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Montag, 3. März 2025

STORY: Blutige Berge (John F. Cooper)


Blutige Berge
- Eine Mountain-Men-Story -

von John F. Cooper



Mario Ulbrich wurde 1964 geboren. Er schreibt Western sowie Action -Romane in unterschiedlichen Genres und ist zudem als Verfasser von Sachbüchern hervorgetreten. Über die frühe - einst unter dem dem Pseudonym John F. Cooper erschienene Western Story notiert er hier in einer eigens fürs AKWA Journal verfassten Vorbemerkung:


Der Weg nach Westen


Die nachfolgende Short-Story hat eine etwas eigentümliche Publikationsgeschichte hinter sich. Sie ist in zwei verschiedenen Fassungen gedruckt wurden, aber nie in der ursprünglichen. (Wobei sich die Änderungen auf jeweils ganz wenige Anpassungen beschränkt haben. Der Unterschied bestand vor allem in der Rolle, welche die Story spielte.) Der eine oder andere Western-Leser, der meine Romane kennt, wird das vielleicht registriert haben. Da sich manche Leser für verschiedene Bearbeitungen einer Geschichte interessieren, möchte ich hier ein paar Worte dazu verlieren.

Als ich im Jahr 2012 meinen ersten Mountain-Men-Roman „Wind River Gold“ als Selfpublisher herausbrachte, war die Geschichte ein Kapitel im Mittelteil des Romans. Meine Helden Jedediah Jones und Malcolm McGruder hatten gerade einen harten Kampf hinter sich. Am Lagerfeuer erzählte Jed dem Greenhorn Mel, wie er zu einem Mountain Man geworden ist. Im veröffentlichten Roman fehlte das Kapitel dann. Obwohl es mir gefiel, habe ich es gestrichen, weil es meiner Meinung die Handlung ausbremste, die gerade wieder in Fahrt kam. Wegwerfen wollte ich es nicht, weshalb ich es später als Werbemaßnahme für den Roman als kostenlosen Download anbot. In der Print-Ausgabe war sie als Bonus enthalten.

Als der BLITZ-VERLAG vor einigen Jahren meine Mountain-Men-Saga um Jed und Mel neu veröffentlichte, mussten die ursprünglichen Romane, die zu dick für BLITZ-Taschenbücher waren, gesplittet werden. „Wind River Gold“ erschien nunmehr in zwei Bänden (der zweite heißt „Der goldene Fluss“). Das war meine Chance, die Geschichte von Jeds Weg in die Berge wieder zu integrieren.

An der ursprünglichen Stelle in der Mitte der Handlung hätte sich aber das alte Problem ergeben: Das Tempo wäre unnötig verlangsamt worden. Deshalb habe ich die Geschichte in der BLITZ-Ausgabe dorthin gestellt, wo sie chronologisch hingehört: An den Anfang.

Dabei ergab sich ein neues Problem, denn dort stand bereits ein Prolog. Dieser erzählte eine Geschichte über Konquistadoren auf der Suche nach den Goldenen Städten von Cibola. Da dieser Handlungsstrang erst in der zweiten Hälfte von „Wind River Gold“ wieder aufgegriffen wird, war es naheliegend, diesen Prolog an den Anfang des zweiten Bandes „Der goldene Fluss“ zu versetzen.

Unterm Strich kann man also sagen, dass „Wind River Gold“ nie so erschienen ist, wie ich es ursprünglich geschrieben hatte. Aber das war aus meiner Sicht die richtige Entscheidung. Und nun viel Spaß in den blutigen Bergen! Vielleicht möchte der eine oder andere Leser Jed danach kennenlernen. Die Romane bei BLITZ sind noch immer erhältlich. (Mario Ulbrich)

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Jedediah Jones zählte noch keine zwanzig Lenze, als er den Mann traf, der ihm Freiheit und Entbehrungen brachte. Das, was er einst sein Leben nennen würde.

Das Land außerhalb der Städte dehnte sich zu jener Zeit schier endlos und einsam bis zum Horizont, und dahinter erneut bis zum Horizont, immer weiter, und niemand wusste, wo es aufhören würde. Der ferne Westen war nur eine Legende. Es hieß, irgendwo jenseits der Berge gebe es ein fruchtbares Paradies, in dem an dreihundertfünfzig Tagen im Jahr die Sonne vom Himmel brannte. Trotzdem gediehen dort saftige Früchte, so groß, dass ein halbes Dutzend von ihnen einen Korb füllte, und es gab Wild im Überfluss, fett und träge und so leicht zu erlegen, dass man sich viele Kugeln sparte, weil man seine Beute mit bloßen Händen vom Boden pflücken konnte.

Aber niemand wusste, wie man über die Berge kam, und die wenigen Männer, die es versucht hatten, waren nicht zurückgekehrt. Erst im letzten Jahr war eine kleine Gruppe aus St. Louis nach Westen aufgebrochen: Entdecker, Jäger, Abenteurer. Man hatte nie wieder etwas von ihnen gehört.

„Natürlich nicht“, lärmte einer der Geschichtenerzähler im überfüllten Schankraum des Saloons, in dem der Waisenjunge Jedediah als Tellerwäscher, Spucknapfreiniger und Laufbursche arbeitete. „Natürlich nicht. Würdet ihr das Paradies verlassen, wenn ihr es gefunden habt?“

Das war ein gutes Argument. Die Männer, die sich bei Bier und Whisky im verräucherten Saloon die Köpfe heißredeten und über Möglichkeiten nachsannen, ihr Los als Verladearbeiter an den Flussdocks von St. Louis zu verbessern, nickten beifällig. Das westliche Paradies existierte, und eines Tages würden sie selbst dorthin gehen.

Nur einer widersprach. Ein stämmiger Ire mit roten Haaren und einem Bart von der Wildheit eines Präriebrandes.

„Sie sind alle tot.“

Die Stimme des Rothaarigen klang beiläufig, aber er sprach mit der Bestimmtheit eines Mannes, der wusste, wovon er redete. Er setzte sein Glas geräuschvoll ab und widmete sich seiner Pfeife.

„Tot, sagst du? Woher willst du das wissen?“

Die Männer vom Fluss mochten es nicht, wenn man ihnen die Träume zerredete.

„Ich habe ihre Skalpe gesehen, am Bighorn River, in einem Lager der Blackfeet.“

„Der Bighorn River?“

„Ein Fluss, der sich unter einem hohen Berg windet. Er liegt nicht mal auf der Hälfte des Weges in euer Land, wo immer die Sonne brennt.“

Der Ire trug Hosen aus speckigem Hirschleder, derbe Stiefel und einen Mantel aus grob gewebtem Stoff. Vor ihm auf dem Tisch lag eine Pelzkappe.

„Wer ist er?“, fragte Jedediah den Saloonkeeper.

„Ach, der“, erwiderte der schwitzende Wirt. „Sieh lieber zu, dass du die Gläser spülst.“

„Wie heißt er?“

„Man nennt ihn Old Reddy. Er ist Fallensteller. Kommt und geht wie er will. Und nun geh an die Arbeit.“

Old Reddy war schon damals alt. Keiner wusste genau wie alt, aber es war alt genug, dass die Dockarbeiter sein Wort gelten ließen, ohne einen Streit vom Zaun zu brechen.

„Du meinst“, sagte der Geschichtenerzähler versöhnlich, „die Rothäute töten alle Weißen, die die Berge überqueren?“

„Nein, mich haben sie nicht getötet. Aber wenn ich es mir recht überlege, will ich ja auch nicht über die Berge.“

Einer der Lastenträger, ein ungeschlachter Mann mit dem Brustkorb eines Bullen und einem Gesicht voller Grützbeutel, begehrte auf: „Mein Schwager ist letztes Jahr mit den anderen in die Berge gegangen. Er ist ein guter Schütze. Ihn haben die Rothäute nicht erwischt.“

„Mag sein“, entgegnete der Fallensteller ruhig. „Vielleicht hat ihn ein Bär gefressen oder ein Wolfsrudel, oder er ist von einer Klippe gestürzt.“

„Mein Schwager ist ein hervorragender Kletterer.“ Die Grützbeutel im Gesicht des Hünen schienen anzuschwellen.

„Manchmal erfrieren die Männer dort draußen einfach zwischen den Felsen. Sie legen sich für ein Nickerchen auf den Boden, und wenn sie aufwachen, sind sie festgefroren. Sie können sich nicht losreißen ohne das halbe Gesicht zu verlieren. Das riskieren sie nicht, und deshalb sterben sie.“

Mit einem Wink bestellte Old Reddy ein frisches Bier. Jedediah überschlug sich fast vor Eifer, es ihm zu bringen. Das war die Gelegenheit, näher an den Mann aus den Bergen heranzukommen, der so faszinierende Geschichten zu erzählen wusste. Jedediah hasste die Arbeit im Saloon. Er träumte von einem Leben weit weg von St. Louis, wo er tun und lassen konnte, was er wollte. Nicht mehr in aller Herrgottsfrühe aufstehen, nicht mehr schuften, bis der Rücken krumm wurde, nur fort vom Gestank der Stadt.

„Wenn es dort draußen so gefährlich ist, wie du sagst, wieso hast du es dann überlebt?“ Die Augen des vierschrötigen Mannes glitzerten triumphierend.

Der Rothaarige zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Glück, nehme ich an.“

Den Rest des Abends schwieg der Ire. Er trank, und später kaufte er sich noch einen Krug Whisky und verschwand in aller Stille auf seinem Zimmer.
In dieser Nacht schlief Jedediah vor der Tür des Fremden. Er wollte ihn auf keinen Fall verpassen. Am Morgen wäre der Rothaarige beinahe über den auf der Schwelle zusammengerollten Jungen gestolpert.

„Teufel, was tust du da?“

„Jedediah, ich heiße Jedediah. Ich möchte mit Ihnen in die Berge gehen.“
„Warum?“

„Um zu lernen, wie man Glück hat, Sir.“

Vielleicht gefiel dem Alten die Antwort. Vielleicht hatte er es auch nur satt, allein zu sein. Er kratzte sich im Schritt, nickte knapp und nahm Jedediah Jones mit in seine Welt.

***

Natürlich hatte sich der Junge getäuscht. Er hatte geglaubt, frei zu sein hieße, bis Mittag zu schlafen, danach auf die Jagd zu gehen und später am Lagerfeuer Geschichten zu erzählen. Nun begann sein Tag lange vor dem Morgengrauen, und an den Abenden war er zu müde, um auf irgendetwas zu hören, was Old Reddy vielleicht noch zu erzählen hatte. Er lernte, dass frei zu sein bedeutete, sich das Leben jeden Tag aufs Neue zu verdienen. Doch nach ein paar Wochen gewöhnte er sich an den Rhythmus des Daseins in den Bergen.

An eine Rückkehr in den Saloon, in dem es nach Tabakqualm, verschüttetem Bier und dem Schweiß der Städter roch, hatte er ohnehin nie gedacht.

Vier Jahre lang zog Jedediah an der Seite des alten Iren durch die Berge. Er lernte, Fallen zu stellen, Hirsche aus zweihundert Schritt Entfernung zu erlegen und sich von Wurzeln zu ernähren, falls er danebenschoss, was jedoch selten vorkam. Wenn sie sich nach Gesellschaft sehnten, was noch seltener der Fall war, zogen sie nach St. Louis, um ihre Felle zu verkaufen, sich zu betrinken und danach erneut für viele Monate in den Bergen zu verschwinden. 

Das Leben dort draußen war einsam. Wochenlang begegneten sie nur Hirschen, Bären und selten einer Schneeziege. Diese seltsamen Geschöpfe waren für das Leben zwischen den Gipfeln gemacht. Ihre kastenförmigen Körper wirkten von der Seite gesehen plump, doch zusammen mit den vier kurzen, stämmigen Beinen war ihr rechteckiger Körper zu erstaunlichen Kletterleistungen fähig. Die zottigen Tiere kletterten mit größter Selbstverständlichkeit in Felswänden herum, die selbst Old Reddy mied, weil er fürchtete, abzustürzen.

„Salz“, erklärte der alte Trapper. „Diese Felsen enthalten Salz, das die Ziegen zum Leben brauchen. Ein Mensch würde es kaum bis da hinaufschaffen.“

„Deshalb schleppen wir ja das Salz in Leinenbeuteln mit uns herum“, antwortete Jedediah, und Old Reddy grinste.

„Du sagst, es Junge.“

Manchmal trafen sie auf ihren Streifzügen kleine Gruppen Indianer. Blackfeet und Crows, Utes und, wenn sie weit nach Westen zogen, Snakes. Die Begegnungen verliefen meist friedlich. Old Reddy sprach mehrere Dialekte der roten Völker, man tauschte Neuigkeiten aus, rauchte die Pfeife, Geschenke wechselten den Besitzer. Old Reddy hatte für diesen Zweck immer eine Ladung Tabak und einen Beutel Glasperlen auf seinem Muli dabei. Im Gegenzug erhielt er Pelze, was ihm die Mühe nahm, die Tiere selbst zu erlegen, ihnen das Fell abzuziehen und die Häute zu gerben. Eine Handvoll bunter Perlen konnte ihnen eine Woche harter Arbeit ersparen, eine Indianerin glücklich und einen roten Mann zum Freund machen. Old Reddy hatte viele Freunde unter den Rothäuten, und er hatte noch mehr rehäugige Schönheiten glücklich gemacht, nicht nur mit Perlen, wie er anzüglich grinsend zu erklären pflegte.

Mit den Crows gab es hin und wieder Ärger, weil sie geborene Diebe waren, und vor den Blackfeet war man besser auf der Hut, denn diese wilden Krieger galten als unberechenbar. Die Schwarzfüße standen den Weißen damals noch nicht mit jenem unversöhnlichen Hass gegenüber, für den sie ein paar Jahre später berüchtigt werden sollten, aber eine Begegnung mit ihnen konnte mit einem freundschaftlichen Gelage beginnen und in Blut und Tod enden. Bei den Blackfeet wusste man nie, woran man war, und einen von ihnen, Bull Bear, fürchtete sogar Old Reddy.

Ihr Streit hatte mit Whisky begonnen. Der alte Ire trank gern einen über den Durst, aber er vermied es, den Rothäuten Branntwein zu geben. Indianer vertrugen keinen Alkohol. Das Feuerwasser machte sie launisch und konnte sie dazu bringen, für den ersten Schluck einen Ballen Pelze herzugeben, ihrem Handelspartner aber einen Viertelkrug später den Skalp vom Kopf zu schneiden. Deshalb trank Old Reddy nie, wenn er mit roten Kriegern am Feuer saß. Er versteckte seinen Whisky, doch Bull Bear fand die Tonflasche, als er vom Pinkeln aus dem Wald kam und in der Dunkelheit über das Gepäck des Trappers stolperte. Der Blackfoot bot einen Tomahawk und eine Bärenhaut für die Flasche. Später erhöhte er das Angebot um ein paar Mokassins aus Hirschkalbsleder. Es wäre ein gutes Geschäft gewesen, aber Old Reddy hatte seine Prinzipien.

Bull Bear war beleidigt. Er hatte schon immer ein prahlerisches Benehmen an den Tag gelegt, doch nun schwor er vor seinen Kriegern, den weißen Mann im Zweikampf zu töten, sobald die Sonne über den Bergen aufging. Er wollte es mit dem Tomahawk tun, den er Old Reddy eben noch angeboten hatte. Die Krieger nickten beifällig und ihre Augen funkelten boshaft. Sie waren wütend wegen der Zurückweisung. Wie sie es sahen, hatte ihnen der Weiße ein Freundschaftsgeschenk verweigert.

Old Reddy wusste, er würde vielleicht Bull Bear besiegen können, doch gegen den gesamten Jagdtrupp hatte er keine Chance. Also gab er nach. Zum ersten und letzten Mal in seinem Leben händigte er Rothäuten eine Flasche mit Alkohol aus. Er wartete, bis die Krieger betrunken waren, dann floh er in die Nacht, nicht ohne den Tomahawk, das Bärenfell und die Mokassins mitzunehmen. Seitdem sah er sich jeden roten Jagdtrupp sehr genau aus der Ferne an und hielt sich versteckt, bis er sicher war, dass die Krieger nicht zum Stamm von Bull Bear gehörten.

***

Jedediah kannte den rachsüchtigen Blackfoot nur aus den Erzählungen Old Reddys, doch in ihrem vierten Jahr bekam er Bull Bear aus großer Entfernung zu sehen. Sie waren auf dem Weg zu einem Tal in den Owl Creek Mountains, wo sie überwintern wollten. Seit einigen Tagen verhielt sich der alte Trapper seltsam nervös. Als sie die Spuren einer großen Gruppe Indianer fanden, bewegte er sich nur noch unter größter Vorsicht und untersagte Jedediah, ein Feuer zu entfachen. Sie hüllten sich in ihre Decken und lauschten frierend in die sternenklare Nacht. Anfangs verstand Jedediah nicht. Falls Indianer in diesem Tal den Winter verbrachten, konnten sie sich ihnen anschließen, in ihrem Dorf leben und der tödlichen Langeweile des Alleinseins entgehen.

Zwei Tage darauf spähten sie von einem Berghang in ein Blackfoot-Dorf hinab, Stunde um Stunde. Old Reddy hatte die Zelte gezählt und ausgerechnet, wie viele Angehörige der Stamm haben musste. Anfangs sah alles friedlich aus. Frauen, die Wasser vom Fluss holten, Alte, die vor ihren Zelten palaverten, lärmende Kinder, ein paar Krieger, die sich um ihre Pferde kümmerten.

„Ich glaube, wir können hinuntergehen“, sagte Jedediah.

„Nein, es sind zu wenige.“

„Zu wenige?“

Stunden später zeigte sich, was Old Reddy gemeint hatte: Im Dorf waren zu wenige Krieger gewesen. Dann ritt ein Trupp unter wildem Triumphgeschrei ins Tal. Sieben Männer, erfolgreiche Jäger. Sie hatten mehrere erlegte Hirschkühe bei sich. Die Neuankömmlinge trieben ihre Pferde über den Fluss, Gischt umspielte die Flanken der Tiere, die Krieger reckten ihre Bogen und Lanzen zum Himmel und stießen wieder ihre Jagdrufe aus. Der Mann an der Spitze schrie am lautesten. Es war Bull Bear.

Leise zogen sich die Trapper zurück. Dieses Tal war ihnen in diesem Winter verwehrt. Old Reddy war erst zufrieden, als sie mehrere Tage zwischen sich und die Blackfeet gebracht hatten. Die verlorene Zeit fehlte ihnen zum Bau einer Hütte, aber sie hatten Glück und fanden eine Höhle, die sie mit Reisig wohnlich herrichteten. Aus Stöcken und Fellen errichtete Old Reddy ein Vordach, unter dem sie ein Feuer entzünden konnten, ohne dass der Rauch ihren Unterschlupf vernebelte.

***

In diesem Winter lehrte der Ire Jedediah, wie man Schneehühner fängt. Ihr weißes Gefieder stellte eine gute Tarnung dar, und bei Tage war es nahezu unmöglich, nahe genug an ein Schneehuhn heranzukommen. Ehe man eines der Tiere auch nur sah, wurde man entdeckt, und die Beute floh leichtfüßig zwischen die Felsen, während die Trapper trotz ihrer Schneeschuhe nicht schnell genug vorankamen.

Die beste Zeit, um Schneehühner zu jagen, lag im Morgengrauen nach einer bitterkalten Winternacht.

Um sich gegen die Kälte zu schützen, gruben sich die Vögel in den Schnee ein. Old Reddy wies Jedediah an einer Stelle, wo er Schneehühner vermutete, auf Löcher in der Flockendecke hin. Sie waren klein und rund, ein gutes Dutzend. Luftöffnungen, die der warme Atem der Vögel über Nacht in den Schnee geschmolzen hatte.

Old Reddy pirschte sich an. Drei, vier Hühner bemerkten die Annäherung. Glucksend brachen sie aus dem Schnee und suchten wild durcheinander rennend das Weite. Doch der alte Trapper, der sich längst für ein bestimmtes Huhn entschieden hatte, ließ sich nicht beirren. Er hatte sich einen von Jedediahs Schneeschuhen geborgt. Den warf er nun über eines der noch unberührten Luftlöcher – und der Vogel war in seiner Kammer unter dem Schnee gefangen. Old Reddy zog das Huhn heraus und drehte ihm den Hals um.

Gemessen am Aufwand der Jagd war die Ausbeute bescheiden. Der Winter währte schon seit Wochen, und der Vogel war sehr mager. Er reichte nur für einen Eintopf. Jedediah hatte nahrhaftere Mahlzeiten gegessen, aber Old Reddy meinte, darauf komme es nicht an.

„Du hast heute wieder etwas gelernt, mein Junge. Löcher im Schnee. Achte auf sie, manchmal steckt etwas darunter.“

***

Ein paar Tage später hatten sie eine außergewöhnliche Begegnung. Auf ihren Wanderungen waren sie hin und wieder auf Indianer gestoßen, aber niemals auf Weiße.

Drei Männer saßen im spärlichen Schutz einer Gruppe verkrüppelter Kiefern um ein Feuer, von dem schwarzgrauer Qualm aufstieg. Der Rauch war weithin sichtbar und hatte Old Reddy bewogen nachzusehen, wer hier draußen, in den Bergen der Blackfeet und Crows, alle Vorsicht vermissen ließ. Bei der Annäherung merkten sie, dass die Männer zu fünft waren. Zwei lagen in Decken gehüllt am Feuer. Die anderen schlürften mürrisch heißen Kaffee.

„Habt ihr einen Schluck für uns?“

Bei Old Reddys Worten schreckten die Männer hoch. Sie hatten die Annäherung der Trapper nicht bemerkt. Greenhorns, vermutete Jedediah. Er selbst fühlte sich in seinem vierten Winter an Old Reddys Seite nicht mehr als Greenhorn. Er warf einen Blick auf die Männer am Boden. Sie schienen verletzt zu sein. Entzündete, fast blutige Augenlider, die Haut eingerissen, das Fleisch geschwollen. Schneeblindheit. Eindeutig Greenhorns.

„Der Schnee spiegelt die Sonne, sodass sie eure Augen verbrennt“, erklärte Jedediah. Er tippte auf sein eigenes Gesicht. „Holzkohle. Reibt sie unter die Augen, das hilft.“ 

Für die Verletzten kam der Trick mit der Kohle freilich zu spät.
„Nun hör sich einer diesen Bengel an.“ Old Reddy schüttelte den Kopf und grunzte. „Nehmt feuchte Tücher und legte sie euren Freunden über die Augen“, wies er die Fremden an. „Haltet das Wasser warm und achtet darauf, dass die Tücher nie trocken werden.“

„Wie lange wird das dauern?“, erkundigte sich einer der Männer.

„Drei, vielleicht vier Tage.“

Ein anderer begann, nach einer Decke zu suchen, von der man Stoffstreifen abtrennen konnte. Er fand eine ungenutzte Decke, doch er zögerte, das gute Stück zu zertrennen. Nach einem Blick auf seine schneeblinden Kameraden zog er jedoch sein Messer hervor und fing an zu schneiden.

Die Fremden reichten den Trappern Kaffee. Old Reddy schien zufrieden zu sein. Er trank und schwieg. Jedediah aber war neugierig. „Was tut ihr hier draußen?“

„Wir wollen ein paar Freunde besuchen.“

Das klang seltsam. Greenhorns hatten in den Bergen keine Freunde. Oder doch? Vielleicht bei den Snakes, die dafür bekannt waren, freundlich zu den meisten Weißen zu sein. Doch die Schlangenindianer lebten tief im Westen. Selbst Old Reddy war ihnen nur selten begegnet.

„Keine Rothäute, Männer aus St. Louis. Sie sind vor fünf Jahren über die Berge gegangen. Da drüben gibt es gutes Land. Wir folgen ihnen. Mein Schwager war auch dabei.“

Jedediah erinnerte sich. Das westliche Paradies. Früchte, so groß wie Pferdeäpfel und Wild, das so fett und träge wie eine Frau nach zwanzig Jahren Ehe war. Jetzt erkannte er auch den Sprecher, einen vierschrötigen Mann mit Grützbeuteln im Gesicht. Er war damals im Saloon gewesen und hatte mit Old Reddy gestritten. Offenbar erinnerte er sich an den alten Trapper, denn seine Stimme klang trotzig, so als erwarte er Widerspruch und fürchte sich davor.

Old Reddy spürte das Unbehagen des Mannes. Er sagte: „Ihr habt euch keinen guten Ort ausgesucht, um zu rasten. In dieser Gegend gibt es ein Lager der Blackfeet.“

„Wie weit?“, wollte der Hüne wissen.

„Zwölf Meilen, vielleicht fünfzehn.“

„Das ist weit.“

„Nicht hier draußen.“

„Wir haben gehört, die Rothäute bleiben den Winter über in ihren Lagern“, warf einer der Verletzten ein. Mit seinen schneeblinden Augen konnte er die Trapper nicht sehen, aber er hatte jedes Wort verfolgt, das gesprochen wurde.

Old Reddy hob die Schultern. „Manchmal ist das wirklich so.“

Sie bedankten sich für den Kaffee und brachen auf.

„Sucht trockenes Holz“, sagte Jedediah zum Abschied. „Das macht weniger Rauch.“

Einer der Männer nickte ihm zu. „Ich kenne dich. Du warst bei McGinty.“

McGinty hieß der Inhaber des Saloons in St. Louis. Er hatte Jedediah sechzehn Stunden am Tag auf Trab gehalten. Er erinnerte sich nun auch an den Sprecher. Dieser war jünger als der Hüne und gehörte ebenfalls zu den Flussarbeitern, ein gutaussehender Kerl, der den Mädchen die Köpfe verdreht hatte. Jedediah hatte ihn damals bewundert. Der Mann war stark und selbstsicher gewesen. Aber hier draußen war er nur ein Greenhorn, das Hilfe von einem ehemaligen Spucknapfreiniger nötig hatte.

„Denkt an die Holzkohle“, sagte Jedediah. Dann stapfte er hinter Old Reddy her. „Meinst du, sie schaffen es?“

Der alte Trapper spuckte aus. „Die sehen wir nie wieder.“

Doch diesmal irrte er sich.

***

Drei Tage später verfolgten sie eine kleine Herde von Dickhornschafen. Die Familie bestand aus acht Tieren, und falls es ihnen gelang, zwei oder drei von ihnen zu schießen, würden sie Fleisch für mehrere Wochen haben. Old Reddy spürte das Nahen eines Wintersturms und wollte sich möglichst bald in ihrer Höhle verkriechen.

Aber die Schafe waren scheu. Ständig hoben sie witternd die Köpfe, und beim geringsten Anzeichen von Gefahr suchten sie das Weite. Fremde Gerüche, leise Geräusche oder eine Bewegung in der Ferne – für diese Schafe kam alles einer Bedrohung gleich. Die Jagd zog sich in die Länge.

Einen ganzen Tag lang waren sie erfolglos hinter den Dickhornschafen her gepirscht. Jedediah glaubte längst nicht mehr an den Erfolg, doch Old Reddy war nicht bereit aufzugeben. Sie verbrachten die Nacht frierend im Schutz einer Felsspalte und am nächsten Morgen wollte es der alte Trapper mit einer neuen Taktik versuchen. Jedediah sollte den Schafen weiter auf geradem Wege folgen, während er selbst einen weiten Bogen schlug, um vor die Tiere zu gelangen. Wenn der Plan aufging, würde Jed die Schafe direkt vor Old Reddys alte Pennsylvania-Rifle treiben.

Jedediah wartete eine Weile, um Old Reddy einen Vorsprung zu geben, dann folgte er den Spuren der Herde.

Er bekam die Schafe nicht zu Gesicht, aber an den frischer werdenden Hufeindrücken erkannte er, dass er sich ihnen näherte. Eine Stunde später war er sich dessen nicht mehr sicher. Etwas hatte die Herde in Panik versetzt. Die Schafe hatten abrupt die Richtung geändert. Was konnte die Ursache für ihre Flucht gewesen sein? Ein hungriger Puma vielleicht, oder andere Menschen.

Jedediah wusste, dass er sich in der Nähe des Greenhorn-Lagers befand. Wahrscheinlich waren diese Tölpel auf Jagd gegangen und hatten die Dickhornschafe vertrieben.

Jedediah fluchte leise. Old Reddy lag nunmehr an der falschen Stelle auf der Lauer, und die Schafe waren über alle Berge. Er schulterte sein Gewehr und stapfte weiter auf der ursprünglichen Fährte zum Lager der Männer aus St. Louis. Die Kerle waren ihm zumindest einen Kaffee schuldig.

Da er alle Vorsicht vergaß, kam er rasch voran und erreichte das Schneefeld mit der verkrüppelten Baumgruppe noch vor dem Mittag. Der Lagerplatz war leer. Keine Spur von den Greenhorns. Vielleicht waren sie weitergezogen. Aber dann erkannte Jedediah, dass etwas nicht stimmte.

Ein Fetzen Stoff lag am Boden. Eine der Augenbinden für die schneeblinden Männer, achtlos weggeworfen. Rings um das erloschene Feuer war der Untergrund festgestampft. Im weiteren Umkreis erkannte Jedediah mehrere Fährten, die sich vom Lager wegbewegten. Eine war breiter als die anderen, eine flache Mulde im Schnee. An ihrem Ende fand Jedediah den Mann, dem die Binde gehört hatte. Die Haut um seine Augen war fast verheilt, aber jemand hatte seinen Skalp genommen. Sein Schädeldach war eine blutige Wunde. Aber er war nicht am Skalpieren gestorben. Sein Hinterkopf war von einer Kriegskeule zertrümmert worden. Es sah aus wie ein Marmeladentopf aus Ton, der einem achtlosen Kind heruntergefallen war.

Jedediah dachte nach. Indianer hatten die Greenhorns angegriffen. Dieser Mann hatte sich mit letzter Kraft aus dem Lager geschleppt, aber wo waren die anderen? Jed kam zu dem Schluss, dass sie am Leben sein mussten. Vermutlich Gefangene der Rothäute, und weit und breit gab es nur das Lager von Bull Bears Schwarzfüßen.

Er wünschte, Old Reddy wäre hier, um ihm zu sagen, was zu tun war. Aber der alte Trapper wartete in einem nutzlosen Hinterhalt auf Dickhornschafe, die nie kommen würden. Jedediah musste allein eine Entscheidung treffen.

Während er noch zögerte, entdeckte er die Fährte einer großen Gruppe, die sich vom Lager fortbewegt hatte. Zehn Männer, vielleicht mehr. Die Indianer und ihre Gefangenen. Er beschloss, ihnen zu folgen, um herauszufinden, was mit den Männern aus St. Louis geschah. Old Reddy würde später kommen und die Spuren finden. Ihm würde sicher etwas einfallen, wie sie den Greenhorns helfen konnten.

***

Jedediah machte sich an die Verfolgung.

Am Nachmittag blickte er auf das Blackfoot-Dorf hinab. Er versteckte sich auf demselben Hügel, auf dem er Wochen zuvor mit Old Reddy gelegen hatte. Der alte Trapper war noch immer nicht aufgetaucht, und Jed fing an, sich Sorgen zu machen. Was, wenn der Alte die Spuren im Schnee falsch deutete und niemals hier aufkreuzte?

Er beobachtete weiterhin das Blackfoot-Lager, und nach einer Weile entdeckte er die Gefangenen. Man hatte sie in sitzender Position an Holzpflöcke gebunden. Kinder und Frauen machten sich einen Spaß daraus, die Weißen mit Stöcken zu traktieren oder mit Schneebrocken zu bewerfen, aber die Männer waren am Leben. Doch die bitterkalte Nacht würden sie im Freien schwerlich überstehen.

Jedediah rechnete sich seine Chancen aus, allein einen Befreiungsversuch zu starten, aber das Ergebnis ernüchterte ihn. Wo blieb nur Old Reddy?

„Was zum Teufel tust du hier?“

Die Stimme war leise, gleichzeitig scharf, und Jed konnte unterdrückten Zorn heraushören. Old Reddy hockte keine fünf Schritte hinter ihm. Jed hatte keinen Laut vernommen.

Flüsternd setzte er dem alten Trapper auseinander, was geschehen war.

„Verdammt, wer hat dir gesagt, du sollst ihrer Fährte folgen?“ Old Reddy klang noch immer ungehalten.

„Niemand, aber du bist ihr ja auch gefolgt.“

„Ich bin deiner Fährte gefolgt. Das ist ein Unterschied.“ 

Old Reddy machte ihm Vorwürfe. Jed hätte sich an die Schafe halten sollen, nicht an die Männer, schimpfte er. Er hatte nicht vor, einen Befreiungsversuch zu unternehmen. 

„Zu gefährlich, Junge.“

Jedediah gab nicht nach: „Ich habe nachgezählt, es sind kaum zehn Krieger im Lager. Die anderen sind hauptsächlich Kinder, Alte und Frauen.“

„Das ist es, was mir Sorgen macht.“

„Wir können es schaffen. Willst du die Leute aus St. Louis sterben lassen?“
„Diese Männer hätten nie in die Berge kommen dürfen.“

„Es sind Weiße.“

„Es sind Fremde. Sie gehen uns nichts an.“

Jedediah wusste, es half nichts. Old Reddy hatte ihm beigebracht, dass ein Mann in den Bergen auf sich allein gestellt war, selbst wenn er in einer Gruppe reiste. Wer nicht auf sich aufpassen konnte, hatte es nicht verdient zu überleben. Erwarte niemals Hilfe, hatte er gesagt, hier draußen braucht ein Mann jedes bisschen Kraft für sich selbst; gewährst du anderen Beistand, reicht es am Ende vielleicht nicht mehr für dich. Jetzt richtete er sich danach. Er hatte in St. Louis mit diesen Männern im Saloon gesessen, aber das bedeutete nun nichts mehr.

Old Reddy zog sich leise zurück. Jedediah konnte wählen: Entweder er folgte ihm, oder aber er … würde was tun? Ihm fiel nichts ein. Die Greenhorns waren verloren.

In dieser Nacht schliefen sie in einem Laubhaufen im Wald, den sie in der Dämmerung aufgeschichtet hatten: das Notquartier eines Bergläufers. Old Reddy erklärte, das sei ein alter Trick, wenn man vom Winter überrascht wurde und keine Hütte besaß, aber Jedediah sprach nicht mit ihm. Er war wütend, weil sie die Greenhorns ihrem Schicksal überlassen hatten. Nachts fielen die Temperaturen weit unter null. Die Kälte konnte Jedediah im Laub nichts anhaben, doch die Männer aus St. Louis waren vielleicht schon tot.
Er wusste, was Old Reddy dazu sagen würde: Sie waren tot, als sie in die Berge kamen.

***

Am nächsten Morgen brachen sie früh auf. Old Reddy wollte die Gegend um das Blackfoot-Lager rasch verlassen. Jedediah stapfte verdrossen hinter ihm her. Der Alte beachtete die Laune seines jungen Partners nicht. So wie er es sah, konnte Jed ihm folgen oder bei dem törichten Versuch, den Greenhorns zu helfen, sein Leben lassen. Den ganzen Vormittag über wechselten sie kein Wort, nur einmal hob Old Reddy den Arm und zischte eine Warnung.

„Schwarzes Eis.“

Sie standen an einem kleinen Fluss, der ein sonniges Tal durchschnitt. Jedediah konnte nur vermuten, was Old Reddy vorhatte. Offenbar wollte er die Spur der Dickhornschafe wiederaufnehmen, und dazu mussten sie auf die andere Seite.

Der Fluss war von Eis bedeckt, aber es hatte seit mehreren Tagen nicht mehr geschneit. Über dem Tal dehnte sich endlos blauer Himmel, der Fluss lag in der fahlen Wintersonne. Der Schnee über der Eisdecke war getaut, und es hätte ein Leichtes sein müssen, auf die andere Seite zu gelangen. Aber Old Reddy zögerte. Er deutete auf das Eis. Um diese Jahreszeit musste es gut einen Meter dick sein, und Jedediah konnte nichts erkennen, was dem widersprach.

„Schwarzes Eis“, wiederholte Old Reddy.

Dunkel schimmernd lag es vor ihnen. Jed erinnerte sich an zugefrorene Seen. Sie waren weiß gewesen, oft grau, manchmal bläulich, aber nie schwarz. Dieses Eis war anders.

„Es lässt das Dunkel der Tiefe durch“, sagte Old Reddy. „Die Sonne hat es ausgezehrt. Ein Schritt, und es bricht.“

Er deutete mit dem Gewehr geradeaus. Er wollte dem Flusslauf folgen und eine Stelle finden, an der die Eisdecke noch unversehrt war. Jedediah stapfte mürrisch weiter. Er hatte Old Reddy noch nicht verziehen und war nicht dazu aufgelegt, mit ihm zu reden. Während der alte Trapper den Krümmungen des Creeks folgte, hielt sich Jed abseits. Er überquerte ein Schneefeld und hielt auf eine Baumgruppe zu, als er im Augenwinkel etwas bemerke. Er blickte sich um.

Außer Old Reddy war keine Menschenseele zu sehen. Vor sich gewahrte Jed ein Loch im Schnee, daumendick, mit verharschtem Rand. Fünf Schritt zu seiner Linken ein weiteres. Luftlöcher. Sie waren breiter als beim letzten Mal. Es mussten zwei wirklich fette Hühner im Boden stecken.

Grinsend schnallte Jedediah seine Schneeschuhe ab. Die Dickhornschafe waren ihnen entkommen, aber ein gebratenes Huhn war auch nicht zu verachten. Vielleicht war er gnädig und gab Old Reddy einen Bissen ab.

Einen Atemzug später sprang ihn das Huhn an.

Der Schnee zu seinen Füßen brach auf und ein Dämon fuhr heraus. Fettiges Wildleder, dunkle Haut, schwarzes Haar. Ein schriller Kriegsschrei erklang. Ein Blackfoot!

Jedediah setzte sich vor Schreck in den Schnee, wodurch er dem Tomahawk entging, der auf seinen Kopf zuraste. Der Indianer, der wer weiß wie lange im Schneeloch gekauert hatte, war steif von der Kälte. Die Beilklinge zischte über Jed hinweg, und dann explodierte das Gesicht des Angreifers. Old Reddy, der sich nie überrumpeln ließ, hatte ohne Zögern angelegt und den Krieger erwischt. Das ließ den Blackfoot, der aus dem anderen Loch gesprungen war, innehalten.

Aber der Kampf war noch nicht entschieden.

Aus dem Waldstück oberhalb des Flusses stürmte jetzt unter gellendem Geheul ein Trupp Rothäute. Ein halbes Dutzend Krieger, die Lanzen und Tomahawks schwenkten. 

Die Männer, die nicht im Lager gewesen waren.

Ihre Falle war zu früh zugeschnappt, aber das gedachten sie mit schierer Übermacht auszugleichen. Drei Blackfeet liefen sofort auf Old Reddy zu, die anderen kreisten Jed ein.

Der Krieger neben Jedediah schüttelte den Schock über den Tod seines Kampfgefährten ab und holte mit dem Tomahawk aus. Jed hieb ihm dem Kolben seines Gewehrs an den Schädel. Er besaß eine Pirschbüchse, ein altes, unhandliches Ding, das deutsche Einwanderer ins Land gebracht hatten. Waldläufer konnten mit dieser Waffe nicht viel anfangen. Sie schoss treffsicher, war aber schwer. Jed fehlte das Geld für eine der leichteren Pennsylvania-Rifles oder ihre Nachfolgerin, die noch handlichere Kentucky-Rifle. Doch jetzt kam ihm das Gewicht der Waffe zupass.

Der Kolben traf den Blackfoot wie eine Keule am Kopf, und Jed hörte den Knochen brechen.

Inzwischen lud Old Reddy mit raschen Bewegungen seine Waffe. Aber die Angreifer waren schneller. Mit weiten Sprüngen arbeiteten sie sich durch den Schnee und erreichten ihn, ehe er den Ladestock aus dem Lauf ziehen konnte.

Old Reddy drückte ab.

Ein Krieger fiel. Der Ladestock ragte aus seinem Auge.

Der alte Trapper warf das Gewehr beiseite und zog sein Messer. Der Krieger, der ihm am nächsten war, sprang zur Seite und kam dabei der Uferböschung nahe. Old Reddy versetzte ihm einen harten Stoß. Der Indianer fiel aufs Eis. 

Ein Knirschen und Splittern.

Der Krieger brach ins eiskalte Wasser. Er keuchte entsetzt, dann riss ihn die Strömung fort.

Schwarzes Eis.

Unter der gefrorenen Flussdecke sah Jed den Körper des Indianers davontreiben wie einen Schatten hinter Glas.

Old Reddy ging zum Gegenangriff über. Er schrie und stieß sein Messer vor. Die verbliebenen Blackfeet zeigten Nerven und wichen zurück.

Old Reddy riss sich die Schneeschuhe von den Füßen, packte sein Gewehr und nahm Anlauf. Er schaffte es fast ans andere Ufer, rutschte ab, brach mit einem Fuß durchs Eis, krallte sich mit den Händen an der Böschung fest und zog sich mit einer gewaltigen Kraftanstrengung in Sicherheit. Dort drüben kamen die Blackfeet nicht ohne weiteres an ihn heran. Beim Versuch, das Eis zu überspringen, wären sie wehrlos, und er konnte sie leicht aufs Korn nehmen.
Die Rothäute ließen es nicht darauf ankommen. Sie waren nur noch zu viert, aber sie hatten jetzt einen Gefangenen: Von allen Seiten näherten sie sich Jedediah, der seine Pirschbüchse hob. Wenn er schon sterben musste, würde er noch einen von ihnen mitnehmen. Er suchte nach einem Ziel, wechselte hektisch zwischen den Angreifern.

Plötzlich blickte er in das Gesicht von Bull Bear.

Es drückte Gleichmut aus. Stoische Ruhe, gepaart mit unerschütterlichem Selbstvertrauen. Bull Bears Hand drückte den Lauf der Büchse zur Seite. Einer der Krieger nutzte die Gelegenheit und sprang auf Jedediah zu.
Die Welt versank in Schwarz.

***

Als Jed erwachte, sah er Feuer. Vor seinen Augen tanzten rotglühende Funken. Allmählich erkannte er, dass sie nicht vom Schmerz in seinem Kopf herrührten, sondern real waren. Er lag an einem Feuer. Gefesselt, zerschlagen, doch noch immer lebendig. Seine Hände waren auf dem Rücken verschnürt. Die Kleider klebten ihm, durchnässt vom Schnee, am Leib. Er fror, aber die Hitze des Feuers spendete genug Wärme, um seine Lebensgeister zum Tanzen zu bringen.

Jed spannte die Muskeln an. Seine Handgelenke schmerzten. Lederstricke. Nicht gut. Solche Fesseln konnte man nicht zerreißen.
Ein Paar Mokassins trat in sein Gesichtsfeld.

Einer der Blackfeet blickte höhnisch grinsend auf ihn herunter. Jedediah zog eine Grimasse, und der Krieger trat ihm in den Leib. Er war jung, etwa in Jeds Alter. Er hatte sich Blut auf die Stirn geschmiert, und Jedediah fragte sich, ob es sein Blut war. Der Blackfoot trug eine Keule. Er war der Krieger, der Jed niedergeschlagen hatte.

Bull Bear saß auf der anderen Seite des Feuers und sah schweigend zu, wie der Junge den Gefangenen traktierte. Während dieser noch einmal zutrat, spuckte er verächtlich klingende Worte in der Blackfoot-Sprache aus, die dem Weißen einen langsamen Tod versprachen.

Dann sagte Bull Bear etwas, ein einziges Wort nur, aber der junge Krieger ließ von seinem Opfer ab. Jedediah empfand Dankbarkeit, doch als er Bull Bears gleichgültigem Blick begegnete, wurde ihm klar, dass es dem Kriegshäuptling nur darum ging, dass sein Gefangener aus eigener Kraft laufen konnte, sobald sie zum Lager des Stammes aufbrachen.

Jed überdachte seine Möglichkeiten. Wenn seine Lederfesseln trockneten, würden sie sich noch enger um die Handgelenke zuziehen. Eine Flucht mit gebundenen Händen war aussichtslos. Es gar nicht erst zu versuchen, würde jedoch den sicheren Tod bedeuten. Die Blackfeet würden ihm an der Seite der Greenhorns Höllenqualen bereiten. Der Schnee unter seinem Körper war geschmolzen und sickerte nass durch seine Hose. Jedediah stieß seine Hände in den Matsch. Vielleicht konnte er die Stricke aufweichen.

Während er verstohlen arbeitete, blickte er sich um. Sie lagerten am Rande eines Wäldchens, vor ihnen dehnte sich ein Schneefeld, die Sonne stieg am stahlblauen Himmel höher. Winternebel kroch über das Land. Ein neuer Tag brach an. Dies war der Ort, an denen ihnen die Blackfeet aufgelauert hatten. Die Rothäute hatten die Nacht hier verbracht, vermutlich um zu warten, bis ihr Gefangener aus seiner Ohnmacht erwachte und wieder alleine gehen konnte. 

Doch weshalb ließen sie ihn überhaupt am Leben? Jedediah ahnte die Antwort: Bull Bear hoffte, dass Old Reddy kam, um seinen Gefährten zu befreien. Er wartete auf den alten Trapper, um ihn zu töten.

Hoffnung keimte in Jed. Old Reddy. Ihm würde doch sicher etwas einfallen, oder? Nein, machte er sich klar. Der Alte würde nicht kommen. Jedediah hatte bewiesen, dass er nicht auf sich aufpassen konnte. Statt sich neben Old Reddy am Fluss zu halten, war er blindlings über das Schneefeld gestapft und den Blackfeet direkt in die Arme gelaufen.

Von Old Reddy hatte er keine Hilfe zu erwarten.

***

Nach einer Weile schien Bull Bear zu demselben Schluss zu gelangen. Die Blackfeet rüsteten zum Aufbruch. Jedediah verdoppelte seine Anstrengungen, aber die Stricke saßen zu fest. Der junge Krieger zerrte ihn grob auf die Füße, und Jed befürchtete, er könne seinen Versuch, die Fesseln zu lösen, bemerken. Aber dann gerieten die Indianer jenseits des Feuers plötzlich in Streit, und der Junge wandte seine Aufmerksamkeit den anderen zu. Jedediah kannte ein paar Worte der Blackfoot-Sprache. Es reichte, um zu verstehen, dass es um sein Gewehr ging. Die alte deutsche Pirschbüchse gehörte zur Beute der Rothäute. Jetzt war sie verschwunden.

Die Krieger gaben sich gegenseitig die Schuld. Ihre Auseinandersetzung wurde immer lauter, bis Bull Bear den Streit mit einer herrischen Geste beendete. Anscheinend war er zu dem Schluss gekommen, dass sie die Büchse gar nicht mit ans Feuer gebracht, sondern sie am Ort des Kampfes zurückgelassen hatten, denn er befahl den anderen, aufzubrechen, während er selbst zurückblieb, um das Gewehr zu suchen. Eine Schusswaffe stellte für Indianer eine Kostbarkeit dar. Einen Wert, der sich kaum in Pelzen, Pferden oder Frauen ausdrücken ließ.

Ein Gewehr war große Medizin. Umso erstaunlicher, dass sie die Pirschbüchse tags zuvor vergessen hatten.

***

Sie zogen durch die unberührte Winterlandschaft. Die Blackfeet hatten Jedediah seine Schneeschuhe umgebunden, denn nur so war es möglich, überhaupt voranzukommen. Wenn er stolperte, fiel er hin, weil er mit auf den Rücken gebundenen Händen nur schwer das Gleichgewicht halten konnte. Die Krieger lachten und zerrten ihn rau auf die Füße.

Als Jedediah erneut stürzte, stieß der junge Blackfoot gutturale Laute aus und drohte ihm mit seiner Kriegskeule. Die anderen beiden lachten erneut, und der Junge stapfte verärgert weiter. Bald befand er sich einige Schritte vor den anderen. Vielleicht war es das, was ihm das Leben rettete.

Ein Schuss rollte über die Landschaft. Der Indianer hinter Jedediah wurde von den Füßen gerissen und landete mit einem dumpfen Geräusch im Schnee.

Der Krieger, der vor Jed ging, fuhr erschrocken herum. Jedediah, der starr dastand, sah, wie dem Indianer eine Blutfontäne aus dem Rücken schoss. Dann erst hörte er das Krachen des zweiten Schusses. Er kannte das Geräusch.

Es war seine Pirschbüchse.

Gedanken wirbelten durch seinen Verstand.

Hatte Bull Bear die Waffe gefunden? Aber warum schoss er auf die eigenen Krieger?

Der junge Blackfoot begriff schneller. Er hob seine Keule und stürmte auf Jedediah zu. Die Schneeschuhe machten seine Bewegungen plump und langsam.

Jed ließ sich fallen und stieß seinem Gegner die Füße in den Leib. Der Junge stürzte und verlor die Keule.

Trotzdem war es nur eine Frage der Zeit, bis er dem gefesselten Mann den Garaus machen würde.

Er kam auf die Beine und suchte nach seiner Keule. Ein weiterer Schuss krachte. Die Kugel pfiff über den Kopf des Jungen hinweg. Die Bewegung, mit der er sich nach seiner Waffe gebückt hatte, rettete ihm das Leben. Der Blackfoot gab die Keule auf und floh.

Jedediah rappelte sich auf und hielt nach dem Schützen Ausschau. Sein Herz machte einen Freudensprung, als er Old Reddy auf sich zukommen sah, die Pennsylvania-Rifle in der Hand, die Pirschbüchse über der Schulter. Er musste das Gewehr in der Nacht aus dem Lager der Blackfeet gestohlen haben, um mehr Feuerkraft zu haben. Dann hatte er den richtigen Augenblick für einen Hinterhalt abgepasst. Old Reddy zog sein Messer und durchtrennte Jedediahs Fesseln.

„Ich dachte nicht, dass du kommen würdest“, sagte Jed.

Der Alte zuckte mit den Schultern.

Statt etwas zu sagen, ließ er die Pirschbüchse fallen und fing hektisch an, sein eigenes Gewehr zu laden, und jetzt erkannte Jedediah, dass Old Reddys Bewegung kein Schulterzucken gewesen war. Ein Pfeil hatte ihn getroffen. Der Schaft ragte aus seiner Seite.

Über den Schnee stürmte Bull Bear heran.

Warum er keinen zweiten Pfeil abschoss, würde Jed für immer ein Rätsel bleiben. Der Blackfoot musste geahnt haben, dass Old Reddy die Pirschbüchse gestohlen hatte, und war seinen Kriegern in einiger Entfernung gefolgt, um seinem Todfeind eine Falle zu stellen.

Trotzdem war er zu spät gekommen.

Vielleicht fürchtete Bull Bear, das Duell gegen das Gewehr zu verlieren, denn er kämpfte sich mit grimmiger Entschlossenheit durch den Schnee, in der Faust einen Tomahawk. Den Bogen hatte er zurückgelassen. Nur der Köcher mit den Pfeilen wippte auf seinem Rücken.

Old Reddy schüttete Pulver in den Lauf. Er wirkte hektisch; der Pfeil in seiner Hüfte machte ihm zu schaffen und das Auftauchen von Bull Bear hatte ihn erschüttert. 

Kugel, Ladestock. Der Trapper war fast fertig, als der Blackfoot seinen Tomahawk warf. Jedediah hörte, wie das Beil in Old Reddys Schulter einschlug. Mit einem Stöhnen ging der Alte zu Boden. Bull Bear warf sich über ihn, riss den Tomahawk aus dem Fleisch und holte aus.

Jedediah rammte ihn.

Bull Bear kippte von Old Reddy, kam aber schnell wieder hoch und stürzte sich auf Jed. Der Blackfoot hatte seine Schneeschuhe verloren, was in dieser Situation ein Vorteil war. Jed stolperte und fiel rücklings in den Schnee.

Bull Bear ragte über ihm auf, das Kriegsbeil erhoben. 

Das war’s, dachte Jed und war völlig verblüfft, als ihm Blut ins Gesicht spritzte.

Eine knöcherne Pfeilspitze ragte aus Bull Bears Kehle.

Während des Kampfes waren dem Blackfoot Pfeile aus dem Köcher gefallen. Old Reddy hatte sich einen geschnappt und sie dem Indianer von hinten durch den Hals gestoßen. Schwer atmend ließ er sich neben Jed in den Schnee fallen.

Jedediah konnte in diesem Augenblick nur eines sagen: „Danke, dass du zurückgekommen bist.“

„Ach was, Junge, man muss immer tun, womit sie am wenigsten rechnen.“

 Old Reddy atmete schwer.

Als Jed aufblickte, sah er in sicherer Entfernung den jungen Blackfoot-Krieger stehen. Er stand auf, schnappte die beinahe fertig geladene Pennsylvania-Rifle und legte an.

Der Junge wirbelte herum und verschwand außer Sicht. 

Jed war das nicht genug. Er wollte Rache. Er nahm Old Reddys Messer und tat etwas, von dem er wusste, dass die Rothäute es ihren besiegten Feinden antaten.

Er schnitt Bull Bear die Haare vom Kopf.

Danach schleppte er Old Reddy zwei Tage lang durch die Berge bis zu ihrer Höhle. Er versorgte seine Wunden, aber es gelang ihm nicht, den Pfeil aus der Hüfte zu ziehen. Er saß zu tief und krallte sich mit den Widerhaken an irgendein lebenswichtiges Organ.

Der alte Trapper lebte noch eine ganze Woche, ehe er unter Schmerzen starb.

Jed war allein.

***

Drei Jahre später schloss sich Jedediah Jones, der jetzt ein erfahrener Fallensteller war, den Captains Meriwether Lewis und William Clark an, die einen Weg in die reichen Pelztiergründe des Westens suchten. Sie hatten Erfolg, und die Welt begann sich zu verändern. Biber wurden zum großen Geschäft, Männer wie Jed zu Königen. Aus einem grünen Jungen war ein Mountain Man geworden, der sich nach der Ferne und der Einsamkeit der Berge sehnte, nach einer Welt abseits vom Lärm und dem Gestank der Städte.

Jed dachte oft an seinen letzten Kampf an der Seite seines Freundes Old Reddy und Jahre später erfuhr er, wer der junge Blackfoot-Krieger gewesen war, der ihnen entkommen war. Er war der Sohn von Bull Bear.
Genannt wurde er Hunting Coyote.


 


Zeichnungen (Kohlestift-Entwurf und Aquarell) sind beide
von Ralf Alex Fichtner (†) aus Schwarzenberg

Wir danken Mario Ulbrich für die Erzählung und die einführenden Worte. 🔝