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Samstag, 1. März 2025

STORY: Ein Versprechen für die Ewigkeit (Larry D. Sweazy)


Ein Versprechen für die Ewigkeit

von Larry D. Sweazy

(Original: "Silent Hill", 2010 - Übers.: Reinhard Windeler)



Larry D. Sweazy (Jahrgang 1960) lebt in Noblesville, Indiana, und ist ein Paradebeispiel für schriftstellerisches Durchhaltevermögen. 
Nach eigenen Angaben erhielt er fünfzehn Jahre lang fast nur Absagen für von ihm eingesandte Kurzgeschichten, ehe im Jahre 2004 erstmals eine mit einem Western-Thema  veröffentlicht und im folgenden Jahr prompt mit einem Spur Award ausgezeichnet wurde („The Promotion“).
Auch seine Romane benötigten eine gewisse Anlaufzeit. „Rattlesnake Season“ war 2009 sein erster veröffentlichter, tatsächlich aber bereits der siebte von ihm verfasste Roman.
Seither läuft es allerdings bestens für ihn, und er kann mittlerweile auf eine Vielzahl von Auszeichnungen und Nominierungen sowohl für Romane wie auch für Short Stories zurückschauen, wobei er neben Western auch Thriller schreibt.
Im AKWA-Journal erscheint nun erstmals eines seiner Werke in deutscher Sprache. Die auf zwei Zeitebenen spielende Geschichte stammt aus der Anthologie „Ghost Towns“ (Hrsg.: Martin H. Greenberg & Russell Davis), was als dezenter Hinweis darauf gelten mag, was in ihr zu erwarten ist.


__________________________


Ich folgte dem Weg – und dem Wind – in die Stadt. Meine Kehle war wund, meine Nase voller Staub und Schmutz, und meine Brust hob und senkte sich, als wären meine Lungen mit Kerosin getränkt. Seltsamerweise konnte ich, so erschöpft ich auch war, nicht spüren, wie mein Herz in meiner Brust schlug.

Ich hatte keine Landkarte, und nachdem ich tagelang herumgeritten war, war ich mir sicher, dass ich mich verirrt hatte. Die Stadt, an deren Eingang sich kein Ortsschild befand, versprach Hoffnung, eine Atempause, einen Ort zum Ausruhen.

Wie immer, wenn ich in einer neuen Stadt ankomme, ging ich schnurstracks zum Saloon.  Der Barkeeper wartete ab, bis eine Vierteldollarmünze aus meiner Tasche auftauchte, bevor er mir anbot, mir einen Whiskey einzuschenken. Ich fügte mich, wenn auch widerwillig. Die Glücksgöttin hatte sich vor hundert Meilen von mir verabschiedet und sowohl meine Geldbörse wie auch meinen Körper in einem bedauerlichen ungesunden Zustand zurückgelassen.

„Sie sehen aus, als bräuchten Sie mehr als einen Schluck Whiskey.“ Ein halbvolles Glas glitt auf mich zu, nachdem die letzte meiner Münzen in der massiven Hand des Barkeepers verschwunden war. „Wenn Sie auf der Suche nach einem Spiel sind: Die Spieler, für die es sich lohnt, kommen nicht vor Sonnenuntergang her.“

Die Pomade war schon längst aus meinen Haaren gewaschen, und meine Leinenweste war mit demselben Staub bedeckt, von dem meine Nase voll war, aber ich kann mir vorstellen, dass ein Barkeeper einen vom Glück verlassenen Spieler erkennt, wenn er einen sieht.

„Könnte sein“, sagte ich. „Aber ich hatte gehofft, Sie könnten mir helfen, eine Frau zu finden.“

Ich hustete, unterdrückte den Husten dann aber, um die wenigen Gäste im hinteren Teil der Bar nicht zu beunruhigen. Meine Krankheit war noch nicht völlig zum Ausbruch gekommen, aber ich spürte, wie sie sich ausbreitete und meine Eingeweide zerfraß wie eine Made, die am Fleisch eines im Winter erlegten Elchs nagt.

Die Augen des Barkeepers wurden schmal. Sein Bauch war so dick wie ein Stück Rindfleisch, seine Arme sahen aus wie Hämmer, und seine Schürze war abgenutzt und an den Säumen zerfleddert. Genau wie der Saloon vermittelte auch der Barkeeper den Eindruck, als hätte er schon bessere Tage gesehen.

„Das ist kein Hurenhaus, Fremder.“ Er schnappte sich einen Besen.

„Nein, nein. Sie verstehen das falsch.“ Ich griff in meine Tasche, ohne den Blickkontakt mit dem Barkeeper zu unterbrechen. „Mein Name ist Eddie. Eigentlich Edward. Edward Blackstone. Die meisten Leute nennen mich Blackjack Eddie.“

Bevor ich das fein säuberlich gefaltete Plakat aus meiner Brusttasche ziehen konnte, schlug mir der Barkeeper mit dem Besen heftig gegen den Kopf, sodass ich zu Boden stürzte.
Das Plakat flog mir aus der Hand und schlitterte über den Boden.

Ich besitze nur noch zwei Dinge, die von dem Leben, das ich einst führte, übrig geblieben sind: dieses Plakat und ein kleines Medaillon, das ich um den Hals trage. Beide sind für mich wertvoller als ein Sack voller Gold.

Das Medaillon und das Plakat sind mir lieb und teuer, denn sie stehen für die einzige Liebe, die mir seit meiner Kindheit und der zweitausend Meilen langen Zugfahrt nach Westen geblieben ist. Ohne sie wird ein lange zurückliegendes Versprechen unerfüllt bleiben, und ich werde wirklich allein sein in dieser Welt… und vielleicht auch in der nächsten.

***

Mein Vater kam jeden Tag pünktlich um halb fünf Uhr nachmittags nach Hause. Normalerweise hatte er ein frisches Stück Fleisch für unser Abendessen dabei und die Tageszeitung, um sich anschließend an den Geschichten darin zu erfreuen. Er hatte immer Zeit, meine jüngere Schwester Gillian und mich innig und lange zu umarmen. Vater bevorzugte niemanden, seine Zuneigung war wie alles andere in seinem Leben genau bemessen.

Er arbeitete als Buchhalter in einem Finanzunternehmen, Slade, Crothers & Leiberman, einen Block von der neuen Chemical Bank entfernt. Alles in New York City war damals hektisch, es gab neue Gebäude, und jeden Tag kamen Neulinge an. Die Stadt pulsierte vor Vibrationen aller Art – Sprache, Essen, Musik.

Es reichte, um von den Eindrücken erschlagen zu werden, aber als Kind schärfte meine Umgebung nur meine Geschmacksnerven und meine Fähigkeit, die köstlichsten Aromen wertzuschätzen. All das ist jetzt nur noch eine Erinnerung, die lediglich in Träumen und Albträumen wachgerufen wird. 

Meine Mutter gab Klavierunterricht für diejenigen, die es sich leisten konnten. Ihr Ruf war ihr aus ihrem Heimatland England gefolgt, und ihre Schöpfungen schwebten aus dem Fenster unserer Wohnung im dritten Stock wie süße gurrende Tauben.

Jeden Nachmittag war unser Wohnzimmer erfüllt vom Kommen und Gehen gutbetuchter, vornehmer und sittsamer Mädchen und ein paar zurückhaltender Jungen, während unsere Mutter sie durch die Tempi von Bach, Beethoven und Chopin führte.

Musik war das Herzstück unseres Zuhauses, aber für mich war es die meiste Zeit der unstrukturierte Lärm müde werdender Anfänger.

Wir waren keineswegs reich, aber wir mussten nicht weit schauen, um zu erkennen, wie viel Glück wir hatten. Meine Eltern hatten es nach ihrer Ankunft in Amerika zu etwas gebracht, im Gegensatz zu so vielen anderen, die sich ohne große Fähigkeiten und ohne Familie auf den schmuddeligen Straßen von New York durchschlagen mussten.

Ich habe Kojoten gesehen, die besseres Benehmen an den Tag legten als manche Leute, die frisch vom Schiff kamen.

Ich liebte die Stadt, liebte die Wärme unserer Wohnung mit den schweren Mahagonimöbeln und dicken Wollteppichen, die über den Ozean verschifft worden waren, und den wunderbaren Geschmack von Keksen und Gurkensandwiches auf silbernen Tellern zu unserem Nachmittagstee.

Aber Gillian liebte die Stadt und unser Leben noch mehr als ich. Sie war ein Wunderkind am Klavier, die beste Schülerin meiner Mutter. Sie konnte Chopsticks (1) spielen und uns alle zum Weinen bringen – aber schon mit fünf war sie darüber hinaus.

Jede Note von Chopins Zweitem Klavierkonzert f-Moll op. 21 war so voller Überschwang und Emotion, dass man glaubte, die Trommelfelle würden platzen und das Herz würde einem brechen.

Unten auf der Straße versammelten sich Menschen, um den schwungvollen Arpeggios und Themen aus verschiedenen Nocturnes zu lauschen.

Gillian war sich ihrer Gabe und der Aufmerksamkeit, die sie damit auf sich zog, nicht bewusst. Ihr Talent war für niemanden in unserem Haushalt eine Überraschung, ebenso wenig wie meine zunehmende Fähigkeit, im Kopf mit großen Zahlen zu rechnen – ein Spiel, das mein Vater und ich immer spielten, wenn wir durch die Straßen gingen, um Besorgungen für meine Mutter zu machen.

Unser Leben war ein wahrgewordener Traum.

Bis das Feuer alles vernichtete.

***

Der Fuß des Barkeepers ruhte schwer auf meinem Handgelenk. „Ich habe schon viel zu viele Derringer von Leuten wie Ihnen aus dem Nichts auftauchen sehen, als dass ich bei einem Glas Whiskey mein Leben riskieren würde.“

„Ich versichere Ihnen, Sir, ich habe nicht die Absicht, eine Waffe zu ziehen.“ Ich bemühte mich, meine Hand unter dem übergroßen Stiefel des Mannes hervor zu ziehen. Meine Brust brannte, als stünde sie in Flammen. Speichel sickerte aus meinem Mundwinkel.

Er erhöhte den Druck seines Stiefels, was mir ein scharfes Stöhnen aus der Tiefe meiner Eingeweide entlockte. Ich befürchtete, mein Handgelenk würde brechen, eine Verletzung, die sicherlich meine letzte wäre – denn mein Körper hat beschlossen, gegen sich selbst zu rebellieren.

„Lügner gibt es wie Sand am Meer. Ich habe die Narben, die das beweisen“, sagte der Barkeeper.

„Lass’ ihn gehen, Moses.“

Es war die Stimme einer Frau, die kraftvoll und fordernd von hinter mir kam. Der Druck auf mein Handgelenk verschwand sofort, als der gewichtige Mann einen Schritt zurück machte. Ich setzte mich auf, und meine Augen suchten den Boden nach dem Plakat und der körperlichen Anwesenheit meiner Retterin ab.

Meine Knochen waren unversehrt, aber der Rest an Stolz oder Hoffnung, den ich noch hatte, war mir fast völlig abhanden gekommen.

Die Frau war zwei Köpfe kleiner als der Barkeeper – Moses, nahm ich an –, aber ihre massige Statur ähnelte seiner, ebenso wie ihre Augen: schmal und dunkel wie eine mondlose Nacht, ohne Pupillen oder Gefühle. Sie war keine Ballkönigin, aber auf eine seltsame Weise attraktiv, mit feuerroten Haaren und in einem perfekt sitzenden grünen Satinkleid. Ihr Rüschenhut war dafür gemacht, sonntags durch die Straßen einer schöneren Stadt zu flanieren als derjenigen, in der ich gelandet war. Der Glanz ihrer farbenfrohen Erscheinung wirkte beruhigend wie ein Regenbogen nach einem heftigen Sturm. Sie sah seltsam fehl am Platz aus, und einen Moment lang war ich mir nicht sicher, dass sie echt war.

Als ich mich aufsetzte, faltete die Frau das Plakat auseinander und starrte mich neugierig an. „Gillian?“ flüsterte sie leise.

Ich nickte. „Ja. Kennen Sie sie?“ Ich hustete erneut, diesmal tiefer. Ich hatte das Plakat vor fünf Jahren außen an einem Saloon entdeckt, mein erster Hinweis darauf, dass Gillian noch am Leben war und berufsmäßig Klavier spielte, wie ich es immer erwartet hatte.

Sie erwiderte die Geste. „Schenk’ dem Mann etwas zu trinken ein, Moses. Wir haben einen Freund zu Gast.“

Der Schlag hatte mich geschwächt, aber die Bestätigung durch die Frau, dass Gillian hier gewesen war, gab mir einen Schub von Energie, von der ich dachte, sie sei längst verschwunden.

Ohne jede Anstrengung war ich wieder auf den Beinen.

Moses huschte mit gesenktem Kopf hinter die Bar.

„Sie müssen meinem Bruder verzeihen, Mr. Blackstone.“

„Edward. Eddie, wenn Sie das vorziehen.“

„Moses und ich versuchen, ein sauberes Geschäft zu führen, Edward. Viele halten uns für Sünder, aber das bedeutet nicht, dass wir denjenigen, die danach suchen, keine Unterhaltungsdienste anbieten können. Obwohl wir nicht vom Verkauf weiblicher Vergnügungen profitieren, profitieren wir von einer anständigen Flasche, einer ehrlichen Partie Faro und der besten Musik, die nah und fern zu finden ist. Was von unserer Kundschaft geblieben ist, weiß unsere Bemühungen zu schätzen, aber ich fürchte, unsere Tage hier sind gezählt. Diese Stadt liegt in den letzten Zügen, ebenso wie unser Geschäft. Der Teufel hat beschlossen, Anspruch auf unser Eigentum und unsere Träume zu erheben. Wir sind alle nervös. Misstrauisch gegenüber Fremden.“

„Ich hatte nicht die Absicht, jemandem zu nahe zu treten“, sagte ich.

„Moses reagiert schnell, seitdem ihm das Herz gebrochen wurde – von einer Frau mit, wie soll ich das sagen? Nächtlichen Künsten?“

„Gillian?“ Mir sank das Herz.

Die Frau lachte plötzlich, als hätte ich etwas Witziges gesagt. „Oh, nein. Es tut mir leid, wenn ich so etwas angedeutet habe.“ Sie streckte ihre Hand aus. „Mein Name ist Ruth Hathaway – oder Miss Ruth, wie Ihre Schwester mich bei unserer ersten Begegnung unbedingt nennen wollte. Bitte setzen Sie sich, Edward. Wir haben eine Menge zu besprechen.“

***

Ich leitete Gillian in den frühen Morgenstunden aus dem brennenden Wohnhaus. Rauch waberte um unsere Füße, und wir hatten nasse Hemden über unsere Köpfe geworfen. Wir dachten beide, unsere Mutter und unser Vater wären direkt hinter uns, denn sie waren es, die uns aus dem Bett geholt hatten, als das Feuer auf unsere Wohnung übergriff. Aber im Getrampel, im Chor der Schreie und im Gewirr der Hilferufe aus den oberen Stockwerken wurden wir getrennt.

Sie starben, als ein brennender Balken auf sie stürzte. Sie wurden erschlagen, und ihre Körper verbrannten bis zur Unkenntlichkeit.

Ich möchte gerne glauben, dass sie nur hinter uns zurück geblieben waren, um jemandem mit weniger Kraft und Mut Hilfe und Rettung anzubieten. Die einzigen erkennbaren Überreste ihrer irdischen Existenz waren ihre Eheringe und die beiden kleinen Goldmedaillons, die meine Mutter um den Hals trug.

Die Medaillons enthielten Bilder von Gillian und mir. Das Bild von Gillian wurde aufgenommen, als sie ein Mädchen von gerade einmal fünf Jahren war, mit goldenen Locken, die ihr über die Schulter auf einen zarten Spitzenkragen fielen – eine kostspielige Porträtaufnahme, die uns abermals daran erinnert, dass unser Leben einst erfüllt und reich war. Gillians engelsgleiche Schönheit war schon damals offensichtlich.

Seitdem habe ich das Medaillon um meinen Hals getragen. Und Gillian trägt das Medaillon mit dem Bild von mir, einer Miniaturausgabe meines Vaters, was Aussehen und Verstand angeht.

Da wir keine Verwandten hatten, wurden wir zur Children’s Aid Society (2) gebracht, kurz nachdem die Gebeine und die Asche unserer Eltern feierlich in einem Armengrab beigesetzt worden waren.

Das Feuer zerstörte alles, was sie besaßen, und obwohl mein Vater bei einem Finanzunternehmen arbeitete, gab es keine Aufzeichnungen über irgendwelche Investitionen – wir hatten kein Geld. Zumindest wurde uns das am Ende der Beerdigung von einem Mann mit schütterem Haar erzählt, dessen Atem nach Tabak roch und der als Vertreter von Slade, Crothers & Leiberman teilnahm.

Die Children’s Aid Society bot wenig Trost und mehr Schrecken, als ein Kind, geschweige denn zwei, sich vorzustellen gezwungen sein sollte.

Das Einzige, woran Gillian und ich uns festhalten konnten, waren wir selbst. Wir haben uns schon früh, nachdem unser Schock und unsere Trauer allmählich nachgelassen hatten, geschworen, zusammenzubleiben, koste es, was es wolle.

Und das haben wir getan. 

Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem wir beide den Waisenkinderzug bestiegen und aus unserer wundervollen Stadt am Hafen, die voller großer Schiffe, Menschenmassen, wunderbarer Essensdüfte und voller Erinnerungen an unsere Eltern war, fortgebracht wurden.



Nervös und ängstlich begannen wir unsere Reise Richtung Westen in ein Land, das uns karg und trocken vorkam und von Menschen bevölkert war, die sich bei unserem Anblick nur fragten, ob wir für sie von Nutzen und Gewinn sein könnten.


***

Moses stellte ein volles Glas Whiskey vor mir auf den Tisch. Miss Ruth saß mir gegenüber, ihre Körperfülle war so gewaltig, dass der Stuhl beinahe in einem Meer aus Grün verschwand. „Erzählen Sie mir von Gillian, bitte. Sie sind der erste Mensch auf meinen Reisen, der sie gekannt hat. Ist sie noch hier, in dieser Stadt?“ fragte ich.

Miss Ruth verneinte mit einem Kopfschütteln. „Es tut mir leid, Edward, sie ist seit fast zwei Jahren nicht mehr hier. Scheint schon eine Ewigkeit her zu sein, dass jemand mit soviel Finesse auf dem Klavier gespielt hat. Sie war süß wie Honig, ihre Talente überstiegen bei Weitem das Format unseres bescheidenen Hauses. Ihre Anwesenheit war ein Segen, und ich war traurig, sie weggehen zu sehen. Seitdem waren meine Taschen nicht mehr so ​​voll, und ich erwarte nicht, dass sie es jemals wieder sein werden, jetzt, wo wir am Rande des Abgrunds stehen.“

Ich lächelte, ohne Miss Ruths bekümmertes Wehklagen bei der Erwähnung ihrer gegenwärtigen Misere zu beachten. Weshalb hätte ich das auch nicht tun sollen? „Ich habe immer gewusst, dass Gillian grandios sein würde, vielleicht sogar berühmt. Sie hätte die ganze Welt bereist, wenn unsere Eltern nicht gestorben wären, als wir Kinder waren“, sagte ich.

„Anstatt für Könige und Königinnen zu spielen“, sagte Miss Ruth, „spielte sie für Leute wie Moses und mich. Während der ganzen Zeit hatte sie aus dem Augenwinkel die Tür im Blick in der Hoffnung, dass Sie herein kommen würden.“

„Sie hat auch nach mir gesucht?“

„Das tut sie immer noch, soweit ich weiß.“

Ich nahm einen Schluck von dem Whiskey. In meiner Brust begann es zu brodeln, und das Letzte, was ich wollte, war, einen Hustenanfall zu bekommen.

Die Neuigkeiten über Gillian waren ein Elixier, eine Salbe, die jeden Gedanken an meine Krankheit linderte. Ich wollte die Tasten des Klaviers berühren, die sie berührt hatte, und mich ihr nahe fühlen, die Wärme ihrer Berührung spüren, die Gemeinsamkeit unseres Blutes und unserer Erinnerungen teilen, die meinem Leben schon so lange fehlten, aber ich konnte mich nicht bewegen. Ich war schwach und hatte Angst, ich würde ein Wort von Miss Ruths Geschichte über meine lange vermisste Schwester verpassen. 

„Sie kannte Ihren Ruf“, fuhr Miss Ruth fort. „Wusste, dass Sie selbst eine gewisse Berühmtheit erlangt haben. Aber Sie sind zu oft von einem Ort zum nächsten gezogen, als dass sie Sie hätte einholen können. In Dodge City hat sie Sie um zwei Tage verpasst. Sie hat alle sechzehn Saloons durchsucht, bis ihr schließlich jemand im Long Branch von Ihrem Gewinn bei einem Kartenspiel dort erzählte.“ 

„Blackjack Eddie? Sie wusste, dass ich ein Spieler bin?“

„Sie scheinen überrascht zu sein.“

„Mein Vater würde sich schämen, dass ich meine Fähigkeiten zu unredlichen Zwecken eingesetzt habe.“

„Überleben ist nicht unredlich.“

„Hmm, aber betrügen schon.“

„Gillian hat mir von Ihren Fähigkeiten erzählt, also denken Sie bitte daran, dass Sie hier kein Kartenspiel anfangen werden. Meine Finanzdecke ist dünn genug.“

„Meine Tage als Spieler sind fast zu Ende“, sagte ich. „Meine Taschen sind leer, und ich habe den Willen verloren, meinen Ruhm zu bewahren. Ich habe Gillian versprochen, dass ich sie holen werde, und ich hoffe, dass ich dieses Versprechen halten kann. Wissen Sie, wohin sie gegangen ist?“

„Ja“, sagte Miss Ruth. „Das weiß ich.“

***

Wir erfuhren erst am Tag davor, dass wir abreisen würden. Es war ein Bad am Montag, das uns warnte. Natürlich hatten wir bis dahin schon viele Kinder die Einrichtung der Children’s Aid Society vor uns verlassen sehen. Sie verschwanden, als hätten sie nie existiert, ohne dass eine Spur von ihnen zurückblieb. Unsere Angst, die von Gillian und meine, war, dass wir getrennt werden würden; dass nur einer oder eine von uns nach Westen geschickt würde, während die oder der andere in New York zurückblieb.

Von dem Schicksalsschlag der Trennung blieben wir verschont, wenn auch nur vorübergehend, als wir beide neue Kleidungsstücke auf unseren Betten vorfanden und man sich nach unserem „besonderen“ Bad um unsere Haare kümmerte, als wären wir Schaufensterpuppen. Am nächsten Tag wurden wir zum Bahnhof getrieben und unter den wachsamen Augen des Agenten, der für die Verteilung zuständig war und uns begleiten sollte, in den Waisenkinderzug geschoben. Der Name des Mannes ist mir entfallen, aber er hatte, überfordert von den etwa vierzig elternlosen und verwahrlosten Bälgern, die ihm anvertraut waren, ein dünnes Nervenkostüm und war bösartig.

Der Reiz des Neuen, der mit der Zugfahrt verbunden war, war bald verflogen. Wegen der unerbittlichen Sommerhitze war es drinnen erbärmlich heiß. Die Sitze waren dünn und unbequem, und was noch schlimmer war: Der Waggon war erfüllt von dem Geruch der Galle, der von den Kindern stammte, die unter dem ständigen Schaukeln des Waggons litten. Gillian litt weitaus schlimmer als ich.

Wir hielten uns ständig an den Händen.

„Versprich mir, dass wir immer zusammen bleiben“, sagte Gillian, kurz nachdem wir den Mississippi überquert hatten.

Unsere Eltern waren seit fast drei Jahren tot. Gillian war zehn Jahre alt, und so wie ich ein Spiegelbild meines Vaters war, kam Gillian nach ihrer Mutter. Ich konnte ihr nicht in die Augen sehen, ohne am Liebsten weinen zu wollen.

„Ich verspreche es.“

Seit dem Tag des Brandes waren wir beide betrogen, bestohlen und belogen worden. Ich war mir nicht sicher, dass ich mein Versprechen ihr gegenüber noch länger halten konnte, aber ich konnte es nicht ertragen, sie ängstlich zu sehen.

Sie lehnte ihren Kopf an meine Schulter, die goldenen Locken waren jetzt glatt und ohne jede Spur von Glanz. Schon damals wirkte Gillian zerbrechlich, der Brand und die Qual der Einsamkeit ließen sie nicht los.

Ich konnte nur hoffen, dass das Zuhause, in das wir kamen, friedlich und unsere neuen Eltern verständnisvoll und freundlich sein würden. Alles musste besser sein als das Leben in der Einrichtung, die zweitausend Meilen hinter uns lag – zumindest dachte ich das damals.

Zum Schlafen kamen wir nur sporadisch, und bei jedem Halt lagen unsere Nerven blank. Keiner wusste, wie lange es dauern würde, bis wir in Kansas ankamen. Jedes Mal, wenn die Bremsen quietschten, umklammerte Gillian mit aller Kraft, die sie hatte, meine Hand – aus Angst, dass wir unser endgültiges Ziel erreicht hatten.

Ich kann immer noch den Schmerz ihrer Berührung spüren, wenn ich meine Hände zusammenpresse.

***

Miss Ruth sagte: „Gillian hat mich gebeten, Ihnen zu sagen, dass sie nach Silent Hill gehen und dort auf Sie warten wird. Sollte das Warten zu lange dauern, wird sie im Saloon eine Nachricht über ihren Verbleib hinterlassen, so wie sie es hier getan hat.“

„Silent Hill“, brachte ich hervor, kaum fähig, den Namen der Stadt laut auszusprechen.

„Ich fürchte, Gillian ging es genauso. Aber sie dachte, Sie würden sie vielleicht dort suchen.“

„Ich habe geschworen, niemals dorthin zurückzukehren.“

„Ich habe versucht, sie zum Bleiben zu überreden. Aber sie hat ihren eigenen Kopf.“

„Sie war gut für Ihr Geschäft.“

„Es war mehr als das“, sagte Miss Ruth. Sie biss die Zähne zusammen, nachdem sie die Worte ausgesprochen hatte, wodurch sie ihr üppiges Gesicht zwang, sich so fest zusammenzuziehen, dass ihre leblosen Augen hervorquollen.

„Es tut mir leid, ich wollte Sie nicht beleidigen, Miss Ruth. Meine Schwester und ich sind schon so lange ohne festes Zuhause, dass Zynismus zur Regel geworden ist.“

„Ich habe mir Sorgen um Ihre Schwester gemacht. Sie war wie ein Kanarienvogel mit einem gebrochenen Flügel. Ich habe nie eigene Kinder gehabt, daher fällt es mir nicht leicht, Liebe zu geben. Moses war immer mein Beschützer, mein engster Vertrauter. Ich habe die Leere in ihr sofort gespürt.“

Ich lehnte mich in meinem Stuhl zurück und musterte Miss Ruth. Sie war angespannt, ihr Blick war auf die Tür gerichtet, weg von mir. Zum ersten Mal seit Beginn unseres Gesprächs hatte ich das Gefühl, dass sie mir nicht alles erzählte, dass sie etwas verheimlichte. Mein Instinkt als Spieler warnte mich, dass etwas nicht stimmte – dass es an der Zeit war, vom Tisch aufzustehen, bevor ich alles verlor, was ich hatte.

Ich war mir nicht sicher, wo ich mich befand und wie weit ich umhergeritten war, bevor ich über Miss Ruths Saloon gestolpert war.

„Wie weit ist es von hier bis Silent Hill?“ fragte ich, während ich meinen Stuhl zurückschob, um aufzustehen.

„Ein Tagesritt ungefähr, genau nach Norden“, sagte Miss Ruth. „Warum ruhen Sie sich nicht über Nacht aus, bevor Sie sich auf den Weg machen? Im Lagerraum gibt es eine Pritsche, und eine gute Mahlzeit würde Ihnen auch nicht schaden.“

Der Gedanke, wieder in den Sattel zu steigen, gefiel mir nicht sonderlich, zumindest nicht körperlich. Ich war mir nicht sicher, ob ich die Kraft für den Ritt hatte. Aber zu wissen, dass Gillian in der Nähe war und dass ich eine Witterung ihrer Spur aufgenommen hatte, machte mein Herz froh, auch wenn ich wegen Miss Ruths Absichten beklommen war.

Ich machte es mir wieder auf dem Stuhl bequem, angetan von dem Gedanken an etwas zu essen. „Dann also morgen früh.“

„Gut“, sagte Miss Ruth. „Aber ich muss Sie um einen Gefallen bitten, bevor Sie weggehen.“

„Einen Gefallen?“ Mein Glück hatte mich ganz und gar verlassen, und für Gefälligkeiten hatte ich nichts mehr übrig – aber Miss Ruth hatte mir etwas gegeben, wonach ich mich gesehnt hatte, ein kleines Stück Hoffnung, dass Gillian noch auf dieser Erde wandelte. Trotz diesem Geschenk war ich immer noch misstrauisch.

Die Tür des Saloons wurde aufgestoßen, und ein plötzlicher Windstoß wehte um meine Knöchel. Ein kalter Schauer, der nichts mit Fieber zu tun hatte, lief mir den Nacken hinauf. Ich folgte Miss Ruths Blick zur Tür.

Als ich den Kerl in den Saloon schreiten sah, tadellos gekleidet und mit frischer Pomade, die ihm einen selbstbewussten Glanz verlieh, der bis hinunter zu seinen auf Hochglanz polierten Stiefeln reichte, da wusste ich, welch ein Gefallen es war, um den Miss Ruth bat. 

Sie wollte von meinen Fähigkeiten profitieren, genau wie sie von denen Gillians profitiert hatte. Ich kannte den Gentleman, und der Gentleman kannte mich.

Mysterious John Harvey und mich verband eine lange Geschichte.

Wenn mein Instinkt noch intakt war, dann sagte mir etwas, dass für mich weit mehr auf dem Spiel stand als ein Satz saubere Bettwäsche und ein Stück gut gegartes Fleisch.

***

Es hatte gerade aufgehört zu regnen, als der Zug seine letzte Haltestelle erreichte.

Wir waren noch zwölf Jungen und nur noch ein Mädchen, Gillian, im Zug. Die übrigen aus unserer Gruppe von Waisenkindern der Children’s Aid Society hatten ihr neues Leben bereits bei verschiedenen Halten im Bundesstaat Kansas begonnen. Ich konnte nur hoffen, dass ihre Reise – und auch unsere – ein glückliches Ende nehmen würde.

Ein knarrendes Schild, das im unablässigen kalten Wind schaukelte, setzte uns darüber in Kenntnis, dass wir in Silent Hill, Kansas, angekommen waren.

Der für die Verteilung zuständige Agent führte uns im Gänsemarsch durch die Hauptstraße der Stadt. 

Silent Hill hatte keinerlei Ähnlichkeit mit New York City oder irgendeinem anderen Ort, wie Gillian und ich ihn gewohnt waren. Schlammige Straßen. Einstöckige Holzhäuser, die dünn gesät und verwittert waren. Der Himmel erstreckte sich weiter, als ich es mir jemals hätte vorstellen können – grau und düster, voller wogender, brodelnder Regenwolken, die unendlich weit zu reichen schienen.

Selbst mitten am Tag herrschte in der Stadt eine unheimliche Stille, ein Fehlen jeglicher menschlicher Aktivität. Das einzige beständige Geräusch war das Heulen des Windes. Er fühlte sich stark genug an, um uns umzuwerfen oder in ein Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus zu wehen.

„Ich mag diese Stadt nicht“, sagte Gillian.

Ich konnte meine Finger kaum noch spüren, so fest drückte sie meine Hand.

„Es ist nicht so schlimm“, log ich.

Vor dem Opernhaus drängte sich eine Menschenmenge. Sie teilte sich schweigend, als wir näher kamen.

Als wir vorbeigingen, ließ ich meinen Blick durch die Menge wandern in der Hoffnung, ein freundliches Gesicht, ein Nicken, ein Zeichen des Erkennens von jemandem zu entdecken, der mir bekannt vorkam. Mir ist jetzt klar, dass ich nach Liebe suchte, zumindest nach einem Hauch davon. Warum sollte jemand in die Adoption eines unbekannten Kindes aus zweitausend Meilen Entfernung einwilligen, wenn nicht Liebe in seinem Herzen war?

In den Augen derer, an denen wir vorbeikamen, sah ich nur Furcht und Abschätzen. Liebe war eine Erinnerung, die verloren gegangen war und niemals wirklich wiedergefunden werden sollte.

Ich sollte ein Arbeitstier sein, ein Arbeiter, ein Körper, um den man sich kümmerte, als wäre er nichts anderes als ein Tier, das man leicht einschläfern und ersetzen konnte.

Mein kindliches Bestreben nach Trost und Verständnis starb ab, als ich auf die Bühne in diesem Opernhaus trat – aber damals wusste ich es nicht und konnte es mir auch nicht vorstellen. Ich glaubte immer noch an das Gute in den Menschen… und in mir selbst.

Wir standen da wie Vieh und sahen uns einer Menge von Fremden gegenüber, deren Anwesenheit unser Leben für immer zu verändern versprach. 

Der Verteilungsagent, der noch wütender und erschöpfter aussah als schon bei unserer Abreise aus New York City, gesellte sich zu drei Männern und einer Frau. Sie sprachen in leisem Ton und deuteten auf die Menge. Die drei Männer und die Frau waren offensichtlich Mitglieder des Komitees in Silent Hill, das potenzielle Familien ausgewählt hatte, um uns aus hoffnungslosen Verhältnissen zu adoptieren.

Einer der Männer, schwarz gekleidet und nicht dicker als ein Zweig, verkündete: „Die Kinder stehen jetzt zur Besichtigung zur Verfügung.“

Der Verteilungsagent nickte zustimmend.

Langsam löste sich die Menge auf, und Leute kamen neugierig auf uns zu. Einige untersuchten unsere Ohren, um zu sehen, ob sie sauber waren. Ein Mann packte meinen Arm und drückte so fest zu, wie er konnte, um die Stärke meiner Muskeln zu messen.

Ich riss meinen Arm weg und obwohl ich nahe daran war, den Mann anzuspucken, unterdrückte ich den Drang. Ich wollte mich nicht in ein schlechtes Licht rücken. Ich wusste mich zu benehmen und hoffte, dass mein Unbehagen darüber, gestoßen und gepiekst zu werden, mich nicht dazu bringen würde, meine Manieren zu vergessen.

Der Mann ging schließlich weiter, obwohl er mich beäugte, als hätte er vielleicht gefunden, wonach er suchte.

Gillian stand hinter mir und zitterte.

Angst hat einen metallischen Geschmack – und die Luft war erfüllt von Waffenmetall, Eisen und verborgenen Tränen. Jedes Mal, wenn mich jemand berührte, hätte ich mir fast in die Hose gemacht.

Eine in Witwentracht gekleidete Frau blieb vor mir stehen. Der Verteilungsagent war zwei Schritte hinter ihr.

„Na“, sagte die Frau. „Du bist aber ein hübscher kleiner Kerl!“

Ich traute meinen Ohren kaum.

Mit ihrem echten englischen Akzent klang die Frau genau wie meine Mutter. Ganz in Trauerkleidung wirkte die Frau nicht nur, wie es sich gehörte, sondern es lag auch eine Sanftheit in ihren Augen, die mein Herz dahinschmelzen ließ. Ich konnte fast ein Gurkensandwich schmecken.

Gillian lugte hinter mir hervor.

„Und du musst das Mädchen sein, von dem ich so viel gehört habe“, sagte die Frau, und ein Lächeln erschien auf ihrem Gesicht wie ein Sonnenstrahl, der hinter einer dunklen Wolke hervorblinzelt. „Mir wurde zugetragen, dass du wunderbar Klavier spielst. Ist das wahr?“

„Jawohl, Ma’am“, flüsterte Gillian.

„Ach, das ist herrlich. Einfach herrlich. Ich habe ein Klavier in meinem Wohnzimmer. Möchtest du mitkommen und es dir ansehen?“ Die Frau streckte ihre Hand aus, an ihrem Finger steckte immer noch ein goldener Ring.

„Ja.“ Gillian hatte seit dem Abend vor dem Tod unserer Eltern kein Klavier mehr berührt. Sie nahm die Hand der Witwe und sah mich über ihre Schulter an. „Was ist mit Edward?“

Genau da bemerkte ich den Mann, der meinen Arm gedrückt hatte, hinter dem Verteilungsagenten stehen. Der Geschmack von Gurkensandwiches wurde aus meinem Mund gespült und durch Eisen und Waffenmetall ersetzt.

„Es tut mir leid. Ich habe nur Platz für eins.“

Gillians Schreie klangen wie der Wind am schlimmsten Tag in Kansas. Ihre Augen waren voller Angst und Tränen, als sie zum letzten Mal aus meinem Blickfeld verschwand, während sie sich Mühe gab, dem Griff der Witwe zu entkommen.

Der Verteilungsagent und der Mann, der mein Adoptivvater und Peiniger werden sollte, hielten mich fest, als ich mich vergeblich anstrengte, Gillian zu erreichen. Es war das Ende von allem, was ich kannte – und der Beginn einer noch erbärmlicheren Existenz. 

„Ich komme dich holen, das verspreche ich!“ schrie ich Gillian hinterher. „Ich komme dich holen.“

Aber ich konnte nicht. Ich war ein Gefangener auf einer Farm in Silent Hill, wurde mit Haferschleim gefüttert und mit einem Gürtel geschlagen, wenn ich nicht tat, was ich tun sollte, oder Wilmer Beatty, dem gemeinsten Mann der Welt, Widerworte gab. Obwohl ich aufgehört hatte, an Gott zu glauben, betete ich jede Nacht, dass Gillians Leben besser war als meines.

Ich floh, als ich siebzehn war, und da man mir nicht gesagt hatte, wo sich das Heim der Witwe befand, bin ich seitdem auf der Suche nach Gillian.

***

Mysterious John Harvey setzte sich mir gegenüber an den Tisch. „Ich habe gehört, du wärst tot“, sagte er.

„Komisch. Dasselbe habe ich auch über dich gehört.“

Harvey gab Moses ein Zeichen, an den Tisch zu kommen. Miss Ruth stand jetzt an der Bar und beobachtete uns beide voller Beklommenheit. Mysterious John Harveys Auftritt hatte sie unterbrochen, bevor sie sagen konnte, worum genau es bei dem Gefallen ging

„Einen Whiskey für mich und meinen Freund.“

„Ich habe genug“, sagte ich.

„Also ein Spiel? Wenn ich mich recht erinnere, hast du bei unserem letzten Treffen den Tisch verlassen, bevor ich die Chance hatte, deine Taschen leer zu machen.“

„Jetzt sind meine Taschen leer.“ Unser letztes Treffen war vor hundert Meilen, als die Glücksgöttin und mein Körper sich zum letzten Mal gegen mich stellten und ich zu schwach war, um die Karten zu zählen. Ich irrte tagelang umher, mal bei Bewusstsein und mal nicht, mal hier und mal dort, als ich in einer der Städte hörte, dass Mysterious John Harvey ganz in der Nähe von Dodge City – mit einem Ass im Ärmel – beim Betrügen erwischt und erschossen worden war.

Moses stellte einen Whiskey vor Harvey hin. „Nein“, sagte er zu mir, „das sind sie nicht. Er spielt für das Haus, Mr. Harvey.“

Ein Lachen entfuhr Mysterious John Harveys zusammengepresstem Mund. „Du hast nicht mehr viel zu verlieren, Ruth. Der Laden gehört mir, wenn Blackjack Eddies Glück so miserabel ist, wie es aussieht. Bist du sicher, dass du das Risiko eingehen willst, alles auf einen Fremden zu setzen?“

„Er ist kein Fremder“, sagte Miss Ruth.

„Sehr gut. Eddie?“

Ich starrte Harvey an, wohl wissend, dass er alles tun würde, um zu gewinnen. Ich musste mich fragen, ob ich der Herausforderung gewachsen war, auch wenn ich mir darauf etwas einbilden konnte. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf Miss Ruth. „Also, wenn Mysterious John gewinnt, gehört Ihr Geschäft ihm? Was habe ich zu gewinnen?“ 

Ehe Miss Ruth antworten konnte, ließ Moses ein Kartenspiel zwischen Harvey und mich fallen. „Ihre Freiheit“, sagte er und kramte eine Handvoll Chips aus seiner Schürze.

Mein Gesicht muss einen erstaunten Ausdruck gezeigt haben, denn Harvey brach in Gelächter aus. „Sieht nach einem Spiel mit hohen Einsätzen aus. Stud Poker?“

„Es tut mir leid, Edward. Ich hätte es Ihnen sagen sollen. Gillian hat unsere letzten Aussichten mitgenommen. Sie sind unsere einzige Hoffnung. Sie müssen bleiben, um Gillians Schulden zu begleichen.“

Ich holte tief Luft. Ich verstand die Situation nicht völlig, außer dass ich wusste, dass ich spielen musste. Und ich musste gewinnen, um zu begleichen, worin auch immer die Schulden meiner Schwester bestanden. „Einverstanden“, sagte ich, „Stud Poker.“

Die Zeit schien stillzustehen. Das Licht draußen veränderte sich nicht, und falls doch, hätte ich es nicht bemerkt. Ein Mann im Hintergrund ging zum Klavier und begann That Old Gang of Mine (3) zu spielen. Ich hatte ihn vorher nicht bemerkt, er schien aus dem Nichts aufzutauchen.

Unsere Stapel blieben mehrere Spiele lang gleich hoch, bis sich das Glück wendete und Mysterious John Harvey mehrmals hintereinander gewann. Ich hatte den Verdacht, dass er betrog. Er wusste, dass ich mitzählte, aber mit meinem vernebelten Verstand ergab das, was ich mir merkte, keinen Sinn, also gab ich den Versuch auf.

„Zieh deine Weste aus, Harvey. Ich will deine Ärmel sehen.“

Miss Ruth und Moses trieben sich hinter mir herum, als würde ich ein Baby zur Welt bringen. Mein Whiskeyglas war nie leer.

Harvey tat nicht, worum ich ihn bat, sondern starrte mich wütend an und teilte aus. „Das ist ein sauberes Spiel, Eddie.“

Meine erste offene Karte (4) war eine Kreuz-Acht. Die verdeckte Karte war eine Herz-Dame. Ich hatte keine andere Wahl, als zu setzen. Ich wurde von Augenblick zu Augenblick schwächer. Die nächste Karte, die aufgedeckt wurde, war ein Pik-Ass. Ich setze die Hälfte meines Stapels. Harvey tat dasselbe. Er zeigte ein Paar Könige. Meine Gewinnchancen waren gering, und das wussten wir beide.

Die nächste Karte, die Harvey mir offen gab, war eine Karo-Acht. Ich setzte noch einmal die Hälfte, woraufhin Harvey dasselbe tat und dreimal erhöhte, bis ich nur noch einen Chip übrig hatte. Ich atmete schwer ein und aus, und meine Sicht begann zu verschwimmen.

Die letzte ausgeteilte Karte war ein Herz-Ass. Harvey zeigte ein Paar Könige, ein Kreuz-Ass und eine Karo-Zwei. Ich ließ ihn nicht aus den Augen. Der Klavierspieler hörte auf zu spielen. Stille breitete sich im Raum aus, als ich meinen letzten Chip warf, mitging und meine Karten umdrehte. Asse und Achten.

„Das Blatt des toten Mannes“, flüsterte Harvey (5).

„Zieh deine Weste aus, Harvey“, wiederholte ich, während ich meine Hand unter den Tisch schob und nach dem Derringer in meinem Stiefel griff.

Diesmal kam Mysterious John Harvey der Aufforderung nach. Aus seinem Ärmel fiel ein Pik-Ass auf den Tisch. Ich witterte einen vertrauten Geruch, Eisen – Angst, dachte ich, bis ich das Einschussloch und den Blutfleck auf Harveys Hemd sah, direkt unter seinem Herzen. Er lächelte mir zu und nickte, womit er bestätigte, was ich befürchtet hatte, seit ich mit dem Spiel begonnen hatte. Gegen einen toten Mann würde mir meine Waffe nichts nützen.

Da wurde mir klar, dass die Tuberkulose mich irgendwie erwischt und meine Lungen ein letztes Mal geflutet hatte. Ich konnte nur nicht sagen, wann – irgendwo auf meinem Ritt, auf dem staubigen Weg, bevor ich in Miss Ruths Saloon stolperte. Tot, auch wenn ich es nicht wusste.

Harvey drehte seine Karte um, insgesamt hatte er ein Paar Könige, ein Kreuz-Ass, eine Karo-Zwei und eine Pik-Zwei. Ich vermutete, dass er vorhatte, das Pik-Ass hinein zu schmuggeln, bis er meines sah. Das hatte er schon einmal getan.

„Wie heißt diese Stadt?“ fragte ich und versuchte aufzustehen.

„Purgatory“, sagte Miss Ruth (6). „Sie sind in Purgatory.“

***

Als ich in Silent Hill ankam, trug der Wind Klaviermusik zu mir. Das Opernhaus sah aus, als hätte es einen neuen Anstrich erhalten, die Straßen waren sauber, frei von Schlamm, und der Himmel war kristallklar. Saphirblau. Die Farbe von Gillians Augen. Ich hätte nie gedacht, dass Silent Hill wie der Himmel aussehen würde, falls es so etwas gab.

Sobald ich Miss Ruth und Moses in Purgatory zurückgelassen hatte, fühlte ich mich wie neugeboren und frei von Schmerzen. Mysterious John Harvey blieb und musste seine Schulden begleichen – ich bin mir nicht sicher, worin seine Buße bestand. Meine hatte darin bestanden, sauber zu spielen und zu gewinnen, ohne zu betrügen.

Ich konnte mich nicht zurückhalten, als ich den Saloon betrat. Gillian saß am Klavier und spielte Chopin. Sie drehte sich um und sah mich an, die blonden Locken fielen ihr über die Schulter, ein Leuchten umgab sie, das ich meiner Erinnerung nach nur bei ihr gesehen hatte, als sie ein Kind gewesen war. Sie flog mir förmlich entgegen, und ihre Umarmung war warm und überglücklich. Tränen liefen ihr über die Wangen.

„Ich habe auf dich gewartet“, sagte sie freudestrahlend.

„Ich weiß. Es tut mir leid, dass ich so lange gebraucht habe.“

Wir standen eine gefühlte Ewigkeit da und sahen uns an. Der Tod hatte auch sie geholt, irgendwie, irgendwo. Offensichtlich hatte sie eine Schuld zu begleichen – nur so war ihre Anwesenheit in Purgatory zu erklären. Ich quoll über vor Fragen über ihr Leben.

Nach einem Moment ergriff Gillian meine Hand. „Komm, wir müssen gehen.“

In diesem Moment hörte ich das Pfeifen des Zuges und spürte ich das Donnern der Lokomotive, die in die Stadt fuhr.

„Wohin fahren wir?“ fragte ich.

„Nach Hause“, sagte Gillian mit einem Lächeln. „Zurück in unsere Stadt. Zusammen. Für immer.“



** reprinted with permission from Larry D. Sweazy and Cherry Weiner Literary Agency - cwliteraryagency@gmail.com **
© für die deutsche Übersetzung: Reinhard Windeler, 2025

Wir danken dem Autor sowie der Cherry Weiner Literary Agency für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung dieser Übersetzung und außerdem dem Autor für das ausdrückliche Einverständnis mit dem Titel, den die Geschichte in der hiesigen Version erhalten hat.

Der Link zur Homepage des Autors: https://larrydsweazy.com/



Fußnoten
(1) Chopsticks ist ein einfacher Walzer für Klavier aus dem Jahre 1877, komponiert von der damals 15-jährigen Schottin Euphemia Allen (1861 – 1949).
(2) Die Children’s Aid Society ist ein Kinderhilfswerk, das 1853 in New York City gegründet wurde, seitdem ununterbrochen besteht und dessen Name erst kürzlich (2017) zu Children’s Aid verkürzt wurde.
(3) That Old Gang of Mine stammt tatsächlich erst aus dem Jahre 1923.
(4) Stud Poker ist eine Poker-Variante, bei der den Spielern einige offene und einige verdeckte Karten zugeteilt werden.
(5) Als „The Dead Man’s Hand“ wird das Blatt bezeichnet, das Wild Bill Hickok in der Hand gehalten haben soll, als er 1876 hinterrücks am Kartentisch erschossen wurde.
(6) Purgatory (englisch) = Fegefeuer (deutsch)