihm abspielte. „Ann, das kannst du nicht tun; das ist nicht richtig. Leg’ einfach das Gewehr hin und binde uns los. Wir können über alles reden.“

„Es gibt nichts zu besprechen, Opa. Ich kann keinen weiteren Tag hier bleiben. Ich kann nicht einmal eine weitere Stunde hier bleiben. Wenn ich es tue, das schwöre ich, verliere ich meinen Verstand.“ Sie öffnete die Tür und gab Lou ein Zeichen. Draußen zuckte ein Blitz, und der Regen strömte von der Kante des Verandadaches. „Los, wir verschwinden jetzt von hier, Lou.“ Die beiden traten in die Dunkelheit hinaus und schlossen die Tür hinter sich.

Logan stand auf und verlor keine Zeit, als er quer durch den Raum zum Kamin lief, wo sein Messer immer noch auf dem Boden lag. Seinen Revolver hatte Lou aufgehoben, aber dem Messer hatte er keine Beachtung geschenkt. Obwohl seine Hände fest zusammengebunden waren, war es kein Problem für Logan, den Griff des Messers mit beiden Händen zu umfassen.

Jess hatte das Messer ebenfalls im Blick und kam zum Kamin herüber. Er hielt seine Hände vor sich, während Logan begann, an den Seilen zu sägen. „Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid mir das alles tut, Marshal. Ich verstehe einfach nicht, dass Ann diesen Weg eingeschlagen hat.“

Logan konnte den Schmerz und die Verwirrung in den Augen des alten Mannes sehen und hatte Mitleid mit ihm. Es gibt viele verschiedene Arten von Schmerz, die ein Mann zu ertragen lernen kann, aber der Schmerz, zusehen zu müssen, wie jemand, den man liebt, schlechte Entscheidungen trifft, ist einer der schlimmsten – und einer, den Logan nur zu gut kannte.

Nachdem er Jess befreit hatte, reichte Logan dem alten Mann das Messer, der bald darauf Logans Hände los gemacht hatte.

Sie gingen zur Tür der Hütte, blieben aber abrupt stehen, als ein Schuss zu hören war. Beide Männer warfen sich auf den Boden und warteten ein paar Sekunden, um sicherzugehen, dass nicht sie diejenigen waren, auf die geschossen wurde. Auf dem Bauch kroch Logan nach vorne, langte nach oben, um den Türriegel anzuheben, und öffnete die Tür langsam einen Spalt weit.

Draußen war es zu dunkel, um etwas zu erkennen. Dann erhellte ein plötzlicher Blitz die Nacht, und Logan konnte Lou zwischen der Hütte und der Scheune im Matsch liegen sehen. Er bewegte sich nicht. Der fallende Regen und der Donner, der über allem grollte, machten es schwierig zu hören, wie der verletzte Mann stöhnte.

Logan rannte dorthin, wo er lag, und bückte sich, um Lou zu untersuchen und herauszufinden, in welcher Verfassung er war. Es sah nicht gut aus. Er hatte ein Einschussloch in seiner Brust, und seine Atmung war flach.

„Du hattest recht, Logan.“ Seine Worte waren angestrengt und kamen, bevor und nachdem er nach Luft schnappte. „Sie hat mich zum Narren gehalten. Du hattest die ganze Zeit recht. Sie ist hinter dem Geld her.“ Lou bekam einen Hustenanfall, der schaumiges Blut aus seinen Mundwinkeln strömen zu lassen begann. Es vermischte sich mit dem Regen und floss über die Seiten seines Gesichts hinunter in den Matsch.

„Es tut mir leid, Sohn. Es sieht so aus, als hätte sie dich umgebracht. Sag’ mir, wo das Geld versteckt ist. Wo ist dieser Picknickplatz, den du erwähnt hast?“

Lous Worte kamen langsam und abgehackt, er sprach unter großer Anstrengung. Jedes einzelne Wort schien ihn ein kleines Stück des Lebens zu kosten, das ihm noch blieb. „Der Bach … in diesem … [hust, hust] in diesem Tal … [hust, hust, hust] wo er in den Rio … de Los Pinos … Da …“ Ein weiterer Hustenanfall folgte und dann ein Moment der Stille. Plötzlich lief ein Beben durch Lous Körper, gefolgt von einem langen, langsamen Ausatmen. Sein Brustkorb bewegte sich nicht mehr, und seine Augen starrten blicklos in den fallenden Regen und die ewige Dunkelheit des Sturms.

Jess war geradewegs in die Scheune gegangen, während Logan mit Lou sprach. Jetzt kam er mit Logans gesatteltem und zum Aufbruch bereitem Pferd heraus. Er schaute auf den Körper von Lou, der regungslos im Schlamm lag, und dann sah er Logan an. „Sie ist meine Enkeltochter, Marshal“, war alles, was er sagen konnte.

Logan nahm Jess die Zügel ab und stellte seinen Fuß in den Steigbügel. „Ich würde es gerne vermeiden, auf eine Frau zu schießen, Jess, aber sie hat zwei Männer getötet, und ich habe nicht vor, der dritte zu sein.“

***

Einen Moment später machte sich seine Grulla-Stute auf den Weg das Tal hinunter, dem Wasserlauf folgend, der ihn zum Rio de Los Pinos bringen würde. Es regnete weiterhin, und es blitzte fast ununterbrochen, was Logan nervös machte, aber es erhellte auch den Weg, sodass er sein Pferd in einem gleichmäßigen Tempo halten konnte.

Ann hatte nicht mehr als zehn Minuten Vorsprung vor ihm, aber sie war besser mit der Gegend vertraut als Logan und wusste genau, wohin sie wollte. Logan hatte nur eine grobe Richtung, der er folgen konnte, daher blieb er mit seinem Pferd nahe am Wasserlauf, der durch den Regen, der gefallen war, breiter wurde und schneller floss.

Ein paar Meilen von der Hütte entfernt begann sich das Tal zu verengen. Der Weg wurde steiler, und Logan musste die Grulla-Stute im Schritttempo gehen lassen, als er Felsbrocken und Bäume passierte, die immer zahlreicher wurden, da das offene Tal immer mehr Kiefern und Aspen Platz machte.

Er kam an einen unvermittelt auftauchenden Abgrund und brachte sein Pferd zum Stehen. Hier ergoss sich der Wasserlauf, der jetzt zur Größe eines kleinen Flusses angeschwollen war, über den Rand einer zwölf Meter hohen Klippe. Logan konnte das Tosen des Rio de Los Pinos von unten hören und wusste, dass er sich in der Nähe der Stelle befinden musste, wo Lou das Geld versteckt hatte.

Ein plötzlich zuckender Blitz erhellte das Logan gegenüber liegende andere Ufer des Wasserlaufs. Ann saß auf ihrem Pferd, die Winchester zielte genau auf ihn. Sie zog den Abzug durch. Die Kugel prallte vom Sattelknauf ab und schnitt eine Furche in Logans Handrücken. Als Logan sich zur abgewandten Seite von seinem Pferd fallen ließ, sah er das Zucken eines weiteren Blitzes und hörte er einen gewaltigen Knall, der seine Ohren mehrere Sekunden lang klingeln ließ, während er im nassen Gras lag.

Minuten vergingen, in denen Logan still dalag und auf einen weiteren Gewehrschuss wartete, aber es kam keiner. Der Sturm schien etwas nachzulassen. Der Regen hatte sich zu einem stetigen Nieseln beruhigt, und Donner und Blitz waren weiter nach Osten gezogen.

Logan hob langsam seinen Kopf und versuchte, über den Wasserlauf auf die andere Seite zu blicken, aber es war immer noch zu dunkel. Er kam auf die Knie und stand dann auf. Die Grulla-Stute hatte sich nicht bewegt, also ergriff er die Zügel und saß auf.

Etwa eine halbe Meile stromaufwärts gab es eine Stelle, an der das Bett des Wasserlaufs breiter war. Selbst so, wie er durch den kürzlichen Regen angeschwollen war, reichte das Wasser der Stute nur bis zum Bauch, sodass Logan ohne Schwierigkeiten auf die andere Seite gelangte.

Als er sich stromabwärts auf den Rückweg machte, hatte der Regen aufgehört, und die Bewölkung war größtenteils aufgerissen. Der Vollmond schien mit einer Helligkeit herab, die der vom Regen durchtränkten Vegetation einen silbernen Schimmer verlieh.

Er war auf der Hut, als er sich dem Bereich näherte, aber seine Vorsicht war unnötig. Ann und ihr Pferd lagen reglos im nassen Gras. Sie waren beide tot. Die Winchester lag ein paar Meter von Ann entfernt auf dem Boden. Der Kolben war völlig zerfetzt, und der Lauf war von dem Blitzschlag, der ihn zerschmettert hatte, auseinander gebogen.



II.

Sechs Tage später stieg Logan aus dem Zug auf den Bahnsteig von Cheyenne. Er hatte dafür gesorgt, dass die Kiefernholzkiste, in der Lou Becks Leiche lag, auf ein Fuhrwerk geladen wurde, das ihm von einem Mietstall zur Verfügung gestellt wurde.

Hannah Beck lebte allein auf einer kleinen Ranch drei Meilen nördlich der Stadt. Es war schon seit einiger Zeit keine wirkliche Ranch mehr. Abgesehen von ein paar Kühen, ungefähr einem halben Dutzend Pferden und einigen Hühnern, die in der Erde scharrten, war nicht viel da, was eine verwitwete Frau auf Trab halten konnte. Sie verbrachte ihre Zeit damit, in ihrem Blumen- und Gemüsegarten zu arbeiten und an ihren Sohn Lou zu denken. Sie hatte seit fast zwei Jahren nichts mehr von ihm gehört. Jeden Abend setzte sie sich in ihrem Schlafzimmer in den Schaukelstuhl, las laut einen Abschnitt aus der Bibel und betete für ihren Jungen. Und jeden Tag schaute sie zu der Straße, die durch die windgepeitschten Ebenen führte, die die Ranch umgaben, in der Hoffnung auf ein Anzeichen für seine Rückkehr.

Sie sah den Wagen, als er noch weit entfernt war. Während sie auf ihrer Veranda saß und Äpfel für einen Kuchen schälte, beobachtete sie, wie der Wagen sich bewegte und dabei Staubwolken aufwirbelte, die mehrere Minuten lang in der Luft hingen, bevor sie wieder auf die einsame Straße herabsanken. Als der Wagen abbog und durch das Tor und die Straße entlang zu ihrer Ranch fuhr, stand sie auf und ging zum Rand der Veranda. Sie blinzelte und schirmte ihre Augen gegen die Mittagssonne ab, während sie darauf wartete, dass der Wagen näher kam. Ein Lächeln ließ ihr Gesicht aufleuchten, als sie den Fahrer erkannte. Sie stieg von der Veranda hinab und ging über den Hof.

Logan brachte den Wagen zum Stehen und zog die Bremse an. Er kletterte vom Sitz herunter und ging auf Hannah zu. Sie trafen sich auf halbem Weg.

Für einen langen Moment hielten sie sich umarmt. Hannah drückte ihr Gesicht fest an seine Baumwollweste, sie roch den Staub der Straße, der sich auf seinem Anzug aus feiner Wolle niedergelassen hatte, und sie spürte, wie sich sein Brustkorb bei jedem seiner Atemzüge rhythmisch hob und senkte.

Sie ließ ihn los, machte einen Schritt zurück und nahm Logans beide Hände in die ihren, während sie zu seinem Gesicht aufblickte, das so stattlich und markig war. Sie wollte jeden Zoll davon in sich aufnehmen. „Es tut gut, dich zu sehen, Logan. Es ist schon so lange her.“

„Es ist viel zu lange her, Hannah.“

Etwas in seinem Gesicht, in der Haltung seines Kiefers und im Tonfall seiner Stimme war anders, als es sein sollte. In seinen Augen war eine Traurigkeit, die sie nicht gesehen hatte, seit ihr Ehemann Tom, Logans bester Freund, getötet worden war. Ihr Lächeln verschwand, und ihre Augen verengten sich. „Was ist passiert, Logan? Etwas mit Lou?“

Logan senkte seinen Blick und starrte auf den Boden, ohne etwas zu sagen. Welche Worte sind in solch einem Augenblick die richtigen? Wie überbringt man die Nachricht, die kein Elternteil jemals sollte hören müssen? Er legte seinen Arm um ihre Taille und führte sie an die Seite des Wagens. Sie blickte über den Rand des Kastens und sah den Kiefernholzsarg darin.

Logan schlang seine Arme um sie und hielt sie fest, während sie schluchzte. Schließlich löste sie sich von ihm und tupfte sich mit einem Zipfel ihrer Schürze die Augen.

Logan streckte seine Hände aus und legte sie auf ihre Schultern. „Hannah, ich möchte, dass du eines weißt.“ Er beugte sich leicht nach vorne, damit er ihr direkt in die Augen sehen konnte. „Mit seinem letzten Atemzug hat Lou mir geholfen, eine Mörderin zur Strecke zu bringen. Du kannst stolz auf ihn sein.“ Genauere Einzelheiten musste sie nicht wissen. 

Hannah drehte sich um und betrachtete den Sarg, in dem ihr einziger Junge aufgebahrt war. Dann wandte sie sich wieder um und sah zu Logan auf. Sie legte eine Hand sanft auf eine Wange seines Gesichts und fühlte die Bartstoppeln, die dort in den letzten paar Tagen gewachsen waren. Sie brachte ein schwaches Lächeln zustande. „Danke, Logan. Danke dafür, dass du mir meinen Jungen nach Hause gebracht hast. Du bist ein guter Bruder.“


*** Published with permission from Michael R. Ritt and Literary Agent Cherry Weiner  - cwliteraryagency@gmail.com ***
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025


Wir danken dem Autor sowie der Cherry Weiner Literary Agency
für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung.

Der Link zur Homepage des Autors: https://michaelrritt.com/home/

Endnoten:
(1) und (2)
„Sitting by the road-side on a summer day,
Chatting with my messmates, passing time away,
Lying in the shadow underneath the trees,
Goodness, how delicious, eating Goober Peas!“
ist die erste Strophe von „Goober Peas“, einem traditionellen Volkslied aus den Südstaaten der USA, das während des Bürgerkriegs bei den konföderierten Soldaten beliebt war. Erstmals veröffentlicht wurde es 1866 von A.E. Blackmar in New Orleans, der scherzhaft A. Pindar als Texter und P. Nutt als Komponisten angab; beide angebliche Namen haben dieselbe Bedeutung: Erdnuss.
Eine deutsche Fassung des Liedes scheint es nicht zu geben, sodass sich der Übersetzer notgedrungen auch als Textdichter versuchen musste.

(3) Die Schlacht am Antietam Creek fand am 17. September 1862 in Maryland statt und war die verlustreichste Ein-Tages-Schlacht des gesamten amerikanischen Bürgerkrieges.